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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lthik

Schulgesetzentwurf zieht er nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin falsche
Schlüsse. Erstens hält er den damaligen Zeitungs- und Pcirlamentsstnrm
für einen Volkssturm und schließt aus ihm auf eine allgemeine Abkehr des
Volks von der Kirche. Andrerseits aber schreibt er: "Die neuere professionelle
Theologie hat über siebzig Jahre bedurft, um mit zaghaftem Verflüchtigen des
Dogmas, mit Schleiermacher beginnend, bei rücksichtsloser Kritik des Apostoli¬
kums, bei Harnack, anzulangen. Wir heutigen leben rascher. Kaum vier
Jahre sind verflossen, seit der deutsche Reichskanzler und preußische Minister¬
präsident die Gegner der Schulgesetzvorlage wie durch eine arge Beleidigung
in hochgradige Aufregung versetzte, indem er ihnen insinuirte, sie feien Ver¬
treter des Atheismus. Und nach Verlauf von kaum vier Jahren erlebten wir
es gestern, daß ein den Atheismus als die am besten geeignete Form idealer
Weltauffassung darstellender Aufsatz von einem hochachtbaren, auf sein Ansehen
bedachten Organ als nicht zu übersehendes Zeichen der Zeit veröffentlicht
worden ist." Scimson vergißt das vor sechzig Jahren erschienene Leben Jesu
von David Strauß, obgleich er es selbst anführt. Freilich konnte Strauß
nicht preußischer Professor werden, aber er hatte doch viele Anhänger unter
den "professionellen Theologen" und in den Laienkreisen noch weit mehr. Die Ab¬
lehnung, die vierzig Jahre später seine Schrift: Der alte und der neue Glaube,
erfuhr, macht die inzwischen eingetretene religiöse Reaktion kenntlich. Was
aber die liberalen Herren im preußischen Abgeordnetenhause anlangt, so würden
die heute geradeso wie vor vier Jahren entrüstet "Unerhört!" rufen, wenn
sie ein Minister der Begünstigung des Atheismus beschuldigen wollte, und
andrerseits waren Aufsätze wie der von Friedheim in hochachtbaren Organen
zur Kulturkampfzeit etwas ganz gewöhnliches. Wir wollen Samson noch ein
Anekdötchen erzählen, das er vielleicht in den Zeitungen, die er in Rußland
bekommen kann, nicht findet. Der berühmte Astronom Mädler hat am 25. Juni
1830 sein "Glaubensbekenntnis" gedichtet, worin er Gott als den ewigen Gott
der Liebe preist, der sich in jeder Menschenbrust offenbare, der aber verschieden
sei sowohl von dem alttestamentlichen Nachegott, wie von dem Gott, den die
Päpste und Konzilien definirt haben. Das Gedicht atmet den Goethischen
Pantheismus. Es ist unter vormärzlicher Zensur in der Didaskalia,
nach 1870 öfter, unter anderm in der von einem Prediger herausgegclmen
erbaulichen Zeitschrift "Die Morgenröte" und in der 300000 Abonnenten
zählenden Gartenlaube abgedruckt worden. Kein Mensch, d. h. kein Amts¬
mensch, hat daran Anstoß genommen. Kürzlich hat es der Generalanzeiger
für Halberstadt noch einmal abgedruckt, und gegen dessen Redakteur ist
auf die Denunziation des Landrath und des Gemeindekirchenrats von Oschers-
leben hin die Anklage auf Gotteslästerung erhoben worden; der Staatsanwalt
bezeichnet das Gedicht als das Machwerk eines Atheisten. Und da bildet sich
Scimson ein, der Atheismus mache unter unsern Gebildeten, zu denen doch


Atheismus und Lthik

Schulgesetzentwurf zieht er nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin falsche
Schlüsse. Erstens hält er den damaligen Zeitungs- und Pcirlamentsstnrm
für einen Volkssturm und schließt aus ihm auf eine allgemeine Abkehr des
Volks von der Kirche. Andrerseits aber schreibt er: „Die neuere professionelle
Theologie hat über siebzig Jahre bedurft, um mit zaghaftem Verflüchtigen des
Dogmas, mit Schleiermacher beginnend, bei rücksichtsloser Kritik des Apostoli¬
kums, bei Harnack, anzulangen. Wir heutigen leben rascher. Kaum vier
Jahre sind verflossen, seit der deutsche Reichskanzler und preußische Minister¬
präsident die Gegner der Schulgesetzvorlage wie durch eine arge Beleidigung
in hochgradige Aufregung versetzte, indem er ihnen insinuirte, sie feien Ver¬
treter des Atheismus. Und nach Verlauf von kaum vier Jahren erlebten wir
es gestern, daß ein den Atheismus als die am besten geeignete Form idealer
Weltauffassung darstellender Aufsatz von einem hochachtbaren, auf sein Ansehen
bedachten Organ als nicht zu übersehendes Zeichen der Zeit veröffentlicht
worden ist." Scimson vergißt das vor sechzig Jahren erschienene Leben Jesu
von David Strauß, obgleich er es selbst anführt. Freilich konnte Strauß
nicht preußischer Professor werden, aber er hatte doch viele Anhänger unter
den „professionellen Theologen" und in den Laienkreisen noch weit mehr. Die Ab¬
lehnung, die vierzig Jahre später seine Schrift: Der alte und der neue Glaube,
erfuhr, macht die inzwischen eingetretene religiöse Reaktion kenntlich. Was
aber die liberalen Herren im preußischen Abgeordnetenhause anlangt, so würden
die heute geradeso wie vor vier Jahren entrüstet „Unerhört!" rufen, wenn
sie ein Minister der Begünstigung des Atheismus beschuldigen wollte, und
andrerseits waren Aufsätze wie der von Friedheim in hochachtbaren Organen
zur Kulturkampfzeit etwas ganz gewöhnliches. Wir wollen Samson noch ein
Anekdötchen erzählen, das er vielleicht in den Zeitungen, die er in Rußland
bekommen kann, nicht findet. Der berühmte Astronom Mädler hat am 25. Juni
1830 sein „Glaubensbekenntnis" gedichtet, worin er Gott als den ewigen Gott
der Liebe preist, der sich in jeder Menschenbrust offenbare, der aber verschieden
sei sowohl von dem alttestamentlichen Nachegott, wie von dem Gott, den die
Päpste und Konzilien definirt haben. Das Gedicht atmet den Goethischen
Pantheismus. Es ist unter vormärzlicher Zensur in der Didaskalia,
nach 1870 öfter, unter anderm in der von einem Prediger herausgegclmen
erbaulichen Zeitschrift „Die Morgenröte" und in der 300000 Abonnenten
zählenden Gartenlaube abgedruckt worden. Kein Mensch, d. h. kein Amts¬
mensch, hat daran Anstoß genommen. Kürzlich hat es der Generalanzeiger
für Halberstadt noch einmal abgedruckt, und gegen dessen Redakteur ist
auf die Denunziation des Landrath und des Gemeindekirchenrats von Oschers-
leben hin die Anklage auf Gotteslästerung erhoben worden; der Staatsanwalt
bezeichnet das Gedicht als das Machwerk eines Atheisten. Und da bildet sich
Scimson ein, der Atheismus mache unter unsern Gebildeten, zu denen doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/514>, abgerufen am 28.11.2024.