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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen eines Schulvaters

habe beobachten können. Mein kleiner Sohn geht seit etwa zwei Jahren in die
Schule. Im ersten halben Jahre seiner Schulpflichtigkeit besuchte er die Schule
an meinem frühern Wohnort, von dem aus ich vor etwa anderthalb Jahren hierher,
nach einem großstädtischen Vorort, gezogen bin. Der erste Anfang schien vielver¬
sprechend zu sein. Der Kleine ging gern in die Schule und war eifrig und
Pflichttreu bei seinen Arbeiten. Von seinem Lehrer hielt er sehr viel, sah in ihm
sein Ideal und hatte herausgefunden, daß der Beruf des Lehrers ein sehr schöner
Beruf sei, den er selbst einmal erwählen möchte. Bei seinem Abgang erhielt er
ein gutes Zeugnis."

An meinem jetzigen Wohnort lasse ich meinen Sohn eine "Mittelschule be¬
suchen, während er an meinem frühern Wohnort die Gemeindeschule besuchte. Er
Muß uun schon um 7 Uhr in der Schule sein und dort bis 11 oder 12 Uhr
bleiben. Dagegen brauchte er früher nnr 2 oder 3 Stunden vormittags, und zwar
zu einer spätern Tageszeit, in die Schule zu gehen und ging dann nachmittags
wieder 2 Stunden hin; mitunter wären anch die Nachmittage frei.

Ich habe nun, zwar nicht sofort, aber doch nach einiger Zeit eine Änderung
an meinem Sohne wahrgenommen. Der bisher fo muntere Junge ist öfter übel¬
gelaunt. Das macht sich namentlich bemerkbar am Morgen, wenn er, obgleich
weitern Schloss bedürftig, früh aufstehen muß. Aber auch sonst hat sich bei ihm
mehr und mehr Unlust zum Schulbesuch eingestellt. Jedesmal in der Ferienzeit,
auch wenn er wegen leichter Erkrankung einige Tage zu Hause bleiben muß, ist er
anders. Dann scheint er wieder "der Alte" geworden zu sein; dann kehrt bei
ihm der kindliche Frohsinn zurück.

Solche Wahrnehmungen sind äußerst schmerzlich. Die Wirkungen eines ver¬
kehrten Schulplans zeigen sich hier deutlich. Ein Kind von sieben Jahren kann
sich nicht vier bis fünf Stunden lang die Aufmerksamkeit und das Interesse an den
Schulgcgenständen erhalten. Die Fähigkeiten der Kinder sind verschieden, aber im
ganze" ist es doch eine unbillige Zumutung, die damit an ein Kind gestellt wird.
Das letzte Zeugnis, das mein Sohn "ach Hause brachte, war schlecht. Es
war darin namentlich Mangel an Aufmerksamkeit hervorgehoben. Von den Lehrer"
wird mir gesagt, daß er weder unbegabt noch träge sei, daß es ihm aber offenbar
schwerer falle, als den meisten andern Kindern, dem Unterricht mit der nötigen
Aufmerksamkeit zu folgen.

Ich habe nicht den Ehrgeiz, meinen Sohn möglichst schnell vorwärts zu
bringen, am wenigsten möchte ich Fortschritte dnrch Schädigung seiner Gesundheit
erkaufen. Ich möchte ihm vor allem auch die kindliche Fröhlichkeit, die Lust zur
Schule und das Vertrauen zu deu Lehrerr bewahren. Denn ich glaube, daß das
wesentliche Erfordernisse für die Fruchtbarkeit des Schulunterrichts siud. Aber
auch wenn ich meinem Kinde nur eine" etwas bessern Unterricht geben lassen will,
als er in der Gemeindeschule erhalten würde, bekomme ich schon die Unzuträglich¬
keiten zu spüren, die das Vorwärtstreibcn zur Folge hat. Ich mache die Er¬
fahrung, daß ein von Hause aus gutbegabtes und zum Lernen williges Kind die
Lust zum Lernen verliert in dem Maße, wie a" seine Leistungen höhere Forderungen
gestellt werden. Und ich schließe daraus, daß diese Forderungen zu rasch und
ohne genügende Berücksichtigung der Natur des Kindes gesteigert werden, daß die
M lauge Ausdehnung der Unterrichtsstunden, wohl auch verkehrte Behandlung von
Seiten einzelner Lehrer diese bedauerliche Wirkung hervorgebracht haben. Aber
sogar in der hiesigen Gemeindeschule ist der Stundenplan nichts anders; nur wird
Wohl etwas langsamer mit dem Lernen vorgegangen.


