Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Atheismus und Ethik

Wohl die Landräte und Staatsanwälte gehören, Fortschritte, und die Zeit sei
gekommen, für die Einführung eines atheistischen Moralunterrichts in den
Schulen zu agitiren! Von deu Schicksalen der Leute, die in Berlin einen Frei¬
denkerunterricht zu organisiren versuchten, hat er wohl nichts gehört. Er wird
sich schon mit seinen Vorschlügen auf Rußland beschränken müssen, dessen
Negierung, Volk und Popcnschaft ohne Zweifel reifer dafür sind. Zum Schluß
bemerken wir, daß uns der Moralunterricht wenig Schmerzen verursacht. Wir
verwechseln nicht, wie so manche Ethiker, die natürliche Grundlage der Moral
mit dem "Prinzip," aus dem die Morallehre herausgesponnen wird. Die
natürliche Grundlage der Moral, die sittliche Natur des Menschen, bleibt
allen Moralsystemen gegenüber so unveränderlich, wie Herz, Gehirn und Magen
gegenüber den wechselnden Systemen der Physiologen und Diätetiker. Die
Morallehre ist nicht ganz gleichgiltig, da sie auf die Seelendiät Einfluß haben
kann, aber dieser Einfluß wird von den Freunden wie von den Feinden jeder
Morallehre außerordentlich überschätzt. Die Studenten des Heidelberger Kate¬
chismus, der Moral von Gury und des Schulchan Aruch werfen einander
unaufhörlich Unsittlichkeit und Niedertracht vor, dabei unterscheiden sie sich
aber nur sehr wenig von einander: sie find alle mit einander keine Unmenschen,
aber jeder gehörig auf seinen Vorteil bedacht; der Unterschied beschränkt sich
meist darauf, daß der eine seinen Vorteil besser zu wahren versteht als der
andre. Wer die schönste Moral im Kopfe hat, ist damit noch lange nicht der
beste Mensch, wie ja auch die Kriminalstudenten gewöhnlich nicht die legalsten
Staatsbürger sind, der gemeine Mann aber denkt beim Handeln sehr wenig
an die Moralsätze, die er in der Schule hergeplappert hat. Die Aufmerksamkeit
ans den Unterschied von guten und schlechten Beispielen, die Stärkung der
sittlichen Empfindung durch den Umgang mit edeln Menschen und durch eine
gute Lektüre, angemessene Beschäftigung, gesunde Lebensgewohnheiten wirken
weit besser als Moralsysteme. Der verständige Lehrer weiß auch so schon
jede Unterrichtsstunde für die sittliche Erziehung der Schüler nutzbar zu machen,
und das ist mehr wert als ein besondrer Moralunterricht. Wie der Erdboden
nach allen Verwüstungen, die Wasser, Stürme und Menschenhand angerichtet
haben, immer wieder grün wird, so treibt die Menschennatur nach allen Ver¬
heerungen, von denen sie heimgesucht wird, immer wieder dieselben Tugenden
hervor, und unter den Verheerungen, von denen sie betroffen wird, sind die
durch falsche Morallehrer nicht die schlimmsten.




