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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

auf, aber kaum einen seiner Vorzüge. Eher als auf dem Gebiete des Romans
wurde auf dem der kleinen Erzählung und Skizze bemerkenswertes geleistet,
zumal als man aufhörte, ausschließlich die Großstadt zum Schauplatz seiner
Darstellungen zu wählen und aufs Land hinaus ging. In Cäsar Flaischlens
Sammelbuch "Neuland" (1894) wurde der Gesichtspunkt der Stammeseigenart
sogar zum ausschlaggebenden erhoben, und einzelne der jüngern Dichter,
Flaischlen selbst, dann der frühverstorbne Julius Petri (geb. zu Lippstadt in
Westfalen 1868, geht. 1894) haben mit Vorliebe heimatliche Menschen und
Zustünde geschildert. Nimmt man den Rahmen etwas weiter, so kann man
hier vielleicht sogar Talente wie Ilse Frcipan und Charlotte Niese erwähnen.
Neuerdings hat auch der gewöhnliche Frauen-, also der belletristische Durch¬
schnittsroman eine naturalistische Wendung durchgemacht, kaum ein Zeitungs¬
roman, der nicht das eine oder das andre naturalistische enthielte. Nun, der
Geist ist doch derselbe geblieben, der Naturalismus ist nur Verputzung.

Ganz ohne Zweifel war der Naturalismus die litterarische Richtung, in
die der neue Sturm und Drang mit Naturnotwendigkeit auslaufen mußte, er
fand auch in Deutschland nach und nach die deutsche Form, aber eine
große Einseitigkeit blieb er doch; niemals ist eine engere ästhetische Theorie
entwickelt worden als die seinige, niemals hat vielleicht auch eine Litteratur
einen so einförmigen Charakter getragen. Aber ich habe hier nicht die Aufgabe,
eine ästhetische Kritik des Naturalismus zu geben, sondern ihn zunächst nur
geschichtlich begreifbar zu machen. Er war die Reaktion auf die Poesie der
Konvention, die Schwarzfärberei nach der Schönfärberei, er war zugleich auch
die Dichtung der sozialen Tendenz, der Versuch, die Decadence durch getreue
Spiegelung der Verderbnis und Einführung bestimmter Bestrebungen zu über¬
winden. Schon aus der sozialen Tendenz erklärt sich, daß man so hohen
Wert auf die "Wissenschaftlichkeit" der neuen Kunstwerke, ihre Brauchbarkeit als
Äooumsut" 1minNN8 legte, und auch, weswegen man in Deutschland gerade die
unmittelbar wirkende dramatische Form begünstigte, obwohl ein spezifisch
dramatisches Talent kaum verHanden war, und gelungne Aufführungen
naturalistischer Werke nach der Art der Stücke und der von der Mitwirkung
der Illusion möglichst absehenden thörichten naturalistischen Theorie stets
Zufall bleiben mußten. Zuzugeben ist, daß die jungen deutschen Dichter
schneller, als mau Hütte denken sollen, wieder sehen und auch mit wirklicher
Energie darstellen lernten, wenn sie auch über das Sehen und Darstellen der
Obcrflüche der Dinge und der schreienden Gegensatze modernen Lebens nicht
hinauskamen und sich nach und nach auch wieder naturalistische Schablonen
ausbildeten. Das Stoffliche und Technische der Kunst wurde die Hauptsache
und mußte es wohl einmal werden, da das Alte nach Stoff und Form ab¬
gebraucht war. Nur schade, daß nun nicht wirklich große Persönlichkeiten
auftraten, die das neugewonnene im Dienste der Kunst benutzten! Aber wenn


Die Alten und die Jungen

auf, aber kaum einen seiner Vorzüge. Eher als auf dem Gebiete des Romans
wurde auf dem der kleinen Erzählung und Skizze bemerkenswertes geleistet,
zumal als man aufhörte, ausschließlich die Großstadt zum Schauplatz seiner
Darstellungen zu wählen und aufs Land hinaus ging. In Cäsar Flaischlens
Sammelbuch „Neuland" (1894) wurde der Gesichtspunkt der Stammeseigenart
sogar zum ausschlaggebenden erhoben, und einzelne der jüngern Dichter,
Flaischlen selbst, dann der frühverstorbne Julius Petri (geb. zu Lippstadt in
Westfalen 1868, geht. 1894) haben mit Vorliebe heimatliche Menschen und
Zustünde geschildert. Nimmt man den Rahmen etwas weiter, so kann man
hier vielleicht sogar Talente wie Ilse Frcipan und Charlotte Niese erwähnen.
Neuerdings hat auch der gewöhnliche Frauen-, also der belletristische Durch¬
schnittsroman eine naturalistische Wendung durchgemacht, kaum ein Zeitungs¬
roman, der nicht das eine oder das andre naturalistische enthielte. Nun, der
Geist ist doch derselbe geblieben, der Naturalismus ist nur Verputzung.

