Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Betrachtungen eines Schulvaters zurückgeblieben ist und so zu sagen den Zusammenhang in der Kette des Lernens Kommt dann hinzu, was ja oft genug der Fall ist, daß auch die Eltern, von Diese Fragen, die früher mein Interesse weniger erregten, sind mir näher Betrachtungen eines Schulvaters zurückgeblieben ist und so zu sagen den Zusammenhang in der Kette des Lernens Kommt dann hinzu, was ja oft genug der Fall ist, daß auch die Eltern, von Diese Fragen, die früher mein Interesse weniger erregten, sind mir näher <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0480" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223422"/> <fw type="header" place="top"> Betrachtungen eines Schulvaters</fw><lb/> <p xml:id="ID_1349" prev="#ID_1348"> zurückgeblieben ist und so zu sagen den Zusammenhang in der Kette des Lernens<lb/> verloren hat, weil es dann die Unterrichtsgegenstände nicht genügend begreift.<lb/> Beim Schulunterricht fehlt die Zeit, wohl auch oft die Geduld, ein solches Kind<lb/> richtig anzuleiten und ihm auf den Weg zu helfen. Es wird zu schablonenhaft<lb/> Verfahren und zu wenig individualisirt. Die Aufgaben werden den Kindern<lb/> gemeinsam erteilt, ohne Rücksichten auf die Fähigkeiten der einzelnen. Die Ursache<lb/> des Zurückbleibens braucht aber nicht einmal immer Mangel an Begabung zu sein.<lb/> Manchmal wird es einem Kinde durch körperliche Schwäche erschwert, während der<lb/> langen Dauer der Schulstunden dem Unterricht mit der nötigen Aufmerksamkeit zu<lb/> folgen. Oder es ist zu lebhaft, vermag seine Gedanken nicht dem Zwange zu<lb/> fügen. Oder ein Kind hat wegen Krankheit eine Zeit lang in der Schule gefehlt.<lb/> Immer aber liegt bei einem Zurückbleiben des Kindes für den Lehrer die Ver-<lb/> suchung nahe, ohne die Ursachen des Zurückbleibens gehörig zu prüfen, nur den<lb/> derzeitigen Wissensstand des Kindes zu berücksichtigen, ihn mit dem andrer Kinder<lb/> zu vergleichen und daraus zu folgern, daß durch Strafen dem Mangel abgeholfen<lb/> werden müsse. Nicht die Kinder, die in der Schule gute Fortschritte macheu,<lb/> sondern die, die aus irgend einem Grunde zurückbleiben, werden am meisten bestraft.<lb/> Und doch ist gerade bei ihnen der Wert der angewandten Strafmittel oft höchst<lb/> zweifelhaft; ihre Behandlung würde, wenn sie wirksam sein sollte, am meisten Um¬<lb/> sicht, Geduld und Selbstbeherrschung erfordern, und die Gefahr liegt hier so nahe,<lb/> daß ein Lehrer mit heftigem Temperament nicht genügend beachtet, ob die Strafe<lb/> wirklich die angenommne wohlthätige und nützliche oder nicht vielmehr eine ganz<lb/> entgegengesetzte Wirkung hat. Geistige Unfähigkeit wird durch körperliche Strafen<lb/> nicht gebessert. Aber selbst bei einem geradezu trägen Kinde wird gcwohnheits-<lb/> gemäßes Züchtigen, das als ein unentbehrliches Reizmittel vorwärts zu helfen be¬<lb/> trachtet werden mag, leicht seinen Zweck verfehlen und abstumpfend wirke». Und<lb/> das gilt nicht bloß von einem Mißbrauch des Züchtigungsrechts in der Form von<lb/> thatsächlichen Körperverletzungen oder auch nur einem gcwohnheitsgemäßen Schlagen.<lb/> Schon eine fortgesetzt unfreundliche Behandlung, ein beständiges Tadeln kann un¬<lb/> günstig wirken. Wenn ein solches Kind im voraus weiß, daß es der Züchtigung<lb/> nicht entgeht, oder daß seine Arbeiten und sein Betragen beständigen Anlaß zum<lb/> Tadel geben, so wird sein junges Gemüth verbittert, es fühlt sich zurückgesetzt, es<lb/> lernt die Schule als eine Zwangsanstalt betrachten. Auch mag wohl manchmal die<lb/> Furcht vor Züchtigungen in dem Gemüte des Kindes eine Unruhe erzeugen, die<lb/> die Aufmerksamkeit stört und die Fruchtbarkeit des Schulunterrichts beeinträchtigt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1350"> Kommt dann hinzu, was ja oft genug der Fall ist, daß auch die Eltern, von<lb/> einem falschen Ehrgeiz geleitet und einer verkehrten Zeitströmung nachgebend, Fähig¬<lb/> keiten und Neigungen des Kindes uicht genügend berücksichtigen und aus ihm<lb/> durchaus etwas macheu wollen, wozu es sich nicht eignet, so treten die nachteiligen<lb/> Wirkungen einer einseitigen Überschätzung der Kenntnisse bei so einem unglücklichen<lb/> Kinde aufs deutlichste hervor. Wie mancher schlechte Schüler ist im spätern Leben<lb/> ein tüchtiger Mensch geworden. Und es wäre sehr zu wünschen, daß denen, die<lb/> nun einmal wenig Anlage oder Neigung zum Lernen haben, die bittern Erfahrungen<lb/> des „schlechten Schülers" möglichst erspart blieben, wenigstens so weit, als die<lb/> auf Forttreiben berechneten Mittel ihren Zweck verfehlen und hemmen, anstatt zu<lb/> fördern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1351" next="#ID_1352"> Diese Fragen, die früher mein Interesse weniger erregten, sind mir näher<lb/> getreten, seitdem ich selbst als Vater eines die Schule besuchenden Kindes mit der<lb/> Schule in Berührung gekommen bin und an ihm die Wirkungen des Schulunterrichts</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0480]
Betrachtungen eines Schulvaters
zurückgeblieben ist und so zu sagen den Zusammenhang in der Kette des Lernens
verloren hat, weil es dann die Unterrichtsgegenstände nicht genügend begreift.
