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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Wiedergabe des "Milieu" und dem dogmatischen Zuge, der Lenz gegen die Hof¬
meister polemisiren läßt wie Hauptmann gegen den Alkohol und die Jugend¬
sünden, ich habe die pfälzischen Idyllen des Malers Müller im Auge, die in
der Wiedergabe eines beliebigen Stückes Leben, in der Anwendung der Sprache
der Wirklichkeit und teilweise des Dialekts ganz genau der modernen natura¬
listischen Form entsprechen, auch insofern, als sie der Akt- und Szenen¬
einteilung ermangeln, die ja auch bei den modernen Dramen nur ein Zugeständnis
an die Bühne ist. In der Behandlung der Charakteristik und der Sprache hat
Hauptmann ferner in Elias Niebergall, dem Dichter des "Datterich," der
berühmten Dcirmstädtcr Lokalposfe, die aber in der That ein vorzügliches
Zeit- und Charakerbild ist (vergl. Georg Fuchs, Ernst Elias Niebergalls
dramatische Werke, Einleitung. Darmstadt, 1894), einen Vorgänger. Ich führe
diese Dinge an, nicht um dem naturalistischen Drama die Originalität abzu¬
sprechen, sondern um zu zeigen, daß es eine natürlich gewachsene Form ist.
Aber es ist keine Haupt-, sondern eine Nebenform, die hart an der Grenze
des Dramas steht und die eigentliche Tragik ausschließt; für die Genauigkeit
der Schilderung und die sorgfältige äußere Charakteristik müssen wir stets
schlechte psychologische Motivirung und die Verfehlung des Kerns der Menschen¬
natur hinnehmen, und das Typische geht stets völlig verloren. Man fühlt
sich an die Porträtkunst Denners erinnert, der jede Runzel, jedes Härchen
malte, darüber aber den Charakter des Gesichts verfehlte; das Beispiel über¬
hebt mich auch der Notwendigkeit, meine Behauptungen weitläuftig zu begründen.
Die Menschen in Hauptmanns Dramen bestehen im Grunde nur aus Weich¬
teilen und Nerven, Knochen haben sie samt und sonders nicht, und daher
kommt es auch, daß man ihnen nicht einmal die einfache Glaubwürdigkeit zu¬
zugestehen braucht, abgesehen davon, daß die Mediziner Hauptmanns Kranken¬
bildern die Wahrheit abgesprochen haben. Jeder einzelne Zug ist wahr und
oft genug fein beobachtet, aber das Ganze stimmt doch nicht, es sind künstlerisch
schwankende Gestalten. Ich entsinne mich, einmal ein künstlerisches Selbst¬
bekenntnis Hauptmanns gelesen zu haben, aus dem mir Hervorzugeheu schien,
daß er nicht wie die meisten großen Dichter zuerst seine Menschen in der
Totalität habe, und es ist jedenfalls nicht zufällig, daß er Dramen ohne
Helden wie die "Weber" schreibt. Hier scheint mir der Mangel seines Talents
zu stecken: er sieht wunderbar, aber seine Phantasie schafft nicht, und so ist
ihm das Beobachtete nicht wie andern Dichtern Material, aus dem die Ge¬
staltungskraft innerer Anschauung gemäß Menschen bildet, sondern bereits das
Gestaltete selbst, aus dem Menschen mosaikartig zusammengesetzt werden. So
erklärt sich auch, daß er uns den Glauben an Gestalten wie Loth zumutet
und an psychologische Gewaltstreiche wie die Rettung Wilhelms im "Friedens¬
fest" und gar die Rettung Cramptons.

Soviel ist aber doch festzuhalten, daß seit Hauptmanns Auftreten die


Die Alten und die Jungen

Wiedergabe des „Milieu" und dem dogmatischen Zuge, der Lenz gegen die Hof¬
meister polemisiren läßt wie Hauptmann gegen den Alkohol und die Jugend¬
sünden, ich habe die pfälzischen Idyllen des Malers Müller im Auge, die in
der Wiedergabe eines beliebigen Stückes Leben, in der Anwendung der Sprache
der Wirklichkeit und teilweise des Dialekts ganz genau der modernen natura¬
listischen Form entsprechen, auch insofern, als sie der Akt- und Szenen¬
einteilung ermangeln, die ja auch bei den modernen Dramen nur ein Zugeständnis
an die Bühne ist. In der Behandlung der Charakteristik und der Sprache hat
Hauptmann ferner in Elias Niebergall, dem Dichter des „Datterich," der
berühmten Dcirmstädtcr Lokalposfe, die aber in der That ein vorzügliches
Zeit- und Charakerbild ist (vergl. Georg Fuchs, Ernst Elias Niebergalls
dramatische Werke, Einleitung. Darmstadt, 1894), einen Vorgänger. Ich führe
diese Dinge an, nicht um dem naturalistischen Drama die Originalität abzu¬
sprechen, sondern um zu zeigen, daß es eine natürlich gewachsene Form ist.
Aber es ist keine Haupt-, sondern eine Nebenform, die hart an der Grenze
des Dramas steht und die eigentliche Tragik ausschließt; für die Genauigkeit
der Schilderung und die sorgfältige äußere Charakteristik müssen wir stets
schlechte psychologische Motivirung und die Verfehlung des Kerns der Menschen¬
natur hinnehmen, und das Typische geht stets völlig verloren. Man fühlt
sich an die Porträtkunst Denners erinnert, der jede Runzel, jedes Härchen
malte, darüber aber den Charakter des Gesichts verfehlte; das Beispiel über¬
hebt mich auch der Notwendigkeit, meine Behauptungen weitläuftig zu begründen.
Die Menschen in Hauptmanns Dramen bestehen im Grunde nur aus Weich¬
teilen und Nerven, Knochen haben sie samt und sonders nicht, und daher
kommt es auch, daß man ihnen nicht einmal die einfache Glaubwürdigkeit zu¬
zugestehen braucht, abgesehen davon, daß die Mediziner Hauptmanns Kranken¬
bildern die Wahrheit abgesprochen haben. Jeder einzelne Zug ist wahr und
oft genug fein beobachtet, aber das Ganze stimmt doch nicht, es sind künstlerisch
schwankende Gestalten. Ich entsinne mich, einmal ein künstlerisches Selbst¬
bekenntnis Hauptmanns gelesen zu haben, aus dem mir Hervorzugeheu schien,
daß er nicht wie die meisten großen Dichter zuerst seine Menschen in der
Totalität habe, und es ist jedenfalls nicht zufällig, daß er Dramen ohne
Helden wie die „Weber" schreibt. Hier scheint mir der Mangel seines Talents
zu stecken: er sieht wunderbar, aber seine Phantasie schafft nicht, und so ist
ihm das Beobachtete nicht wie andern Dichtern Material, aus dem die Ge¬
staltungskraft innerer Anschauung gemäß Menschen bildet, sondern bereits das
Gestaltete selbst, aus dem Menschen mosaikartig zusammengesetzt werden. So
erklärt sich auch, daß er uns den Glauben an Gestalten wie Loth zumutet
und an psychologische Gewaltstreiche wie die Rettung Wilhelms im „Friedens¬
fest" und gar die Rettung Cramptons.

