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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ballade und Romanze

tapferer Thaten das Element der Rhapsodie; in ihr tritt mehr die Licht- und
Tagseite des Geistes hervor, und sie hat daher den ruhigen, klaren Fluß
epischer Darstellung. Die Romanze endlich offenbart nach Echtermeyer den
Geist in der vollen Klarheit und Herrschaft des freien Selbstbewußtseins.
Sie geht mehr von der Allgemeinheit des Gedankens aus; das Gesetz der
sittlichen Freiheit, zu dem sich das Bewußtsein zuletzt erhebt, ist ihre Seele.
Obwohl daher die Romanze subjektiver ist als die Rhapsodie und lyrische
Maße bevorzugt, so muß doch der lichten Klarheit ihres Inhalts eine durch¬
sichtige, plastische Behandlung entsprechen.

Bei dieser Begriffsbestimmung der Ballade und der Romanze kann es kein
Zweifel sein, daß Echtcrmeyer die Gestalt, die diese Dichtungsgattnng bei
Goethe, Schiller und Uhland erhalten hat, besonders im Ange hatte und
unbewußt berücksichtigte. Denn Goethes episch-lyrische Gedichte nennt er
sämtlich Balladen mit Ausnahme von zweien: "Der Sänger" und "Der Gott
und die Bajadere"; Schillers hierhergehörige Gedichte sind ihm ausschließlich
Romanzen, Uhland aber betrachtet er als einen besonders in der Rhapsodie
hervorragenden Dichter.

Daher hat schon Bischer mit Recht eingewandt "Ästhetik III, S. 136"),
daß Echtermeyer nicht alles, was in den Kreis der beiden Begriffe fällt,
bei seiner Einteilung berücksichtige, und daß sowohl in der Romanze viel
finsterer, blutiger, nächtlicher Stoff als in der Ballade lichter Inhalt be¬
handelt sei. Das wichtigste aber ist. daß Echtermeyer den Grundsatz für die
Einteilung der epischen Lyrik durch Vergleichung mit den drei Formen der
Epik gewinnt. Denn diese für das Epos durch den geschichtlichen Verlauf
gegebne Scheidung darf nicht nachträglich aus die epische Lyrik des achtzehnten
Jahrhunderts angewandt werden, weil damals auf diesem Gebiet keine ähnliche
Entwicklung stattgefunden hat. Eine richtige Erkenntnis kann nur durch
Beobachtung der Thatsachen gewonnen werden. Es ist ganz unberechtigt,
""es Hegelscher Weise die Thatsachen einem anderweitig konstruirten Begriff
unterzuordnen. Sogar wenn sich die drei Stufen der epischen Lyrik, die
Echtermeyer begrifflich erschließt, in einem andern Lande und zu andrer Zeit
gerade so vorfinden sollten, so müßte immer zuerst gefragt werden, ob sich
denn auch in Wirklichkeit unsre Dichter des achtzehnten Jahrhunderts einer
solchen begrifflichen Einteilung unterworfen haben. Aber nicht einmal das erste
hat Echtermeyer erwiesen. Vielmehr hat er die Achillesferse seiner Abhandlung
selbst dadurch angedeutet, daß er sich zu der Behauptung gezwungen sieht: wie
die Dichter selbst ihre hierher gehörigen Produktionen genannt haben, sei ebenso
gleichgiltig wie die Etymologie und Geschichte dieser Bezeichnungen. Den
Begriff in solcher Allgewalt anerkennen, das konnte man wohl zu der Zeit,
wo Hegels Philosophie herrschte; jetzt wird jeder den umgekehrten Weg gehen
und die Merkmale des Begriffs aus den Thatsachen zu gewinnen suchen. >


Ballade und Romanze

tapferer Thaten das Element der Rhapsodie; in ihr tritt mehr die Licht- und
Tagseite des Geistes hervor, und sie hat daher den ruhigen, klaren Fluß
epischer Darstellung. Die Romanze endlich offenbart nach Echtermeyer den
Geist in der vollen Klarheit und Herrschaft des freien Selbstbewußtseins.
Sie geht mehr von der Allgemeinheit des Gedankens aus; das Gesetz der
sittlichen Freiheit, zu dem sich das Bewußtsein zuletzt erhebt, ist ihre Seele.
Obwohl daher die Romanze subjektiver ist als die Rhapsodie und lyrische
Maße bevorzugt, so muß doch der lichten Klarheit ihres Inhalts eine durch¬
sichtige, plastische Behandlung entsprechen.

Bei dieser Begriffsbestimmung der Ballade und der Romanze kann es kein
Zweifel sein, daß Echtcrmeyer die Gestalt, die diese Dichtungsgattnng bei
Goethe, Schiller und Uhland erhalten hat, besonders im Ange hatte und
unbewußt berücksichtigte. Denn Goethes episch-lyrische Gedichte nennt er
sämtlich Balladen mit Ausnahme von zweien: „Der Sänger" und „Der Gott
und die Bajadere"; Schillers hierhergehörige Gedichte sind ihm ausschließlich
Romanzen, Uhland aber betrachtet er als einen besonders in der Rhapsodie
hervorragenden Dichter.