Grcnzbowi 111 1896 W
Betrachtungen eines Schulvaters

habe beobachten können. Mein kleiner Sohn geht seit etwa zwei Jahren in die
Schule. Im ersten halben Jahre seiner Schulpflichtigkeit besuchte er die Schule
an meinem frühern Wohnort, von dem aus ich vor etwa anderthalb Jahren hierher,
nach einem großstädtischen Vorort, gezogen bin. Der erste Anfang schien vielver¬
sprechend zu sein. Der Kleine ging gern in die Schule und war eifrig und
Pflichttreu bei seinen Arbeiten. Von seinem Lehrer hielt er sehr viel, sah in ihm
sein Ideal und hatte herausgefunden, daß der Beruf des Lehrers ein sehr schöner
Beruf sei, den er selbst einmal erwählen möchte. Bei seinem Abgang erhielt er
ein gutes Zeugnis."

An meinem jetzigen Wohnort lasse ich meinen Sohn eine „Mittelschule be¬
suchen, während er an meinem frühern Wohnort die Gemeindeschule besuchte. Er
Muß uun schon um 7 Uhr in der Schule sein und dort bis 11 oder 12 Uhr
bleiben. Dagegen brauchte er früher nnr 2 oder 3 Stunden vormittags, und zwar
zu einer spätern Tageszeit, in die Schule zu gehen und ging dann nachmittags
wieder 2 Stunden hin; mitunter wären anch die Nachmittage frei.

Ich habe nun, zwar nicht sofort, aber doch nach einiger Zeit eine Änderung
an meinem Sohne wahrgenommen. Der bisher fo muntere Junge ist öfter übel¬
gelaunt. Das macht sich namentlich bemerkbar am Morgen, wenn er, obgleich
weitern Schloss bedürftig, früh aufstehen muß. Aber auch sonst hat sich bei ihm
mehr und mehr Unlust zum Schulbesuch eingestellt. Jedesmal in der Ferienzeit,
auch wenn er wegen leichter Erkrankung einige Tage zu Hause bleiben muß, ist er
anders. Dann scheint er wieder „der Alte" geworden zu sein; dann kehrt bei
ihm der kindliche Frohsinn zurück.

Solche Wahrnehmungen sind äußerst schmerzlich. Die Wirkungen eines ver¬
kehrten Schulplans zeigen sich hier deutlich. Ein Kind von sieben Jahren kann
sich nicht vier bis fünf Stunden lang die Aufmerksamkeit und das Interesse an den
Schulgcgenständen erhalten. Die Fähigkeiten der Kinder sind verschieden, aber im
ganze» ist es doch eine unbillige Zumutung, die damit an ein Kind gestellt wird.
Das letzte Zeugnis, das mein Sohn »ach Hause brachte, war schlecht. Es
war darin namentlich Mangel an Aufmerksamkeit hervorgehoben. Von den Lehrer»
wird mir gesagt, daß er weder unbegabt noch träge sei, daß es ihm aber offenbar
schwerer falle, als den meisten andern Kindern, dem Unterricht mit der nötigen
Aufmerksamkeit zu folgen.

Ich habe nicht den Ehrgeiz, meinen Sohn möglichst schnell vorwärts zu
bringen, am wenigsten möchte ich Fortschritte dnrch Schädigung seiner Gesundheit
erkaufen. Ich möchte ihm vor allem auch die kindliche Fröhlichkeit, die Lust zur
Schule und das Vertrauen zu deu Lehrerr bewahren. Denn ich glaube, daß das
wesentliche Erfordernisse für die Fruchtbarkeit des Schulunterrichts siud. Aber
auch wenn ich meinem Kinde nur eine» etwas bessern Unterricht geben lassen will,
als er in der Gemeindeschule erhalten würde, bekomme ich schon die Unzuträglich¬
keiten zu spüren, die das Vorwärtstreibcn zur Folge hat. Ich mache die Er¬
fahrung, daß ein von Hause aus gutbegabtes und zum Lernen williges Kind die
Lust zum Lernen verliert in dem Maße, wie a» seine Leistungen höhere Forderungen
gestellt werden. Und ich schließe daraus, daß diese Forderungen zu rasch und
ohne genügende Berücksichtigung der Natur des Kindes gesteigert werden, daß die
M lauge Ausdehnung der Unterrichtsstunden, wohl auch verkehrte Behandlung von
Seiten einzelner Lehrer diese bedauerliche Wirkung hervorgebracht haben. Aber
sogar in der hiesigen Gemeindeschule ist der Stundenplan nichts anders; nur wird
Wohl etwas langsamer mit dem Lernen vorgegangen.


Grcnzbowi 111 1896 W
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/481>, abgerufen am 24.11.2024.