Soviel ist aber doch festzuhalten, daß seit Hauptmanns Auftreten die


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[0468] Die Alten und die Jungen Wiedergabe des „Milieu" und dem dogmatischen Zuge, der Lenz gegen die Hof¬ meister polemisiren läßt wie Hauptmann gegen den Alkohol und die Jugend¬ sünden, ich habe die pfälzischen Idyllen des Malers Müller im Auge, die in der Wiedergabe eines beliebigen Stückes Leben, in der Anwendung der Sprache der Wirklichkeit und teilweise des Dialekts ganz genau der modernen natura¬ listischen Form entsprechen, auch insofern, als sie der Akt- und Szenen¬ einteilung ermangeln, die ja auch bei den modernen Dramen nur ein Zugeständnis an die Bühne ist. In der Behandlung der Charakteristik und der Sprache hat Hauptmann ferner in Elias Niebergall, dem Dichter des „Datterich," der berühmten Dcirmstädtcr Lokalposfe, die aber in der That ein vorzügliches Zeit- und Charakerbild ist (vergl. Georg Fuchs, Ernst Elias Niebergalls dramatische Werke, Einleitung. Darmstadt, 1894), einen Vorgänger. Ich führe diese Dinge an, nicht um dem naturalistischen Drama die Originalität abzu¬ sprechen, sondern um zu zeigen, daß es eine natürlich gewachsene Form ist. Aber es ist keine Haupt-, sondern eine Nebenform, die hart an der Grenze des Dramas steht und die eigentliche Tragik ausschließt; für die Genauigkeit der Schilderung und die sorgfältige äußere Charakteristik müssen wir stets schlechte psychologische Motivirung und die Verfehlung des Kerns der Menschen¬ natur hinnehmen, und das Typische geht stets völlig verloren. Man fühlt sich an die Porträtkunst Denners erinnert, der jede Runzel, jedes Härchen malte, darüber aber den Charakter des Gesichts verfehlte; das Beispiel über¬ hebt mich auch der Notwendigkeit, meine Behauptungen weitläuftig zu begründen. Die Menschen in Hauptmanns Dramen bestehen im Grunde nur aus Weich¬ teilen und Nerven, Knochen haben sie samt und sonders nicht, und daher kommt es auch, daß man ihnen nicht einmal die einfache Glaubwürdigkeit zu¬ zugestehen braucht, abgesehen davon, daß die Mediziner Hauptmanns Kranken¬ bildern die Wahrheit abgesprochen haben. Jeder einzelne Zug ist wahr und oft genug fein beobachtet, aber das Ganze stimmt doch nicht, es sind künstlerisch schwankende Gestalten. Ich entsinne mich, einmal ein künstlerisches Selbst¬ bekenntnis Hauptmanns gelesen zu haben, aus dem mir Hervorzugeheu schien, daß er nicht wie die meisten großen Dichter zuerst seine Menschen in der Totalität habe, und es ist jedenfalls nicht zufällig, daß er Dramen ohne Helden wie die „Weber" schreibt. Hier scheint mir der Mangel seines Talents zu stecken: er sieht wunderbar, aber seine Phantasie schafft nicht, und so ist ihm das Beobachtete nicht wie andern Dichtern Material, aus dem die Ge¬ staltungskraft innerer Anschauung gemäß Menschen bildet, sondern bereits das Gestaltete selbst, aus dem Menschen mosaikartig zusammengesetzt werden. So erklärt sich auch, daß er uns den Glauben an Gestalten wie Loth zumutet und an psychologische Gewaltstreiche wie die Rettung Wilhelms im „Friedens¬ fest" und gar die Rettung Cramptons. Soviel ist aber doch festzuhalten, daß seit Hauptmanns Auftreten die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/468>, abgerufen am 01.09.2024.