Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

deutsche Litteratur uach und nach wieder vom Ausland unabhängig geworden
ist und Werke von selbständiger Bedeutung hervorgebracht hat. Mag die
geistige Verwandtschaft der Weber etwa mit Zolas "Germinal" immer noch
näher sein als die des "Werther" zur "Neuen Heloise," sicher wird niemand
Hnnptmann deswegen noch einen Schüler Zolas nennen können. Auch blieb
Hauptmann nicht allein, es traten neben ihm andre selbständige Talente hervor.
Die größte Hoffnung von ihnen hat Max Halbe (geb. 1865 zu Guettland) erregt,
der in seiner "Jugend" ein unzweifelhaft bleibendes Werk geschaffen hat, das
nach der Seite der Stimmung über Hauptmann hinausgeht. Auch die
"Jugend" ist keine Tragödie, und manchem erscheint das Rasen der sinnlichen
Leidenschaft in den jungen Leuten unerquicklich, vor allem undeutsch, aber das
Stück spielt ja auch auf slawischen Boden, und da nun doch vielleicht ein Drittel
der Bewohner des deutschen Reiches slawisches Blut in den Adern hat, so
kann die deutsche Litteratur Darstellungen dieser Art, zumal wenn sie wie
die "Jugend" künstlerisch hoch stehen, doch wohl nicht gut verschlossen werden-
Wenn man sich an dem, was jugendfrisch und rührend in des französischen
Abbvs Prevost "Menon Leseaut" ist, entzückt, weshalb ein doch im ganzen
harmloses deutsches Werk nicht gelten lassen! Übrigens spielt, wie ich hervor¬
zuheben nicht vergessen darf, das slawische Blut in den Dichtern des Natu¬
ralismus und die Darstellung des halbslawischen Lebens in der neusten Litteratur
keine geringe Rolle, und ich bin gar nicht abgeneigt, die gegenwärtige deutsche
Dichtung als wesentlich ostdeutsche, ostelbische zu bezeichnen und aus der
Rassenkreuzung sehr vieles zu erklären. Von den bisher genannten Dichtern
sind Hauptmann, Halbe, Sudermann. Max Kretzer, Arno Holz, M. v. Stern,
E. v. Wolzogen Ostdeutsche, und ihnen schließen sich noch manche jüngere
wie Karl Busse an.

Außer Hauptmann und Halbe ist noch eine ganze Reihe von Verfassern
naturalistischer Dramen zu nennen, zunächst Holz und Schlaf mit der "Familie
Selicke," Schlaf allein mit "Meister Ölze," Wildenbruch mit der "Haubenlerche"
und "Meister Balzer," Fulda mit dem "Verlornen Paradies" und der "Sklavin,"
auch Bahr und Alberti mit einigen Stücken. Bisher noch u'ehe erwähnt,
obwohl er bereits zu den "Modernen Dichtercharakteren" zählte, ist Otto Erich
Hartleben (geb. 1864 zu Clausthal), der "Angela" und "Hanna Jagert" ge¬
schrieben hat. Ihm gleichaltrig ist Cäsar Flaischlen (geb. 1864 zu Stuttgart)
mit seinen Dramen "Toni Stürmer" und "Martin Lehnhardt." Von neuer¬
dings zu Ansehen gelangten Talenten wären etwa Arthur Schnitzler (geb. 1862
zu Wien), dessen "Liebelei" fast über alle deutschen Bühnen gegangen ist, und
Georg Hirschfeld (geb. 1873 zu Berlin) mit seinem Schauspiel "D:e Mütter"
zu nennen. Den einen oder den andern Versuch mit einem naturalistischen
Drama haben zahlreiche Schriftsteller gemacht; es war das ja eine Zeit lang
Mode, und wenn die öffentlichen Theater versagten, so waren die "freien"


deutsche Litteratur uach und nach wieder vom Ausland unabhängig geworden
ist und Werke von selbständiger Bedeutung hervorgebracht hat. Mag die
geistige Verwandtschaft der Weber etwa mit Zolas „Germinal" immer noch
näher sein als die des „Werther" zur „Neuen Heloise," sicher wird niemand
Hnnptmann deswegen noch einen Schüler Zolas nennen können. Auch blieb
Hauptmann nicht allein, es traten neben ihm andre selbständige Talente hervor.
