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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ballade und Romanze
p. Graffund er von

le unsre Lehrbücher der Poetik überhaupt oft in Verlegenheit
sind, weil sie die einzelnen Gattungen der modernen Poesie nicht
so genau gegen einander abgrenzen können, wie die klar ge¬
sonderten Formen der antiken Dichtung, so tritt diese Unsicher¬
heit besonders bei den Begriffen der Ballade und der Romanze
hervor. Ist man auch darüber einig, daß beide Formen der Poesie in das Gebiet
der epischen Lyrik gehören, so hat doch ihre nähere Bestimmung zu ganz ent¬
gegengesetzten Ansichten geführt. Ausgehend von der ursprünglich allgemein
geltenden Annahme, daß Ballade und Romanze innerhalb der epischen Lyrik
ganz verschiedne Gattungen seien, hat zuerst Echtermeyer (Hallische Jahrbücher
für deutsche Wissenschaft und Kunst, 183". Ur. 96 bis 98, S. 761 ff.) mit
glänzendem Scharfsinn versucht, das Verhältnis dieser beiden für den ästhe¬
tischen Begriff so spröden Dichtungsformen festzustellen. Wie in der deutschen
Epik drei in sich abgeschlossene historisch ans einander folgende Entwicklungs¬
stufen zu scheiden sind, nämlich der epische Kreis der Mythen, das heroische
Epos und die romantische Epopöe, so müssen sich auch, schließt Echter¬
meyer, auf dem Gebiete der epischen Lyrik drei gesonderte Formen bilden,
die er Ballade, Märe oder Rhapsodie und Romanze nennt; denn die epische
Lyrik ist nur die ans dem Boden der Subjektivität sich wiederholende Ent¬
faltung der epischen Dichtung. Durch den Mythus kommt die unanf-
geschlossene Fülle des in sich ruhenden Volksgeistes symbolisch in einer Götter¬
welt zur Darstellung. So stellt auch die Ballade die Nachtseite des Bewußt¬
seins dar. Sie zeigt den Geist in seiner Naturbedingtheit, wie er den Natur-
gewalten oder den wüsten Trieben und Leidenschaften erliegt; das Wunderbare,
Dämonische, die Neste des Mythus, wie sie sich im Volksaberglauben erhalten
haben, bilden vvrzugsmeise den Inhalt der Ballade. Daher kommt ihr, was
die Form betrifft, eine mysteriöse Vehandlung, eine innere Gedrungenheit,
eine mehr andeutende Darstellungsweise zu, die erst mit musikalischer Begleitung
volle Wirkung thut. Das heroische Epos ferner zeigt zwar den aus der Natur¬
bedingtheit sich allmählich befreienden Geist; aber noch immer ist das Bewußt¬
sein naiv, vou der allgemeinen Volkstümlichkeit bestimmt, die Geschichte geht
ihm unvermerkt in die Gestalt der Sage über. Ebenso ist die historische Welt




