Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Warum sollen wir ins Gefängnis? Frciuenheim bekam aber von vornherein dadurch ein eignes Gepräge, daß die Außer dem Frauenheim vor Hildesheim sind in den letzten zehn Jahren Grenzboten III 1SS657
Warum sollen wir ins Gefängnis? Frciuenheim bekam aber von vornherein dadurch ein eignes Gepräge, daß die Außer dem Frauenheim vor Hildesheim sind in den letzten zehn Jahren Grenzboten III 1SS657
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0457" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223399"/> <fw type="header" place="top"> Warum sollen wir ins Gefängnis?</fw><lb/> <p xml:id="ID_1291" prev="#ID_1290"> Frciuenheim bekam aber von vornherein dadurch ein eignes Gepräge, daß die<lb/> in der Korrektionsanstalt zu Himmelsthür, wo Jsermeyer Anstaltsgeistlicher<lb/> war, büßenden Korrigeudinnen nach Ablauf ihrer Haft im Frciuenheim Auf¬<lb/> nahme fanden- Diese Frauen und Mädchen, sowie einige andre, die aus der<lb/> großen Hildesheimer Irrenanstalt als geheilt entlassen, aber noch unfähig<lb/> waren, die Reibungen des Lebens zu vertragen, gaben die ersten Insassen ab.<lb/> Mit der Zeit kamen aber auch andre, noch unbestrafte, aber wegen eines<lb/> Psychischen Mangels in Gefahr stehende Mädchen, teils freiwillig, teils wurden sie<lb/> von den Eltern oder andern Angehörigen oder auch von deu Behörden ge¬<lb/> bracht. Die Erziehungserfolge, die bei diesen Personen bis jetzt erreicht<lb/> worden sind, sind sehr günstig. Mittel der Erziehung im Frauenheim sind:<lb/> regelmäßige Arbeit (Waschen, Plätten, Nähen, Stricken usw.), eine vernünftige<lb/> Anwendung von Bädern und andern Kurmitteln, eine christliche, nicht pietistische<lb/> Hausordnung, bei der es ehrbar und doch fröhlich zugeht, und eine möglichst<lb/> individualisirende Behandlung. Die Zahl der Insassen beträgt gegenwärtig<lb/> über hundert, von denen die Hälfte Mädchen sind, die durch eine zweijährige<lb/> und, wo es nötig ist, auch längere Erziehung und Gewöhnung an Arbeit für<lb/> das Leben tüchtig gemacht und dann meistens vom Asyl aus in Dienst gebracht<lb/> werden. Die Nachfrage nach solchen Mädchen ist so groß, daß nur ein Teil<lb/> befriedigt werden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1292"> Außer dem Frauenheim vor Hildesheim sind in den letzten zehn Jahren<lb/> Asyle derselben Art entstanden in Groß-Salze bei Magdeburg, in Leipzig, in<lb/> Dresden und in Steglitz bei Berlin. Hier hätten wir also Unterkuuftsstütten<lb/> für einige hundert sittlich schwacher Naturen, die, wenn sie nicht gehalten<lb/> und erzogen würden, nach menschlicher Berechnung samt und sonders die Bahn<lb/> des Lasters und Verbrechens betreten und sich selbst und der Gesellschaft<lb/> Schande gemacht hätten. Aber das sind nur ein paar hundert, und nur<lb/> Mädchen! Wohin mit den übrigen taufenden von Burschen und Mädchen?<lb/> Müssen sie erst alle gerichtlich bestrafte Verbrecher werden, müssen sie erst ins<lb/> Gefängnis, ehe sich der Staat mit ihnen befaßt? Das ist die Frage, die durch<lb/> diese Mitteilungen angeregt werden sollte. Über die Antwort kann kein Zweifel<lb/> sein. Es muß Wandel geschafft werden, und das wird auch geschehen. Kopf¬<lb/> zerbrechen wird es kosten, und anfangs auch viel Geld; das beste Werkzeug<lb/> aber zu dieser Kulturarbeit tragen wir alle, Juristen und Laien, Gesetzgeber und<lb/> Unterthanen, im Herzen: das ist die Liebe der Starken zu den Schwachen.<lb/> Möge dieses Werkzeug nicht verrosten!</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1SS657</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0457]
Warum sollen wir ins Gefängnis?
Frciuenheim bekam aber von vornherein dadurch ein eignes Gepräge, daß die
in der Korrektionsanstalt zu Himmelsthür, wo Jsermeyer Anstaltsgeistlicher
war, büßenden Korrigeudinnen nach Ablauf ihrer Haft im Frciuenheim Auf¬
nahme fanden- Diese Frauen und Mädchen, sowie einige andre, die aus der
großen Hildesheimer Irrenanstalt als geheilt entlassen, aber noch unfähig
waren, die Reibungen des Lebens zu vertragen, gaben die ersten Insassen ab.
Mit der Zeit kamen aber auch andre, noch unbestrafte, aber wegen eines
Psychischen Mangels in Gefahr stehende Mädchen, teils freiwillig, teils wurden sie
von den Eltern oder andern Angehörigen oder auch von deu Behörden ge¬
bracht. Die Erziehungserfolge, die bei diesen Personen bis jetzt erreicht
worden sind, sind sehr günstig. Mittel der Erziehung im Frauenheim sind:
regelmäßige Arbeit (Waschen, Plätten, Nähen, Stricken usw.), eine vernünftige
Anwendung von Bädern und andern Kurmitteln, eine christliche, nicht pietistische
Hausordnung, bei der es ehrbar und doch fröhlich zugeht, und eine möglichst
individualisirende Behandlung. Die Zahl der Insassen beträgt gegenwärtig
über hundert, von denen die Hälfte Mädchen sind, die durch eine zweijährige
und, wo es nötig ist, auch längere Erziehung und Gewöhnung an Arbeit für
das Leben tüchtig gemacht und dann meistens vom Asyl aus in Dienst gebracht
werden. Die Nachfrage nach solchen Mädchen ist so groß, daß nur ein Teil
befriedigt werden kann.
Außer dem Frauenheim vor Hildesheim sind in den letzten zehn Jahren
Asyle derselben Art entstanden in Groß-Salze bei Magdeburg, in Leipzig, in
Dresden und in Steglitz bei Berlin. Hier hätten wir also Unterkuuftsstütten
für einige hundert sittlich schwacher Naturen, die, wenn sie nicht gehalten
und erzogen würden, nach menschlicher Berechnung samt und sonders die Bahn
des Lasters und Verbrechens betreten und sich selbst und der Gesellschaft
Schande gemacht hätten. Aber das sind nur ein paar hundert, und nur
Mädchen! Wohin mit den übrigen taufenden von Burschen und Mädchen?
Müssen sie erst alle gerichtlich bestrafte Verbrecher werden, müssen sie erst ins
Gefängnis, ehe sich der Staat mit ihnen befaßt? Das ist die Frage, die durch
diese Mitteilungen angeregt werden sollte. Über die Antwort kann kein Zweifel
sein. Es muß Wandel geschafft werden, und das wird auch geschehen. Kopf¬
zerbrechen wird es kosten, und anfangs auch viel Geld; das beste Werkzeug
aber zu dieser Kulturarbeit tragen wir alle, Juristen und Laien, Gesetzgeber und
Unterthanen, im Herzen: das ist die Liebe der Starken zu den Schwachen.
Möge dieses Werkzeug nicht verrosten!
Grenzboten III 1SS657
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