Die größte Hoffnung von ihnen hat Max Halbe (geb. 1865 zu Guettland) erregt,
der in seiner „Jugend" ein unzweifelhaft bleibendes Werk geschaffen hat, das
nach der Seite der Stimmung über Hauptmann hinausgeht. Auch die
„Jugend" ist keine Tragödie, und manchem erscheint das Rasen der sinnlichen
Leidenschaft in den jungen Leuten unerquicklich, vor allem undeutsch, aber das
Stück spielt ja auch auf slawischen Boden, und da nun doch vielleicht ein Drittel
der Bewohner des deutschen Reiches slawisches Blut in den Adern hat, so
kann die deutsche Litteratur Darstellungen dieser Art, zumal wenn sie wie
die „Jugend" künstlerisch hoch stehen, doch wohl nicht gut verschlossen werden-
Wenn man sich an dem, was jugendfrisch und rührend in des französischen
Abbvs Prevost „Menon Leseaut" ist, entzückt, weshalb ein doch im ganzen
harmloses deutsches Werk nicht gelten lassen! Übrigens spielt, wie ich hervor¬
zuheben nicht vergessen darf, das slawische Blut in den Dichtern des Natu¬
ralismus und die Darstellung des halbslawischen Lebens in der neusten Litteratur
keine geringe Rolle, und ich bin gar nicht abgeneigt, die gegenwärtige deutsche
Dichtung als wesentlich ostdeutsche, ostelbische zu bezeichnen und aus der
Rassenkreuzung sehr vieles zu erklären. Von den bisher genannten Dichtern
sind Hauptmann, Halbe, Sudermann. Max Kretzer, Arno Holz, M. v. Stern,
E. v. Wolzogen Ostdeutsche, und ihnen schließen sich noch manche jüngere
wie Karl Busse an.

Außer Hauptmann und Halbe ist noch eine ganze Reihe von Verfassern
naturalistischer Dramen zu nennen, zunächst Holz und Schlaf mit der „Familie
Selicke," Schlaf allein mit „Meister Ölze," Wildenbruch mit der „Haubenlerche"
und „Meister Balzer," Fulda mit dem „Verlornen Paradies" und der „Sklavin,"
auch Bahr und Alberti mit einigen Stücken. Bisher noch u'ehe erwähnt,
obwohl er bereits zu den „Modernen Dichtercharakteren" zählte, ist Otto Erich
Hartleben (geb. 1864 zu Clausthal), der „Angela" und „Hanna Jagert" ge¬
schrieben hat. Ihm gleichaltrig ist Cäsar Flaischlen (geb. 1864 zu Stuttgart)
mit seinen Dramen „Toni Stürmer" und „Martin Lehnhardt." Von neuer¬
dings zu Ansehen gelangten Talenten wären etwa Arthur Schnitzler (geb. 1862
zu Wien), dessen „Liebelei" fast über alle deutschen Bühnen gegangen ist, und
Georg Hirschfeld (geb. 1873 zu Berlin) mit seinem Schauspiel „D:e Mütter"
zu nennen. Den einen oder den andern Versuch mit einem naturalistischen
Drama haben zahlreiche Schriftsteller gemacht; es war das ja eine Zeit lang
Mode, und wenn die öffentlichen Theater versagten, so waren die „freien"


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0469" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223411"/>
            <fw type="header" place="top"/><lb/>
            <p xml:id="ID_1325" prev="#ID_1324"> deutsche Litteratur uach und nach wieder vom Ausland unabhängig geworden<lb/>
ist und Werke von selbständiger Bedeutung hervorgebracht hat. Mag die<lb/>
geistige Verwandtschaft der Weber etwa mit Zolas &#x201E;Germinal" immer noch<lb/>
näher sein als die des &#x201E;Werther" zur &#x201E;Neuen Heloise," sicher wird niemand<lb/>
