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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lthik

Sülze des Büchleins in ihr "Prinzip" hinein und dann wieder heraus. Damit
soll nicht gesagt sein, daß man sich alle einzelnen Sätze der Katechismusmoral
in alle Ewigkeit gefallen lassen müsse; die Katechismusmoral ist an der na¬
türlichen Moral zu prüfen, und die Zukunft wird wahrscheinlich so manches
an ihr zu ändern und zu bessern finden; es soll nur hervorgehoben werden,
daß die Herren Atheisten mitunter noch den Katechismus nachbeten und gar
nicht wissen, was natürliche Moral ist.

Nachdem wir die Art unsrer Übereinstimmung mit Samson in Beziehung
auf die ersten beiden Punkte dargelegt haben, bleibt über den dritten Punkt
und über die drei von seinen Sätzen, die wir unbedingt ablehnen, nur wenig
zu sagen übrig. Wir geben, wie gesagt, zu, daß es seine Gefahren hat, wenn
Staat und Kirche im Verein den christlichen Glauben als die einzige Grund¬
lage der Sittlichkeit anpreisen, allein diese Gefahren sind nicht so groß, wie
sie sich Samson vorstellt; sie sind nicht größer als hundert andre Gefahren,
die aus falschen und verwirrenden Zeitmeinungen hervorgehn; ihnen zu be¬
gegnen, reicht die gelegentliche Widerlegung des Irrtums hin, eine grund¬
stürzende Änderung unsers Schulwesens ist nicht nötig. Von den drei Meinungen
des russischen Politikers, die wir ablehnen, ist die erste, daß die Moral natur¬
wissenschaftlich begründet werden könne, erst kürzlich wiederum in dem Aufsätze:
"Welterklärungsversuche" (30. Heft der Grenzboten) widerlegt worden. Wenn
man das Sittliche für das der Gattung oder der Gesellschaft nützliche aus¬
giebt, dann kann jede Schandthat als sittlich gerechtfertigt werden. Die
Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die die erobernden und kolouisirenden
Herrenvölker in alten und neuen Zeiten verübt haben, sind diesen Völkern und
insofern sie die Kulturträger waren und der Kulturfortschritt für ein Glück
der Menschheit angesehen wird, der ganzen Menschheit sehr nützlich gewesen;
auch wird der Kulturfortschritt durch die Habsucht, die meistens der Genu߬
sucht dient, nicht wenig gefördert, indem sie zu rastloser Thätigkeit und zu
immer neuen Erfindungen treibt; vom Standpunkte des Knltnrfortschritts
gesehen, sind Habsucht und Genußsucht weit größere Tugenden als Genüg¬
samkeit, Mäßigkeit und Enthaltsamkeit; ja die Bedürfnislosigkeit des Weisen,
dem Goldshares und Gewerbeausstellungslotterieu, Prospekte und Patente
das gleichgiltigste von der Welt sind, müßte als kulturfeindliches Laster ver¬
abscheut werden.*) Zweitens bestreiten wir aufs entschiedenste, daß die Sitt¬
lichkeit vom Atheismus in irgend einer Weise gefördert werde. Samson ver¬
wechselt fortwährend den Atheismus mit den natürlichen Bedingungen der
Sittlichkeit. Daß aus unsern Beziehungen zur Familie, zum Vaterlande, zur



Die Moral des Neuen Testaments ist in dem von Volney 1793 verfaßten C^tsoliismo
"tu, uno/su in folgenden Definitionen verurteilt worden: Vortu, o'sse Is. xrs.rtPis 6os "ortons
utilss ü, 1'inlliviäu et ", 1a sooiotö. Vice, o'sse 1-" xr^rtquo äos <z.olivus nuisidlss " I'inäiviäu.
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Atheismus und Lthik

Sülze des Büchleins in ihr „Prinzip" hinein und dann wieder heraus. Damit
soll nicht gesagt sein, daß man sich alle einzelnen Sätze der Katechismusmoral
in alle Ewigkeit gefallen lassen müsse; die Katechismusmoral ist an der na¬
türlichen Moral zu prüfen, und die Zukunft wird wahrscheinlich so manches
an ihr zu ändern und zu bessern finden; es soll nur hervorgehoben werden,
daß die Herren Atheisten mitunter noch den Katechismus nachbeten und gar
nicht wissen, was natürliche Moral ist.

Nachdem wir die Art unsrer Übereinstimmung mit Samson in Beziehung
auf die ersten beiden Punkte dargelegt haben, bleibt über den dritten Punkt
und über die drei von seinen Sätzen, die wir unbedingt ablehnen, nur wenig
zu sagen übrig. Wir geben, wie gesagt, zu, daß es seine Gefahren hat, wenn
Staat und Kirche im Verein den christlichen Glauben als die einzige Grund¬
lage der Sittlichkeit anpreisen, allein diese Gefahren sind nicht so groß, wie
sie sich Samson vorstellt; sie sind nicht größer als hundert andre Gefahren,
die aus falschen und verwirrenden Zeitmeinungen hervorgehn; ihnen zu be¬
gegnen, reicht die gelegentliche Widerlegung des Irrtums hin, eine grund¬
stürzende Änderung unsers Schulwesens ist nicht nötig. Von den drei Meinungen
des russischen Politikers, die wir ablehnen, ist die erste, daß die Moral natur¬
wissenschaftlich begründet werden könne, erst kürzlich wiederum in dem Aufsätze:
„Welterklärungsversuche" (30. Heft der Grenzboten) widerlegt worden. Wenn
man das Sittliche für das der Gattung oder der Gesellschaft nützliche aus¬
giebt, dann kann jede Schandthat als sittlich gerechtfertigt werden. Die
Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die die erobernden und kolouisirenden
Herrenvölker in alten und neuen Zeiten verübt haben, sind diesen Völkern und
insofern sie die Kulturträger waren und der Kulturfortschritt für ein Glück
der Menschheit angesehen wird, der ganzen Menschheit sehr nützlich gewesen;
auch wird der Kulturfortschritt durch die Habsucht, die meistens der Genu߬
sucht dient, nicht wenig gefördert, indem sie zu rastloser Thätigkeit und zu
immer neuen Erfindungen treibt; vom Standpunkte des Knltnrfortschritts
gesehen, sind Habsucht und Genußsucht weit größere Tugenden als Genüg¬
samkeit, Mäßigkeit und Enthaltsamkeit; ja die Bedürfnislosigkeit des Weisen,
dem Goldshares und Gewerbeausstellungslotterieu, Prospekte und Patente
das gleichgiltigste von der Welt sind, müßte als kulturfeindliches Laster ver¬
abscheut werden.*) Zweitens bestreiten wir aufs entschiedenste, daß die Sitt¬
lichkeit vom Atheismus in irgend einer Weise gefördert werde. Samson ver¬
wechselt fortwährend den Atheismus mit den natürlichen Bedingungen der
Sittlichkeit. Daß aus unsern Beziehungen zur Familie, zum Vaterlande, zur



Die Moral des Neuen Testaments ist in dem von Volney 1793 verfaßten C^tsoliismo
«tu, uno/su in folgenden Definitionen verurteilt worden: Vortu, o'sse Is. xrs.rtPis 6os »ortons
utilss ü, 1'inlliviäu et », 1a sooiotö. Vice, o'sse 1-» xr^rtquo äos <z.olivus nuisidlss » I'inäiviäu.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/512>, abgerufen am 01.09.2024.