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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Bühnen da. Selbst einige Bühnenhandwerker haben sich der neuen Form
bemächtigt. Es ist möglich, daß man, die hierher gehörigen Stücke Anzen-
grubers eingeschlossen, jetzt etwa zwanzig naturalistische Dramen aufbringen
kann, die, wenn auch nicht Welt und Menschenleben im großen und sub spsois
n.6tsrin, doch einzelne Kreise der Gesellschaft, das Volk, aber auch höhere
Klassen und gewisse moderne Krankheiten künstlerischen Ansprüchen genügend
darstellen. Das ist immerhin kein ganz unbedeutendes Ergebnis der natura¬
listischen Bewegung, wenn ich mir auch sagen muß, daß von einer neuen
Blüte des deutschen Dramas im Hinblick auf diese Stücke noch nicht die Rede
sein kann, kein einziges davon dem Volke ans Herz gewachsen, kein Dichter
hervorgetreten ist, der wirklich Boden in der Nation gewonnen hätte. Das
naturalistische Drama setzt eben viel mehr den Kunstkenner und Feinschmecker
voraus, als z. B. das idealistische Schillers und wird natürlich auch sehr
schnell altern.

Viel weniger Glück als mit dem naturalistischen Drama hat man mit dem
naturalistischen Roman gehabt. Trägt man Bedenken, Theodor Fontanes
Romane naturalistisch zu nennen -- und sie sind es jedenfalls nicht im Schul¬
sinne --, so kann man ruhig behaupten, daß keiner der naturalistischen Roman¬
dichter eine größere Wirkung und eine Stellung in seinem Volke, wie sie die
ältern Romandichter fast sämtlich erhielten, und kaum ein Roman einen
durchschlagenden Erfolg erzielt hat. Und wie hätte das auch geschehen sollen,
blieb man doch in der übersichtlichen Darstellung der Zeitbcwegungen ganz
unbedingt hinter den Dichtern des alten Zeitromans, Gutzkow und Spielhagen,
zurück, erreichte man doch, gleichsam an den Schmutz der Großstadt gebannt,
nicht einmal die Vielseitigkeit und Lebendigkeit der alten Münchner Poeten! Die
Zahl freilich der naturalistische" Romane schwoll ins Unendliche, aber außer
Sudermanns Werken, die ja nicht konsequent-naturalistisch waren und Mode
wurden, erhielt kaum einer die zweite Auflage. Außer Kretzer, Bleibtreu, Conrad,
Alberti, Bahr, die bereits hinreichend charakterisirt sind, wären hier etwa noch
Hans Land (geb. 1861 zu Berlin), Wilhelm von Potenz (geb. 1861 zu Ober-
Cunewalde) und Oskar Mysing (Otto Mora, geb. 1867 zu Bremen) zu nennen.
Heinz Tovote und Georg von Ompteda, die hübsche Erfolge hatten, gehören
nicht zu den echten Naturalisten, sondern sind eher zur Spätdecadence zu
rechnen. Ohne Einfluß blieb der Naturalismus auf keinen der deutschen Roman¬
dichter und Novellisten, selbst Paul Hesse entzog sich ihm nicht, und manche
der ältern Dichter, wie z. V. Karl Heigel und Karl von Perfall, haben natura¬
listisch angehauchte Werke geschrieben, die dem Leben ganz anders gerecht
werden als die Mehrzahl der Schnlprodukte. Der naturalistische Durchschnitts-
roman behandelte natürlich noch viel ausschließlicher und selbstverständlich
auch breiter als das Drama die Schattenseiten der modernen Kultur, vor allem
die des großstädtischen Lebens, wies alle Schwächen der Zolaschen Romane


Die Alten und die Jungen

Bühnen da. Selbst einige Bühnenhandwerker haben sich der neuen Form
bemächtigt. Es ist möglich, daß man, die hierher gehörigen Stücke Anzen-
grubers eingeschlossen, jetzt etwa zwanzig naturalistische Dramen aufbringen
kann, die, wenn auch nicht Welt und Menschenleben im großen und sub spsois
n.6tsrin, doch einzelne Kreise der Gesellschaft, das Volk, aber auch höhere
Klassen und gewisse moderne Krankheiten künstlerischen Ansprüchen genügend
darstellen. Das ist immerhin kein ganz unbedeutendes Ergebnis der natura¬
listischen Bewegung, wenn ich mir auch sagen muß, daß von einer neuen
Blüte des deutschen Dramas im Hinblick auf diese Stücke noch nicht die Rede
sein kann, kein einziges davon dem Volke ans Herz gewachsen, kein Dichter
hervorgetreten ist, der wirklich Boden in der Nation gewonnen hätte. Das
naturalistische Drama setzt eben viel mehr den Kunstkenner und Feinschmecker
voraus, als z. B. das idealistische Schillers und wird natürlich auch sehr
schnell altern.

