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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

urteil, das uns von Irrweg zu Irrweg führt, treffend geschildert. Ein Recht
ohne Prinzipien kann es eigentlich nie gegeben haben. Die Rechtspflege be¬
deutet nichts andres als die Unterordnung des Einzelfalls unter ein allgemeines
Prinzip. Das Prinzip enthält die Rechtsrcgel ohne einen bestimmten that¬
sächlichen Inhalt, und das Recht wird im einzelnen gefunden, indem aus der
Fülle der Thatsachen des Einzclfalls die wesentlichen, auf die die Regel an¬
zuwenden ist, ausgeschieden werden. Es ist auch uicht zu sehen, von welcher
rohen Zeit mit dem unschätzbaren Vorzuge der Prinzipienlosigkeit Jhering
sprechen will, er ist doch sicherlich auch der Meinung, daß unter den Römern
die Rechtsbildung in höchster Blüte gestanden hat, und er wird ebenso wenig
leugnen wollen, daß sich das römische Recht aus festen Prinzipien entwickelt
hat. Savigny sagt in seiner berühmten Schrift: Vom Beruf unsrer Zeit für
Gesetzgebung und Rechtswissenschaft: "In unsrer Wissenschaft beruht aller
Erfolg auf dem Besitz der leitenden Grundsätze, und gerade dieser Besitz ist
es, der die Größe der römischen Juristen begründete." Oft genug mag auch
auf andern Gebieten des Denkens und Handelns die Abneigung gegen leitende
Grundsätze nur darauf beruhen, daß als solche Grundsätze Regeln ausgegeben
werden, die nicht richtig, wenigstens nicht ausnahmslos richtig sind, und mau
die zeitgemäß richtigen Regeln nicht zu entdecken weiß oder sich ihnen nicht
fügen will. Immerhin ist es aber richtig, daß die Meisterschaft der That
keine Regeln braucht, während ein Recht ohne Regeln eine Recht ohne Gründe
und bloße Willkür ist. Die Willkür der Kadiwirtschaft kann gewiß auch ihr
gutes haben, wenn der Kadi ein ehrlicher und weiser Mann ist; aber als einen
besondern Vorzug roher Zeiten wird man sie doch nicht ansehen wollen, und
es besteht sicherlich auch keine Neigung, zu ihr zurückzukehren.

Es ist aber auch ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, daß das
geistige Auge unsrer hochentwickelten Zeit durch einen Prinzipienflor getrübt
sei. Das trifft nirgends zu, am wenigsten im Recht. Man kann sagen, daß
wir grundsätzlich grundsatzlos sind. Tnrgeniews Roman "Väter und Söhne"
zeigt den krassen Unterschied der Denkungsweise alter und neuer Zeit. Dort
will es der ältere Mann kaum glauben, wenn es der Jüngling unverblümt
ausspricht, daß das neue Geschlecht keine Grundsätze habe und auch keine haben
wolle. Vismarck, der der neuesten Geschichte das Gepräge aufgedrückt hat, hat
einmal einer ihm nahestehenden Dame geschrieben, Grundsätze zu haben komme
ihm vor, als wenn jemand mit einer langen Querstange im Munde dnrch
einen schmalen Waldpfad marschieren wollte. Das ist nicht etwa nur ein hin-
geworfnes launiges Wort, sondern das charakteristische Merkmal der Dent-
und Handlungsweise des großen Mannes. Man vergegenwärtige sich von
seinen schwankenden Beziehungen zu Parteien und Staaten uur eine einzige,
die seiner Stellung zu Österreich. Als ergebner Freund des mächtigen Nachbar¬
landes wird er Gesandter beim deutschen Bundestag und gewinnt dort die


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

urteil, das uns von Irrweg zu Irrweg führt, treffend geschildert. Ein Recht
ohne Prinzipien kann es eigentlich nie gegeben haben. Die Rechtspflege be¬
deutet nichts andres als die Unterordnung des Einzelfalls unter ein allgemeines
Prinzip. Das Prinzip enthält die Rechtsrcgel ohne einen bestimmten that¬
sächlichen Inhalt, und das Recht wird im einzelnen gefunden, indem aus der
Fülle der Thatsachen des Einzclfalls die wesentlichen, auf die die Regel an¬
zuwenden ist, ausgeschieden werden. Es ist auch uicht zu sehen, von welcher
rohen Zeit mit dem unschätzbaren Vorzuge der Prinzipienlosigkeit Jhering
sprechen will, er ist doch sicherlich auch der Meinung, daß unter den Römern
die Rechtsbildung in höchster Blüte gestanden hat, und er wird ebenso wenig
leugnen wollen, daß sich das römische Recht aus festen Prinzipien entwickelt
hat. Savigny sagt in seiner berühmten Schrift: Vom Beruf unsrer Zeit für
Gesetzgebung und Rechtswissenschaft: „In unsrer Wissenschaft beruht aller
Erfolg auf dem Besitz der leitenden Grundsätze, und gerade dieser Besitz ist
es, der die Größe der römischen Juristen begründete." Oft genug mag auch
auf andern Gebieten des Denkens und Handelns die Abneigung gegen leitende
Grundsätze nur darauf beruhen, daß als solche Grundsätze Regeln ausgegeben
werden, die nicht richtig, wenigstens nicht ausnahmslos richtig sind, und mau
die zeitgemäß richtigen Regeln nicht zu entdecken weiß oder sich ihnen nicht
fügen will. Immerhin ist es aber richtig, daß die Meisterschaft der That
keine Regeln braucht, während ein Recht ohne Regeln eine Recht ohne Gründe
und bloße Willkür ist. Die Willkür der Kadiwirtschaft kann gewiß auch ihr
gutes haben, wenn der Kadi ein ehrlicher und weiser Mann ist; aber als einen
besondern Vorzug roher Zeiten wird man sie doch nicht ansehen wollen, und
es besteht sicherlich auch keine Neigung, zu ihr zurückzukehren.

Es ist aber auch ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, daß das
geistige Auge unsrer hochentwickelten Zeit durch einen Prinzipienflor getrübt
sei. Das trifft nirgends zu, am wenigsten im Recht. Man kann sagen, daß
wir grundsätzlich grundsatzlos sind. Tnrgeniews Roman „Väter und Söhne"
zeigt den krassen Unterschied der Denkungsweise alter und neuer Zeit. Dort
will es der ältere Mann kaum glauben, wenn es der Jüngling unverblümt
ausspricht, daß das neue Geschlecht keine Grundsätze habe und auch keine haben
wolle. Vismarck, der der neuesten Geschichte das Gepräge aufgedrückt hat, hat
einmal einer ihm nahestehenden Dame geschrieben, Grundsätze zu haben komme
ihm vor, als wenn jemand mit einer langen Querstange im Munde dnrch
einen schmalen Waldpfad marschieren wollte. Das ist nicht etwa nur ein hin-
geworfnes launiges Wort, sondern das charakteristische Merkmal der Dent-
und Handlungsweise des großen Mannes. Man vergegenwärtige sich von
seinen schwankenden Beziehungen zu Parteien und Staaten uur eine einzige,
die seiner Stellung zu Österreich. Als ergebner Freund des mächtigen Nachbar¬
landes wird er Gesandter beim deutschen Bundestag und gewinnt dort die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/586>, abgerufen am 27.07.2024.