Ganz ohne Zweifel war der Naturalismus die litterarische Richtung, in
die der neue Sturm und Drang mit Naturnotwendigkeit auslaufen mußte, er
fand auch in Deutschland nach und nach die deutsche Form, aber eine
große Einseitigkeit blieb er doch; niemals ist eine engere ästhetische Theorie
entwickelt worden als die seinige, niemals hat vielleicht auch eine Litteratur
einen so einförmigen Charakter getragen. Aber ich habe hier nicht die Aufgabe,
eine ästhetische Kritik des Naturalismus zu geben, sondern ihn zunächst nur
geschichtlich begreifbar zu machen. Er war die Reaktion auf die Poesie der
Konvention, die Schwarzfärberei nach der Schönfärberei, er war zugleich auch
die Dichtung der sozialen Tendenz, der Versuch, die Decadence durch getreue
Spiegelung der Verderbnis und Einführung bestimmter Bestrebungen zu über¬
winden. Schon aus der sozialen Tendenz erklärt sich, daß man so hohen
Wert auf die „Wissenschaftlichkeit" der neuen Kunstwerke, ihre Brauchbarkeit als
Äooumsut« 1minNN8 legte, und auch, weswegen man in Deutschland gerade die
unmittelbar wirkende dramatische Form begünstigte, obwohl ein spezifisch
dramatisches Talent kaum verHanden war, und gelungne Aufführungen
naturalistischer Werke nach der Art der Stücke und der von der Mitwirkung
der Illusion möglichst absehenden thörichten naturalistischen Theorie stets
Zufall bleiben mußten. Zuzugeben ist, daß die jungen deutschen Dichter
schneller, als mau Hütte denken sollen, wieder sehen und auch mit wirklicher
Energie darstellen lernten, wenn sie auch über das Sehen und Darstellen der
Obcrflüche der Dinge und der schreienden Gegensatze modernen Lebens nicht
hinauskamen und sich nach und nach auch wieder naturalistische Schablonen
ausbildeten. Das Stoffliche und Technische der Kunst wurde die Hauptsache
und mußte es wohl einmal werden, da das Alte nach Stoff und Form ab¬
gebraucht war. Nur schade, daß nun nicht wirklich große Persönlichkeiten
auftraten, die das neugewonnene im Dienste der Kunst benutzten! Aber wenn


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[0471] Die Alten und die Jungen auf, aber kaum einen seiner Vorzüge. Eher als auf dem Gebiete des Romans wurde auf dem der kleinen Erzählung und Skizze bemerkenswertes geleistet, zumal als man aufhörte, ausschließlich die Großstadt zum Schauplatz seiner Darstellungen zu wählen und aufs Land hinaus ging. In Cäsar Flaischlens Sammelbuch „Neuland" (1894) wurde der Gesichtspunkt der Stammeseigenart sogar zum ausschlaggebenden erhoben, und einzelne der jüngern Dichter, Flaischlen selbst, dann der frühverstorbne Julius Petri (geb. zu Lippstadt in Westfalen 1868, geht. 1894) haben mit Vorliebe heimatliche Menschen und Zustünde geschildert. Nimmt man den Rahmen etwas weiter, so kann man hier vielleicht sogar Talente wie Ilse Frcipan und Charlotte Niese erwähnen. Neuerdings hat auch der gewöhnliche Frauen-, also der belletristische Durch¬ schnittsroman eine naturalistische Wendung durchgemacht, kaum ein Zeitungs¬ roman, der nicht das eine oder das andre naturalistische enthielte. Nun, der Geist ist doch derselbe geblieben, der Naturalismus ist nur Verputzung. Ganz ohne Zweifel war der Naturalismus die litterarische Richtung, in die der neue Sturm und Drang mit Naturnotwendigkeit auslaufen mußte, er fand auch in Deutschland nach und nach die deutsche Form, aber eine große Einseitigkeit blieb er doch; niemals ist eine engere ästhetische Theorie entwickelt worden als die seinige, niemals hat vielleicht auch eine Litteratur einen so einförmigen Charakter getragen. Aber ich habe hier nicht die Aufgabe, eine ästhetische Kritik des Naturalismus zu geben, sondern ihn zunächst nur geschichtlich begreifbar zu machen. Er war die Reaktion auf die Poesie der Konvention, die Schwarzfärberei nach der Schönfärberei, er war zugleich auch die Dichtung der sozialen Tendenz, der Versuch, die Decadence durch getreue Spiegelung der Verderbnis und Einführung bestimmter Bestrebungen zu über¬ winden. Schon aus der sozialen Tendenz erklärt sich, daß man so hohen Wert auf die „Wissenschaftlichkeit" der neuen Kunstwerke, ihre Brauchbarkeit als Äooumsut« 1minNN8 legte, und auch, weswegen man in Deutschland gerade die unmittelbar wirkende dramatische Form begünstigte, obwohl ein spezifisch dramatisches Talent kaum verHanden war, und gelungne Aufführungen naturalistischer Werke nach der Art der Stücke und der von der Mitwirkung der Illusion möglichst absehenden thörichten naturalistischen Theorie stets Zufall bleiben mußten. Zuzugeben ist, daß die jungen deutschen Dichter schneller, als mau Hütte denken sollen, wieder sehen und auch mit wirklicher Energie darstellen lernten, wenn sie auch über das Sehen und Darstellen der Obcrflüche der Dinge und der schreienden Gegensatze modernen Lebens nicht hinauskamen und sich nach und nach auch wieder naturalistische Schablonen ausbildeten. Das Stoffliche und Technische der Kunst wurde die Hauptsache und mußte es wohl einmal werden, da das Alte nach Stoff und Form ab¬ gebraucht war. Nur schade, daß nun nicht wirklich große Persönlichkeiten auftraten, die das neugewonnene im Dienste der Kunst benutzten! Aber wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/471>, abgerufen am 01.09.2024.