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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lchik

Gesellschaft tausend Antriebe zur Sittlichkeit hervorgehen, bezweifelt kein
Mensch, und daß die Gesamtheit dieser Antriebe mehr ausrichtet als die
Religion, bekennen auch wir mit Samson. Aber diese Verhältnisse wirken
eben gleicherweise bei jeder Art von Religion und Religionslosigkeit. Der
Atheismus thut gar nichts dazu; wohl aber kauu er, wie wir bewiesen haben,
sehr viel davon thun, indem er mutlos macht und die Thatkraft schwächt,
und zwar gilt das vom "idealistischen" Atheismus so gut wie vom mate¬
rialistischen.

Endlich bestreiten wir aufs entschiedenste, daß die Zeit darnach angethan
sei. eine Umgestaltung des Schulwesens im Sinne Samsons anzustreben. Die
Kirchen sollen, meint er, in Erwägung der angeblichen Thatsache, daß sie
abgewirtschaftet haben, ihr Geschäft liquidiren und mit dem Nest ihres Besitz¬
stands ein neues Geschäft ans bescheidnerer Grundlage eröffnen. In der Schule
sollen sie sich darauf beschränken, an die Kinder der Eltern, die es wünschen
werden, außerhalb der gesetzlichen Unterrichtsstunden Religionsunterricht zu
erteilen; innerhalb der Schulstunden aber soll der Staat durch seine Lehrer
einen religionslosen Moralunterricht geben lassen. Die Urteile Samsons über
die geistigen Strömungen in Deutschland beruhen auf falschen Annahmen, die
ja bei einem Dorpater Professor erklärlich genug sind. Er soll nur einmal
eine Kirchfahrt unternehmen, in den katholischen Gegenden die Kirchenbesucher
zählen und berechnen, wie viel Kinder ihm dort sür den religionslosen Mvral-
unterricht bleiben werden. Er soll seinen Liquidationsvorschlag auf einer
deutschen Katholikenversammluug machen und an der stürmischen Heiterkeit,
mit der er begrüßt werden wird, seine Aussichten bemessen. Er soll die
mhstisch-shmbolistische Litteratur Frankreichs studiren und ihren Zusammenhang
mit der vielfach wieder erwachten Kirchlichkeit. Er soll den katholischen Ver¬
einen, Vorschuß- und Hilfskassen Italiens einige Beachtung schenken und Ver¬
mutungen anstellen über die Zahl der katholischen Abgeordneten, die auf Monte
Eitorio einziehen werden, sobald der Papst sein Wahlverbot zurückgenommen
haben wird. Er soll die Macht der Kirchen und Sekten in England ab¬
schätzen. Er soll die Stimmung der protestantischen Bauer- und Bürger¬
schaften Deutschlands erforschen, die trotz ihrer geringen Kirchlichkeit das
Evangelium immer noch für ein Gilt ansehen, das sie ihren Kindern erhalten
wissen Wollen, und denen die Leugnung des persönlichen Gottes als ein Frevel
erscheint. Samson bildet sich ein, der Atheismus habe in neuerer Zeit unge¬
heure Fortschritte gemacht, wahrend er doch wissen müßte, daß die vornehme
Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts atheistischer gewesen ist als die
heutige. Freilich verachtet er den frivolen Atheismus jener Gesellschaft, aber
sie war doch nun einmal sehr zahlreich und mächtig, während die edeln. ernsten,
idealistischen Atheisten von Samsons Art heute mir ein kleines und dabei
ganz einflußloses Häuflein bilden. Aus dem Lärm gegen den ZedliKischen


Grenzboten III I89ö
Atheismus und Lchik

Gesellschaft tausend Antriebe zur Sittlichkeit hervorgehen, bezweifelt kein
Mensch, und daß die Gesamtheit dieser Antriebe mehr ausrichtet als die
Religion, bekennen auch wir mit Samson. Aber diese Verhältnisse wirken
eben gleicherweise bei jeder Art von Religion und Religionslosigkeit. Der
Atheismus thut gar nichts dazu; wohl aber kauu er, wie wir bewiesen haben,
sehr viel davon thun, indem er mutlos macht und die Thatkraft schwächt,
und zwar gilt das vom „idealistischen" Atheismus so gut wie vom mate¬
rialistischen.