Atheismus und Ethik

Wohl die Landräte und Staatsanwälte gehören, Fortschritte, und die Zeit sei
gekommen, für die Einführung eines atheistischen Moralunterrichts in den
Schulen zu agitiren! Von deu Schicksalen der Leute, die in Berlin einen Frei¬
denkerunterricht zu organisiren versuchten, hat er wohl nichts gehört. Er wird
sich schon mit seinen Vorschlügen auf Rußland beschränken müssen, dessen
Negierung, Volk und Popcnschaft ohne Zweifel reifer dafür sind. Zum Schluß
bemerken wir, daß uns der Moralunterricht wenig Schmerzen verursacht. Wir
verwechseln nicht, wie so manche Ethiker, die natürliche Grundlage der Moral
mit dem „Prinzip," aus dem die Morallehre herausgesponnen wird. Die
natürliche Grundlage der Moral, die sittliche Natur des Menschen, bleibt
allen Moralsystemen gegenüber so unveränderlich, wie Herz, Gehirn und Magen
gegenüber den wechselnden Systemen der Physiologen und Diätetiker. Die
Morallehre ist nicht ganz gleichgiltig, da sie auf die Seelendiät Einfluß haben
kann, aber dieser Einfluß wird von den Freunden wie von den Feinden jeder
Morallehre außerordentlich überschätzt. Die Studenten des Heidelberger Kate¬
chismus, der Moral von Gury und des Schulchan Aruch werfen einander
unaufhörlich Unsittlichkeit und Niedertracht vor, dabei unterscheiden sie sich
aber nur sehr wenig von einander: sie find alle mit einander keine Unmenschen,
aber jeder gehörig auf seinen Vorteil bedacht; der Unterschied beschränkt sich
meist darauf, daß der eine seinen Vorteil besser zu wahren versteht als der
andre. Wer die schönste Moral im Kopfe hat, ist damit noch lange nicht der
beste Mensch, wie ja auch die Kriminalstudenten gewöhnlich nicht die legalsten
Staatsbürger sind, der gemeine Mann aber denkt beim Handeln sehr wenig
an die Moralsätze, die er in der Schule hergeplappert hat. Die Aufmerksamkeit
ans den Unterschied von guten und schlechten Beispielen, die Stärkung der
sittlichen Empfindung durch den Umgang mit edeln Menschen und durch eine
gute Lektüre, angemessene Beschäftigung, gesunde Lebensgewohnheiten wirken
weit besser als Moralsysteme. Der verständige Lehrer weiß auch so schon
jede Unterrichtsstunde für die sittliche Erziehung der Schüler nutzbar zu machen,
und das ist mehr wert als ein besondrer Moralunterricht. Wie der Erdboden
nach allen Verwüstungen, die Wasser, Stürme und Menschenhand angerichtet
haben, immer wieder grün wird, so treibt die Menschennatur nach allen Ver¬
heerungen, von denen sie heimgesucht wird, immer wieder dieselben Tugenden
hervor, und unter den Verheerungen, von denen sie betroffen wird, sind die
durch falsche Morallehrer nicht die schlimmsten.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223457"/>
          <fw type="header" place="top"> Atheismus und Ethik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1443" prev="#ID_1442"> Wohl die Landräte und Staatsanwälte gehören, Fortschritte, und die Zeit sei<lb/>
gekommen, für die Einführung eines atheistischen Moralunterrichts in den<lb/>
Schulen zu agitiren! Von deu Schicksalen der Leute, die in Berlin einen Frei¬<lb/>
denkerunterricht zu organisiren versuchten, hat er wohl nichts gehört. Er wird<lb/>
sich schon mit seinen Vorschlügen auf Rußland beschränken müssen, dessen<lb/>
Negierung, Volk und Popcnschaft ohne Zweifel reifer dafür sind. Zum Schluß<lb/>
bemerken wir, daß uns der Moralunterricht wenig Schmerzen verursacht. Wir<lb/>
verwechseln nicht, wie so manche Ethiker, die natürliche Grundlage der Moral<lb/>
mit dem &#x201E;Prinzip," aus dem die Morallehre herausgesponnen wird. Die<lb/>
natürliche Grundlage der Moral, die sittliche Natur des Menschen, bleibt<lb/>
allen Moralsystemen gegenüber so unveränderlich, wie Herz, Gehirn und Magen<lb/>
gegenüber den wechselnden Systemen der Physiologen und Diätetiker. Die<lb/>
Morallehre ist nicht ganz gleichgiltig, da sie auf die Seelendiät Einfluß haben<lb/>
kann, aber dieser Einfluß wird von den Freunden wie von den Feinden jeder<lb/>
Morallehre außerordentlich überschätzt. Die Studenten des Heidelberger Kate¬<lb/>
chismus, der Moral von Gury und des Schulchan Aruch werfen einander<lb/>
unaufhörlich Unsittlichkeit und Niedertracht vor, dabei unterscheiden sie sich<lb/>