Beim Schulunterricht fehlt die Zeit, wohl auch oft die Geduld, ein solches Kind
richtig anzuleiten und ihm auf den Weg zu helfen. Es wird zu schablonenhaft
Verfahren und zu wenig individualisirt. Die Aufgaben werden den Kindern
gemeinsam erteilt, ohne Rücksichten auf die Fähigkeiten der einzelnen. Die Ursache
des Zurückbleibens braucht aber nicht einmal immer Mangel an Begabung zu sein.
Manchmal wird es einem Kinde durch körperliche Schwäche erschwert, während der
langen Dauer der Schulstunden dem Unterricht mit der nötigen Aufmerksamkeit zu
folgen. Oder es ist zu lebhaft, vermag seine Gedanken nicht dem Zwange zu
fügen. Oder ein Kind hat wegen Krankheit eine Zeit lang in der Schule gefehlt.
Immer aber liegt bei einem Zurückbleiben des Kindes für den Lehrer die Ver-
suchung nahe, ohne die Ursachen des Zurückbleibens gehörig zu prüfen, nur den
derzeitigen Wissensstand des Kindes zu berücksichtigen, ihn mit dem andrer Kinder
zu vergleichen und daraus zu folgern, daß durch Strafen dem Mangel abgeholfen
werden müsse. Nicht die Kinder, die in der Schule gute Fortschritte macheu,
sondern die, die aus irgend einem Grunde zurückbleiben, werden am meisten bestraft.
Und doch ist gerade bei ihnen der Wert der angewandten Strafmittel oft höchst
zweifelhaft; ihre Behandlung würde, wenn sie wirksam sein sollte, am meisten Um¬
sicht, Geduld und Selbstbeherrschung erfordern, und die Gefahr liegt hier so nahe,
daß ein Lehrer mit heftigem Temperament nicht genügend beachtet, ob die Strafe
wirklich die angenommne wohlthätige und nützliche oder nicht vielmehr eine ganz
entgegengesetzte Wirkung hat. Geistige Unfähigkeit wird durch körperliche Strafen
nicht gebessert. Aber selbst bei einem geradezu trägen Kinde wird gcwohnheits-
gemäßes Züchtigen, das als ein unentbehrliches Reizmittel vorwärts zu helfen be¬
trachtet werden mag, leicht seinen Zweck verfehlen und abstumpfend wirke». Und
das gilt nicht bloß von einem Mißbrauch des Züchtigungsrechts in der Form von
thatsächlichen Körperverletzungen oder auch nur einem gcwohnheitsgemäßen Schlagen.
Schon eine fortgesetzt unfreundliche Behandlung, ein beständiges Tadeln kann un¬
günstig wirken. Wenn ein solches Kind im voraus weiß, daß es der Züchtigung
nicht entgeht, oder daß seine Arbeiten und sein Betragen beständigen Anlaß zum
Tadel geben, so wird sein junges Gemüth verbittert, es fühlt sich zurückgesetzt, es
lernt die Schule als eine Zwangsanstalt betrachten. Auch mag wohl manchmal die
Furcht vor Züchtigungen in dem Gemüte des Kindes eine Unruhe erzeugen, die
die Aufmerksamkeit stört und die Fruchtbarkeit des Schulunterrichts beeinträchtigt.
Kommt dann hinzu, was ja oft genug der Fall ist, daß auch die Eltern, von
einem falschen Ehrgeiz geleitet und einer verkehrten Zeitströmung nachgebend, Fähig¬
keiten und Neigungen des Kindes uicht genügend berücksichtigen und aus ihm
durchaus etwas macheu wollen, wozu es sich nicht eignet, so treten die nachteiligen
Wirkungen einer einseitigen Überschätzung der Kenntnisse bei so einem unglücklichen
Kinde aufs deutlichste hervor. Wie mancher schlechte Schüler ist im spätern Leben
ein tüchtiger Mensch geworden. Und es wäre sehr zu wünschen, daß denen, die
nun einmal wenig Anlage oder Neigung zum Lernen haben, die bittern Erfahrungen
des „schlechten Schülers" möglichst erspart blieben, wenigstens so weit, als die
auf Forttreiben berechneten Mittel ihren Zweck verfehlen und hemmen, anstatt zu
fördern.
Diese Fragen, die früher mein Interesse weniger erregten, sind mir näher
getreten, seitdem ich selbst als Vater eines die Schule besuchenden Kindes mit der
Schule in Berührung gekommen bin und an ihm die Wirkungen des Schulunterrichts
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