Daher hat schon Bischer mit Recht eingewandt «Ästhetik III, S. 136«),
daß Echtermeyer nicht alles, was in den Kreis der beiden Begriffe fällt,
bei seiner Einteilung berücksichtige, und daß sowohl in der Romanze viel
finsterer, blutiger, nächtlicher Stoff als in der Ballade lichter Inhalt be¬
handelt sei. Das wichtigste aber ist. daß Echtermeyer den Grundsatz für die
Einteilung der epischen Lyrik durch Vergleichung mit den drei Formen der
Epik gewinnt. Denn diese für das Epos durch den geschichtlichen Verlauf
gegebne Scheidung darf nicht nachträglich aus die epische Lyrik des achtzehnten
Jahrhunderts angewandt werden, weil damals auf diesem Gebiet keine ähnliche
Entwicklung stattgefunden hat. Eine richtige Erkenntnis kann nur durch
Beobachtung der Thatsachen gewonnen werden. Es ist ganz unberechtigt,
""es Hegelscher Weise die Thatsachen einem anderweitig konstruirten Begriff
unterzuordnen. Sogar wenn sich die drei Stufen der epischen Lyrik, die
Echtermeyer begrifflich erschließt, in einem andern Lande und zu andrer Zeit
gerade so vorfinden sollten, so müßte immer zuerst gefragt werden, ob sich
denn auch in Wirklichkeit unsre Dichter des achtzehnten Jahrhunderts einer
solchen begrifflichen Einteilung unterworfen haben. Aber nicht einmal das erste
hat Echtermeyer erwiesen. Vielmehr hat er die Achillesferse seiner Abhandlung
selbst dadurch angedeutet, daß er sich zu der Behauptung gezwungen sieht: wie
die Dichter selbst ihre hierher gehörigen Produktionen genannt haben, sei ebenso
gleichgiltig wie die Etymologie und Geschichte dieser Bezeichnungen. Den
Begriff in solcher Allgewalt anerkennen, das konnte man wohl zu der Zeit,
wo Hegels Philosophie herrschte; jetzt wird jeder den umgekehrten Weg gehen
und die Merkmale des Begriffs aus den Thatsachen zu gewinnen suchen. >


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[0517] Ballade und Romanze tapferer Thaten das Element der Rhapsodie; in ihr tritt mehr die Licht- und Tagseite des Geistes hervor, und sie hat daher den ruhigen, klaren Fluß epischer Darstellung. Die Romanze endlich offenbart nach Echtermeyer den Geist in der vollen Klarheit und Herrschaft des freien Selbstbewußtseins. Sie geht mehr von der Allgemeinheit des Gedankens aus; das Gesetz der sittlichen Freiheit, zu dem sich das Bewußtsein zuletzt erhebt, ist ihre Seele. Obwohl daher die Romanze subjektiver ist als die Rhapsodie und lyrische Maße bevorzugt, so muß doch der lichten Klarheit ihres Inhalts eine durch¬ sichtige, plastische Behandlung entsprechen. Bei dieser Begriffsbestimmung der Ballade und der Romanze kann es kein Zweifel sein, daß Echtcrmeyer die Gestalt, die diese Dichtungsgattnng bei Goethe, Schiller und Uhland erhalten hat, besonders im Ange hatte und unbewußt berücksichtigte. Denn Goethes episch-lyrische Gedichte nennt er sämtlich Balladen mit Ausnahme von zweien: „Der Sänger" und „Der Gott und die Bajadere"; Schillers hierhergehörige Gedichte sind ihm ausschließlich Romanzen, Uhland aber betrachtet er als einen besonders in der Rhapsodie hervorragenden Dichter. Daher hat schon Bischer mit Recht eingewandt «Ästhetik III, S. 136«), daß Echtermeyer nicht alles, was in den Kreis der beiden Begriffe fällt, bei seiner Einteilung berücksichtige, und daß sowohl in der Romanze viel finsterer, blutiger, nächtlicher Stoff als in der Ballade lichter Inhalt be¬ handelt sei. Das wichtigste aber ist. daß Echtermeyer den Grundsatz für die Einteilung der epischen Lyrik durch Vergleichung mit den drei Formen der Epik gewinnt. Denn diese für das Epos durch den geschichtlichen Verlauf gegebne Scheidung darf nicht nachträglich aus die epische Lyrik des achtzehnten Jahrhunderts angewandt werden, weil damals auf diesem Gebiet keine ähnliche Entwicklung stattgefunden hat. Eine richtige Erkenntnis kann nur durch Beobachtung der Thatsachen gewonnen werden. Es ist ganz unberechtigt, ""es Hegelscher Weise die Thatsachen einem anderweitig konstruirten Begriff unterzuordnen. Sogar wenn sich die drei Stufen der epischen Lyrik, die Echtermeyer begrifflich erschließt, in einem andern Lande und zu andrer Zeit gerade so vorfinden sollten, so müßte immer zuerst gefragt werden, ob sich denn auch in Wirklichkeit unsre Dichter des achtzehnten Jahrhunderts einer solchen begrifflichen Einteilung unterworfen haben. Aber nicht einmal das erste hat Echtermeyer erwiesen. Vielmehr hat er die Achillesferse seiner Abhandlung selbst dadurch angedeutet, daß er sich zu der Behauptung gezwungen sieht: wie die Dichter selbst ihre hierher gehörigen Produktionen genannt haben, sei ebenso gleichgiltig wie die Etymologie und Geschichte dieser Bezeichnungen. Den Begriff in solcher Allgewalt anerkennen, das konnte man wohl zu der Zeit, wo Hegels Philosophie herrschte; jetzt wird jeder den umgekehrten Weg gehen und die Merkmale des Begriffs aus den Thatsachen zu gewinnen suchen. >

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/517>, abgerufen am 01.09.2024.