Ballade und Romanze
p. Graffund er von

le unsre Lehrbücher der Poetik überhaupt oft in Verlegenheit
sind, weil sie die einzelnen Gattungen der modernen Poesie nicht
so genau gegen einander abgrenzen können, wie die klar ge¬
sonderten Formen der antiken Dichtung, so tritt diese Unsicher¬
heit besonders bei den Begriffen der Ballade und der Romanze
hervor. Ist man auch darüber einig, daß beide Formen der Poesie in das Gebiet
der epischen Lyrik gehören, so hat doch ihre nähere Bestimmung zu ganz ent¬
gegengesetzten Ansichten geführt. Ausgehend von der ursprünglich allgemein
geltenden Annahme, daß Ballade und Romanze innerhalb der epischen Lyrik
ganz verschiedne Gattungen seien, hat zuerst Echtermeyer (Hallische Jahrbücher
für deutsche Wissenschaft und Kunst, 183». Ur. 96 bis 98, S. 761 ff.) mit
glänzendem Scharfsinn versucht, das Verhältnis dieser beiden für den ästhe¬
tischen Begriff so spröden Dichtungsformen festzustellen. Wie in der deutschen
Epik drei in sich abgeschlossene historisch ans einander folgende Entwicklungs¬
stufen zu scheiden sind, nämlich der epische Kreis der Mythen, das heroische
Epos und die romantische Epopöe, so müssen sich auch, schließt Echter¬
meyer, auf dem Gebiete der epischen Lyrik drei gesonderte Formen bilden,
die er Ballade, Märe oder Rhapsodie und Romanze nennt; denn die epische
Lyrik ist nur die ans dem Boden der Subjektivität sich wiederholende Ent¬
faltung der epischen Dichtung. Durch den Mythus kommt die unanf-
geschlossene Fülle des in sich ruhenden Volksgeistes symbolisch in einer Götter¬
welt zur Darstellung. So stellt auch die Ballade die Nachtseite des Bewußt¬
seins dar. Sie zeigt den Geist in seiner Naturbedingtheit, wie er den Natur-
gewalten oder den wüsten Trieben und Leidenschaften erliegt; das Wunderbare,
Dämonische, die Neste des Mythus, wie sie sich im Volksaberglauben erhalten
haben, bilden vvrzugsmeise den Inhalt der Ballade. Daher kommt ihr, was
die Form betrifft, eine mysteriöse Vehandlung, eine innere Gedrungenheit,
eine mehr andeutende Darstellungsweise zu, die erst mit musikalischer Begleitung
volle Wirkung thut. Das heroische Epos ferner zeigt zwar den aus der Natur¬
bedingtheit sich allmählich befreienden Geist; aber noch immer ist das Bewußt¬
sein naiv, vou der allgemeinen Volkstümlichkeit bestimmt, die Geschichte geht
ihm unvermerkt in die Gestalt der Sage über. Ebenso ist die historische Welt


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[0516] [Abbildung] Ballade und Romanze p. Graffund er von le unsre Lehrbücher der Poetik überhaupt oft in Verlegenheit sind, weil sie die einzelnen Gattungen der modernen Poesie nicht so genau gegen einander abgrenzen können, wie die klar ge¬ sonderten Formen der antiken Dichtung, so tritt diese Unsicher¬ heit besonders bei den Begriffen der Ballade und der Romanze hervor. Ist man auch darüber einig, daß beide Formen der Poesie in das Gebiet der epischen Lyrik gehören, so hat doch ihre nähere Bestimmung zu ganz ent¬ gegengesetzten Ansichten geführt. Ausgehend von der ursprünglich allgemein geltenden Annahme, daß Ballade und Romanze innerhalb der epischen Lyrik ganz verschiedne Gattungen seien, hat zuerst Echtermeyer (Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, 183». Ur. 96 bis 98, S. 761 ff.) mit glänzendem Scharfsinn versucht, das Verhältnis dieser beiden für den ästhe¬ tischen Begriff so spröden Dichtungsformen festzustellen. Wie in der deutschen Epik drei in sich abgeschlossene historisch ans einander folgende Entwicklungs¬ stufen zu scheiden sind, nämlich der epische Kreis der Mythen, das heroische Epos und die romantische Epopöe, so müssen sich auch, schließt Echter¬ meyer, auf dem Gebiete der epischen Lyrik drei gesonderte Formen bilden, die er Ballade, Märe oder Rhapsodie und Romanze nennt; denn die epische Lyrik ist nur die ans dem Boden der Subjektivität sich wiederholende Ent¬ faltung der epischen Dichtung. Durch den Mythus kommt die unanf- geschlossene Fülle des in sich ruhenden Volksgeistes symbolisch in einer Götter¬ welt zur Darstellung. So stellt auch die Ballade die Nachtseite des Bewußt¬ seins dar. Sie zeigt den Geist in seiner Naturbedingtheit, wie er den Natur- gewalten oder den wüsten Trieben und Leidenschaften erliegt; das Wunderbare, Dämonische, die Neste des Mythus, wie sie sich im Volksaberglauben erhalten haben, bilden vvrzugsmeise den Inhalt der Ballade. Daher kommt ihr, was die Form betrifft, eine mysteriöse Vehandlung, eine innere Gedrungenheit, eine mehr andeutende Darstellungsweise zu, die erst mit musikalischer Begleitung volle Wirkung thut. Das heroische Epos ferner zeigt zwar den aus der Natur¬ bedingtheit sich allmählich befreienden Geist; aber noch immer ist das Bewußt¬ sein naiv, vou der allgemeinen Volkstümlichkeit bestimmt, die Geschichte geht ihm unvermerkt in die Gestalt der Sage über. Ebenso ist die historische Welt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/516>, abgerufen am 01.09.2024.