Viel weniger Glück als mit dem naturalistischen Drama hat man mit dem
naturalistischen Roman gehabt. Trägt man Bedenken, Theodor Fontanes
Romane naturalistisch zu nennen — und sie sind es jedenfalls nicht im Schul¬
sinne —, so kann man ruhig behaupten, daß keiner der naturalistischen Roman¬
dichter eine größere Wirkung und eine Stellung in seinem Volke, wie sie die
ältern Romandichter fast sämtlich erhielten, und kaum ein Roman einen
durchschlagenden Erfolg erzielt hat. Und wie hätte das auch geschehen sollen,
blieb man doch in der übersichtlichen Darstellung der Zeitbcwegungen ganz
unbedingt hinter den Dichtern des alten Zeitromans, Gutzkow und Spielhagen,
zurück, erreichte man doch, gleichsam an den Schmutz der Großstadt gebannt,
nicht einmal die Vielseitigkeit und Lebendigkeit der alten Münchner Poeten! Die
Zahl freilich der naturalistische» Romane schwoll ins Unendliche, aber außer
Sudermanns Werken, die ja nicht konsequent-naturalistisch waren und Mode
wurden, erhielt kaum einer die zweite Auflage. Außer Kretzer, Bleibtreu, Conrad,
Alberti, Bahr, die bereits hinreichend charakterisirt sind, wären hier etwa noch
Hans Land (geb. 1861 zu Berlin), Wilhelm von Potenz (geb. 1861 zu Ober-
Cunewalde) und Oskar Mysing (Otto Mora, geb. 1867 zu Bremen) zu nennen.
Heinz Tovote und Georg von Ompteda, die hübsche Erfolge hatten, gehören
nicht zu den echten Naturalisten, sondern sind eher zur Spätdecadence zu
rechnen. Ohne Einfluß blieb der Naturalismus auf keinen der deutschen Roman¬
dichter und Novellisten, selbst Paul Hesse entzog sich ihm nicht, und manche
der ältern Dichter, wie z. V. Karl Heigel und Karl von Perfall, haben natura¬
listisch angehauchte Werke geschrieben, die dem Leben ganz anders gerecht
werden als die Mehrzahl der Schnlprodukte. Der naturalistische Durchschnitts-
roman behandelte natürlich noch viel ausschließlicher und selbstverständlich
auch breiter als das Drama die Schattenseiten der modernen Kultur, vor allem
die des großstädtischen Lebens, wies alle Schwächen der Zolaschen Romane


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[0470] Die Alten und die Jungen Bühnen da. Selbst einige Bühnenhandwerker haben sich der neuen Form bemächtigt. Es ist möglich, daß man, die hierher gehörigen Stücke Anzen- grubers eingeschlossen, jetzt etwa zwanzig naturalistische Dramen aufbringen kann, die, wenn auch nicht Welt und Menschenleben im großen und sub spsois n.6tsrin, doch einzelne Kreise der Gesellschaft, das Volk, aber auch höhere Klassen und gewisse moderne Krankheiten künstlerischen Ansprüchen genügend darstellen. Das ist immerhin kein ganz unbedeutendes Ergebnis der natura¬ listischen Bewegung, wenn ich mir auch sagen muß, daß von einer neuen Blüte des deutschen Dramas im Hinblick auf diese Stücke noch nicht die Rede sein kann, kein einziges davon dem Volke ans Herz gewachsen, kein Dichter hervorgetreten ist, der wirklich Boden in der Nation gewonnen hätte. Das naturalistische Drama setzt eben viel mehr den Kunstkenner und Feinschmecker voraus, als z. B. das idealistische Schillers und wird natürlich auch sehr schnell altern. Viel weniger Glück als mit dem naturalistischen Drama hat man mit dem naturalistischen Roman gehabt. Trägt man Bedenken, Theodor Fontanes Romane naturalistisch zu nennen — und sie sind es jedenfalls nicht im Schul¬ sinne —, so kann man ruhig behaupten, daß keiner der naturalistischen Roman¬ dichter eine größere Wirkung und eine Stellung in seinem Volke, wie sie die ältern Romandichter fast sämtlich erhielten, und kaum ein Roman einen durchschlagenden Erfolg erzielt hat. Und wie hätte das auch geschehen sollen, blieb man doch in der übersichtlichen Darstellung der Zeitbcwegungen ganz unbedingt hinter den Dichtern des alten Zeitromans, Gutzkow und Spielhagen, zurück, erreichte man doch, gleichsam an den Schmutz der Großstadt gebannt, nicht einmal die Vielseitigkeit und Lebendigkeit der alten Münchner Poeten! Die Zahl freilich der naturalistische» Romane schwoll ins Unendliche, aber außer Sudermanns Werken, die ja nicht konsequent-naturalistisch waren und Mode wurden, erhielt kaum einer die zweite Auflage. Außer Kretzer, Bleibtreu, Conrad, Alberti, Bahr, die bereits hinreichend charakterisirt sind, wären hier etwa noch Hans Land (geb. 1861 zu Berlin), Wilhelm von Potenz (geb. 1861 zu Ober- Cunewalde) und Oskar Mysing (Otto Mora, geb. 1867 zu Bremen) zu nennen. Heinz Tovote und Georg von Ompteda, die hübsche Erfolge hatten, gehören nicht zu den echten Naturalisten, sondern sind eher zur Spätdecadence zu rechnen. Ohne Einfluß blieb der Naturalismus auf keinen der deutschen Roman¬ dichter und Novellisten, selbst Paul Hesse entzog sich ihm nicht, und manche der ältern Dichter, wie z. V. Karl Heigel und Karl von Perfall, haben natura¬ listisch angehauchte Werke geschrieben, die dem Leben ganz anders gerecht werden als die Mehrzahl der Schnlprodukte. Der naturalistische Durchschnitts- roman behandelte natürlich noch viel ausschließlicher und selbstverständlich auch breiter als das Drama die Schattenseiten der modernen Kultur, vor allem die des großstädtischen Lebens, wies alle Schwächen der Zolaschen Romane

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/470>, abgerufen am 01.09.2024.