aber nur sehr wenig von einander: sie find alle mit einander keine Unmenschen,<lb/>
aber jeder gehörig auf seinen Vorteil bedacht; der Unterschied beschränkt sich<lb/>
meist darauf, daß der eine seinen Vorteil besser zu wahren versteht als der<lb/>
andre. Wer die schönste Moral im Kopfe hat, ist damit noch lange nicht der<lb/>
beste Mensch, wie ja auch die Kriminalstudenten gewöhnlich nicht die legalsten<lb/>
Staatsbürger sind, der gemeine Mann aber denkt beim Handeln sehr wenig<lb/>
an die Moralsätze, die er in der Schule hergeplappert hat. Die Aufmerksamkeit<lb/>
ans den Unterschied von guten und schlechten Beispielen, die Stärkung der<lb/>
sittlichen Empfindung durch den Umgang mit edeln Menschen und durch eine<lb/>
gute Lektüre, angemessene Beschäftigung, gesunde Lebensgewohnheiten wirken<lb/>
weit besser als Moralsysteme. Der verständige Lehrer weiß auch so schon<lb/>
jede Unterrichtsstunde für die sittliche Erziehung der Schüler nutzbar zu machen,<lb/>
und das ist mehr wert als ein besondrer Moralunterricht. Wie der Erdboden<lb/>
nach allen Verwüstungen, die Wasser, Stürme und Menschenhand angerichtet<lb/>
haben, immer wieder grün wird, so treibt die Menschennatur nach allen Ver¬<lb/>
heerungen, von denen sie heimgesucht wird, immer wieder dieselben Tugenden<lb/>
hervor, und unter den Verheerungen, von denen sie betroffen wird, sind die<lb/>
durch falsche Morallehrer nicht die schlimmsten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0515] Atheismus und Ethik Wohl die Landräte und Staatsanwälte gehören, Fortschritte, und die Zeit sei gekommen, für die Einführung eines atheistischen Moralunterrichts in den Schulen zu agitiren! Von deu Schicksalen der Leute, die in Berlin einen Frei¬ denkerunterricht zu organisiren versuchten, hat er wohl nichts gehört. Er wird sich schon mit seinen Vorschlügen auf Rußland beschränken müssen, dessen Negierung, Volk und Popcnschaft ohne Zweifel reifer dafür sind. Zum Schluß bemerken wir, daß uns der Moralunterricht wenig Schmerzen verursacht. Wir verwechseln nicht, wie so manche Ethiker, die natürliche Grundlage der Moral mit dem „Prinzip," aus dem die Morallehre herausgesponnen wird. Die natürliche Grundlage der Moral, die sittliche Natur des Menschen, bleibt allen Moralsystemen gegenüber so unveränderlich, wie Herz, Gehirn und Magen gegenüber den wechselnden Systemen der Physiologen und Diätetiker. Die Morallehre ist nicht ganz gleichgiltig, da sie auf die Seelendiät Einfluß haben kann, aber dieser Einfluß wird von den Freunden wie von den Feinden jeder Morallehre außerordentlich überschätzt. Die Studenten des Heidelberger Kate¬ chismus, der Moral von Gury und des Schulchan Aruch werfen einander unaufhörlich Unsittlichkeit und Niedertracht vor, dabei unterscheiden sie sich aber nur sehr wenig von einander: sie find alle mit einander keine Unmenschen, aber jeder gehörig auf seinen Vorteil bedacht; der Unterschied beschränkt sich meist darauf, daß der eine seinen Vorteil besser zu wahren versteht als der andre. Wer die schönste Moral im Kopfe hat, ist damit noch lange nicht der beste Mensch, wie ja auch die Kriminalstudenten gewöhnlich nicht die legalsten Staatsbürger sind, der gemeine Mann aber denkt beim Handeln sehr wenig an die Moralsätze, die er in der Schule hergeplappert hat. Die Aufmerksamkeit ans den Unterschied von guten und schlechten Beispielen, die Stärkung der sittlichen Empfindung durch den Umgang mit edeln Menschen und durch eine gute Lektüre, angemessene Beschäftigung, gesunde Lebensgewohnheiten wirken weit besser als Moralsysteme. Der verständige Lehrer weiß auch so schon jede Unterrichtsstunde für die sittliche Erziehung der Schüler nutzbar zu machen, und das ist mehr wert als ein besondrer Moralunterricht. Wie der Erdboden nach allen Verwüstungen, die Wasser, Stürme und Menschenhand angerichtet haben, immer wieder grün wird, so treibt die Menschennatur nach allen Ver¬ heerungen, von denen sie heimgesucht wird, immer wieder dieselben Tugenden hervor, und unter den Verheerungen, von denen sie betroffen wird, sind die durch falsche Morallehrer nicht die schlimmsten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/515
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/515>, abgerufen am 27.11.2024.