Hnnptmann deswegen noch einen Schüler Zolas nennen können. Auch blieb<lb/>
Hauptmann nicht allein, es traten neben ihm andre selbständige Talente hervor.<lb/>
Die größte Hoffnung von ihnen hat Max Halbe (geb. 1865 zu Guettland) erregt,<lb/>
der in seiner &#x201E;Jugend" ein unzweifelhaft bleibendes Werk geschaffen hat, das<lb/>
nach der Seite der Stimmung über Hauptmann hinausgeht. Auch die<lb/>
&#x201E;Jugend" ist keine Tragödie, und manchem erscheint das Rasen der sinnlichen<lb/>
Leidenschaft in den jungen Leuten unerquicklich, vor allem undeutsch, aber das<lb/>
Stück spielt ja auch auf slawischen Boden, und da nun doch vielleicht ein Drittel<lb/>
der Bewohner des deutschen Reiches slawisches Blut in den Adern hat, so<lb/>
kann die deutsche Litteratur Darstellungen dieser Art, zumal wenn sie wie<lb/>
die &#x201E;Jugend" künstlerisch hoch stehen, doch wohl nicht gut verschlossen werden-<lb/>
Wenn man sich an dem, was jugendfrisch und rührend in des französischen<lb/>
Abbvs Prevost &#x201E;Menon Leseaut" ist, entzückt, weshalb ein doch im ganzen<lb/>
harmloses deutsches Werk nicht gelten lassen! Übrigens spielt, wie ich hervor¬<lb/>
zuheben nicht vergessen darf, das slawische Blut in den Dichtern des Natu¬<lb/>
ralismus und die Darstellung des halbslawischen Lebens in der neusten Litteratur<lb/>
keine geringe Rolle, und ich bin gar nicht abgeneigt, die gegenwärtige deutsche<lb/>
Dichtung als wesentlich ostdeutsche, ostelbische zu bezeichnen und aus der<lb/>
Rassenkreuzung sehr vieles zu erklären. Von den bisher genannten Dichtern<lb/>
sind Hauptmann, Halbe, Sudermann. Max Kretzer, Arno Holz, M. v. Stern,<lb/>
E. v. Wolzogen Ostdeutsche, und ihnen schließen sich noch manche jüngere<lb/>
wie Karl Busse an.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1326" next="#ID_1327"> Außer Hauptmann und Halbe ist noch eine ganze Reihe von Verfassern<lb/>
naturalistischer Dramen zu nennen, zunächst Holz und Schlaf mit der &#x201E;Familie<lb/>
Selicke," Schlaf allein mit &#x201E;Meister Ölze," Wildenbruch mit der &#x201E;Haubenlerche"<lb/>
und &#x201E;Meister Balzer," Fulda mit dem &#x201E;Verlornen Paradies" und der &#x201E;Sklavin,"<lb/>
auch Bahr und Alberti mit einigen Stücken. Bisher noch u'ehe erwähnt,<lb/>
obwohl er bereits zu den &#x201E;Modernen Dichtercharakteren" zählte, ist Otto Erich<lb/>
Hartleben (geb. 1864 zu Clausthal), der &#x201E;Angela" und &#x201E;Hanna Jagert" ge¬<lb/>
schrieben hat. Ihm gleichaltrig ist Cäsar Flaischlen (geb. 1864 zu Stuttgart)<lb/>
mit seinen Dramen &#x201E;Toni Stürmer" und &#x201E;Martin Lehnhardt." Von neuer¬<lb/>
dings zu Ansehen gelangten Talenten wären etwa Arthur Schnitzler (geb. 1862<lb/>
zu Wien), dessen &#x201E;Liebelei" fast über alle deutschen Bühnen gegangen ist, und<lb/>
Georg Hirschfeld (geb. 1873 zu Berlin) mit seinem Schauspiel &#x201E;D:e Mütter"<lb/>
zu nennen. Den einen oder den andern Versuch mit einem naturalistischen<lb/>
Drama haben zahlreiche Schriftsteller gemacht; es war das ja eine Zeit lang<lb/>