Endlich bestreiten wir aufs entschiedenste, daß die Zeit darnach angethan
sei. eine Umgestaltung des Schulwesens im Sinne Samsons anzustreben. Die
Kirchen sollen, meint er, in Erwägung der angeblichen Thatsache, daß sie
abgewirtschaftet haben, ihr Geschäft liquidiren und mit dem Nest ihres Besitz¬
stands ein neues Geschäft ans bescheidnerer Grundlage eröffnen. In der Schule
sollen sie sich darauf beschränken, an die Kinder der Eltern, die es wünschen
werden, außerhalb der gesetzlichen Unterrichtsstunden Religionsunterricht zu
erteilen; innerhalb der Schulstunden aber soll der Staat durch seine Lehrer
einen religionslosen Moralunterricht geben lassen. Die Urteile Samsons über
die geistigen Strömungen in Deutschland beruhen auf falschen Annahmen, die
ja bei einem Dorpater Professor erklärlich genug sind. Er soll nur einmal
eine Kirchfahrt unternehmen, in den katholischen Gegenden die Kirchenbesucher
zählen und berechnen, wie viel Kinder ihm dort sür den religionslosen Mvral-
unterricht bleiben werden. Er soll seinen Liquidationsvorschlag auf einer
deutschen Katholikenversammluug machen und an der stürmischen Heiterkeit,
mit der er begrüßt werden wird, seine Aussichten bemessen. Er soll die
mhstisch-shmbolistische Litteratur Frankreichs studiren und ihren Zusammenhang
mit der vielfach wieder erwachten Kirchlichkeit. Er soll den katholischen Ver¬
einen, Vorschuß- und Hilfskassen Italiens einige Beachtung schenken und Ver¬
mutungen anstellen über die Zahl der katholischen Abgeordneten, die auf Monte
Eitorio einziehen werden, sobald der Papst sein Wahlverbot zurückgenommen
haben wird. Er soll die Macht der Kirchen und Sekten in England ab¬
schätzen. Er soll die Stimmung der protestantischen Bauer- und Bürger¬
schaften Deutschlands erforschen, die trotz ihrer geringen Kirchlichkeit das
Evangelium immer noch für ein Gilt ansehen, das sie ihren Kindern erhalten
wissen Wollen, und denen die Leugnung des persönlichen Gottes als ein Frevel
erscheint. Samson bildet sich ein, der Atheismus habe in neuerer Zeit unge¬
heure Fortschritte gemacht, wahrend er doch wissen müßte, daß die vornehme
Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts atheistischer gewesen ist als die
heutige. Freilich verachtet er den frivolen Atheismus jener Gesellschaft, aber
sie war doch nun einmal sehr zahlreich und mächtig, während die edeln. ernsten,
idealistischen Atheisten von Samsons Art heute mir ein kleines und dabei
ganz einflußloses Häuflein bilden. Aus dem Lärm gegen den ZedliKischen


Grenzboten III I89ö
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[0513] Atheismus und Lchik Gesellschaft tausend Antriebe zur Sittlichkeit hervorgehen, bezweifelt kein Mensch, und daß die Gesamtheit dieser Antriebe mehr ausrichtet als die Religion, bekennen auch wir mit Samson. Aber diese Verhältnisse wirken eben gleicherweise bei jeder Art von Religion und Religionslosigkeit. Der Atheismus thut gar nichts dazu; wohl aber kauu er, wie wir bewiesen haben, sehr viel davon thun, indem er mutlos macht und die Thatkraft schwächt, und zwar gilt das vom „idealistischen" Atheismus so gut wie vom mate¬ rialistischen. Endlich bestreiten wir aufs entschiedenste, daß die Zeit darnach angethan sei. eine Umgestaltung des Schulwesens im Sinne Samsons anzustreben. Die Kirchen sollen, meint er, in Erwägung der angeblichen Thatsache, daß sie abgewirtschaftet haben, ihr Geschäft liquidiren und mit dem Nest ihres Besitz¬ stands ein neues Geschäft ans bescheidnerer Grundlage eröffnen. In der Schule sollen sie sich darauf beschränken, an die Kinder der Eltern, die es wünschen werden, außerhalb der gesetzlichen Unterrichtsstunden Religionsunterricht zu erteilen; innerhalb der Schulstunden aber soll der Staat durch seine Lehrer einen religionslosen Moralunterricht geben lassen. Die Urteile Samsons über die geistigen Strömungen in Deutschland beruhen auf falschen Annahmen, die ja bei einem Dorpater Professor erklärlich genug sind. Er soll nur einmal eine Kirchfahrt unternehmen, in den katholischen Gegenden die Kirchenbesucher zählen und berechnen, wie viel Kinder ihm dort sür den religionslosen Mvral- unterricht bleiben werden. Er soll seinen Liquidationsvorschlag auf einer deutschen Katholikenversammluug machen und an der stürmischen Heiterkeit, mit der er begrüßt werden wird, seine Aussichten bemessen. Er soll die mhstisch-shmbolistische Litteratur Frankreichs studiren und ihren Zusammenhang mit der vielfach wieder erwachten Kirchlichkeit. Er soll den katholischen Ver¬ einen, Vorschuß- und Hilfskassen Italiens einige Beachtung schenken und Ver¬ mutungen anstellen über die Zahl der katholischen Abgeordneten, die auf Monte Eitorio einziehen werden, sobald der Papst sein Wahlverbot zurückgenommen haben wird. Er soll die Macht der Kirchen und Sekten in England ab¬ schätzen. Er soll die Stimmung der protestantischen Bauer- und Bürger¬ schaften Deutschlands erforschen, die trotz ihrer geringen Kirchlichkeit das Evangelium immer noch für ein Gilt ansehen, das sie ihren Kindern erhalten wissen Wollen, und denen die Leugnung des persönlichen Gottes als ein Frevel erscheint. Samson bildet sich ein, der Atheismus habe in neuerer Zeit unge¬ heure Fortschritte gemacht, wahrend er doch wissen müßte, daß die vornehme Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts atheistischer gewesen ist als die heutige. Freilich verachtet er den frivolen Atheismus jener Gesellschaft, aber sie war doch nun einmal sehr zahlreich und mächtig, während die edeln. ernsten, idealistischen Atheisten von Samsons Art heute mir ein kleines und dabei ganz einflußloses Häuflein bilden. Aus dem Lärm gegen den ZedliKischen Grenzboten III I89ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/513>, abgerufen am 28.11.2024.