Mode, und wenn die öffentlichen Theater versagten, so waren die &#x201E;freien"</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0469] deutsche Litteratur uach und nach wieder vom Ausland unabhängig geworden ist und Werke von selbständiger Bedeutung hervorgebracht hat. Mag die geistige Verwandtschaft der Weber etwa mit Zolas „Germinal" immer noch näher sein als die des „Werther" zur „Neuen Heloise," sicher wird niemand Hnnptmann deswegen noch einen Schüler Zolas nennen können. Auch blieb Hauptmann nicht allein, es traten neben ihm andre selbständige Talente hervor. Die größte Hoffnung von ihnen hat Max Halbe (geb. 1865 zu Guettland) erregt, der in seiner „Jugend" ein unzweifelhaft bleibendes Werk geschaffen hat, das nach der Seite der Stimmung über Hauptmann hinausgeht. Auch die „Jugend" ist keine Tragödie, und manchem erscheint das Rasen der sinnlichen Leidenschaft in den jungen Leuten unerquicklich, vor allem undeutsch, aber das Stück spielt ja auch auf slawischen Boden, und da nun doch vielleicht ein Drittel der Bewohner des deutschen Reiches slawisches Blut in den Adern hat, so kann die deutsche Litteratur Darstellungen dieser Art, zumal wenn sie wie die „Jugend" künstlerisch hoch stehen, doch wohl nicht gut verschlossen werden- Wenn man sich an dem, was jugendfrisch und rührend in des französischen Abbvs Prevost „Menon Leseaut" ist, entzückt, weshalb ein doch im ganzen harmloses deutsches Werk nicht gelten lassen! Übrigens spielt, wie ich hervor¬ zuheben nicht vergessen darf, das slawische Blut in den Dichtern des Natu¬ ralismus und die Darstellung des halbslawischen Lebens in der neusten Litteratur keine geringe Rolle, und ich bin gar nicht abgeneigt, die gegenwärtige deutsche Dichtung als wesentlich ostdeutsche, ostelbische zu bezeichnen und aus der Rassenkreuzung sehr vieles zu erklären. Von den bisher genannten Dichtern sind Hauptmann, Halbe, Sudermann. Max Kretzer, Arno Holz, M. v. Stern, E. v. Wolzogen Ostdeutsche, und ihnen schließen sich noch manche jüngere wie Karl Busse an. Außer Hauptmann und Halbe ist noch eine ganze Reihe von Verfassern naturalistischer Dramen zu nennen, zunächst Holz und Schlaf mit der „Familie Selicke," Schlaf allein mit „Meister Ölze," Wildenbruch mit der „Haubenlerche" und „Meister Balzer," Fulda mit dem „Verlornen Paradies" und der „Sklavin," auch Bahr und Alberti mit einigen Stücken. Bisher noch u'ehe erwähnt, obwohl er bereits zu den „Modernen Dichtercharakteren" zählte, ist Otto Erich Hartleben (geb. 1864 zu Clausthal), der „Angela" und „Hanna Jagert" ge¬ schrieben hat. Ihm gleichaltrig ist Cäsar Flaischlen (geb. 1864 zu Stuttgart) mit seinen Dramen „Toni Stürmer" und „Martin Lehnhardt." Von neuer¬ dings zu Ansehen gelangten Talenten wären etwa Arthur Schnitzler (geb. 1862 zu Wien), dessen „Liebelei" fast über alle deutschen Bühnen gegangen ist, und Georg Hirschfeld (geb. 1873 zu Berlin) mit seinem Schauspiel „D:e Mütter" zu nennen. Den einen oder den andern Versuch mit einem naturalistischen Drama haben zahlreiche Schriftsteller gemacht; es war das ja eine Zeit lang Mode, und wenn die öffentlichen Theater versagten, so waren die „freien"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/469
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/469>, abgerufen am 01.09.2024.