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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die geographische Lage Deutschlands

Land. Es hat nicht nur äußerlich, weil es ein Stück von Europa ist, teil
an allen Eigenschaften, die unsern Kontinent auszeichnen; so wie unser Land
ist, kann es nur in Europa sein, und seiue Geschicke werden immer von denen
Europas mitbestimmt werden. In dieser engen Zugehörigkeit liegt eine Starke,
es könnte aber vielleicht anch einmal eine Schwäche darin liegen. Wir ruhen mit
einer gewissen Schwere so recht mitten in Europa. Schwerfälligkeit, die
die Folge davon sein konnte, sollte uns aber nicht befallen. Vor dem Beginn
der deutschen Kvlonialerwerbungen im Jahre 1884, als Deutschland keine
Quadratmeile Boden in fremden Erdteilen besaß, war es unter den Gro߬
mächten die europäischste. Keine war politisch und teilweise auch wirtschaftlich
so europäisch beschränkt. Noch immer ist es von Asien durch Rußland, vom
Mittelmeer mit seinen afrikanisch-asiatischen Beziehungen durch die Alpen ge¬
trennt, und nur durch die Nordsee hängt es mit dem Weltmeer zusammen.
Ein Vorteil dieser zurückgezognen Lage hat sich mehr als einmal in den
letzten Jahrzehnten darin gezeigt, daß Deutschland von orientalischen und
Mittelmeererschütteruugen unberührt geblieben ist. Es ist zweifellos von Vorteil
für eine sich sammelnde Macht, wie es Deutschland in dieser Zeit war, den
Angenblick der Zurückhaltung oder des Eingreifens wählen zu können. Doch
besteht die Gefahr, daß ein augenblicklicher Vorteil dabei zu teuer erkauft
wird. Denn nicht die unmittelbare Nachbarschaft allein entscheidet über den
Anteil eines großen Staates an der Entwicklung der Weltgeschicke.

Trieft kann bei einer feindlichen Stellung Italiens für Deutschland so
wichtig werden, daß nur Österreichs Teilnahme daran noch größer gedacht
werden kann. Da neben England Deutschland den größten Verkehr durch den
Suezkannl unterhält, ist es an der Neutralität dieses wichtigen Weges noch
stärker beteiligt als alle Mittelmeermächte. Vergessen wir bei der Schätzung
jener negativen Vorteile nie, daß die Machtstellung eines Reichs nichts starres
ist. Heikle mehr als je steht sie unter dem Einfluß von Kultur- und besonders
Wirtschaftsbewegungen, die die politischen Räume verkleinern, die Entfernungen
und damit so manchen kleinen geographischen Vorzug der Lage oder Gestalt
unaufhaltsam schwinden machen.

Was bedeutet es, daß wir sagen: Deutschland liegt zwischen 47" 20'
(Eiuödsbach im Algäu) im Süden und 55° 53' nördlicher Breite (Nimmer¬
satt bei Memel) im Norden? Die nördliche Breite besagt zunächst: Da Deutsch¬
land auf der Nordhalbkugel liegt, so nimmt es an den Eigenschaften teil, die
dieser Halbkugel durch die Masse des Landes erteilt werden. Das Land ist
hier 2^7 mal größer als auf der Südhalbkugel. Außerdem ist die Ver¬
schiebung dieser Landmassen nach Norden zu beachten. Deutschland gehört
damit der kontinentalen Halbkugel an, deren Klima die Wirkungen des Land¬
übergewichts zeigt, der Halbkugel, die durch ihren Reichtum an Land weit
voll- und staatenreicher und besonders auch reicher an großen Staaten ist.


Grenzboicn III 1896 A)
Die geographische Lage Deutschlands

Land. Es hat nicht nur äußerlich, weil es ein Stück von Europa ist, teil
an allen Eigenschaften, die unsern Kontinent auszeichnen; so wie unser Land
ist, kann es nur in Europa sein, und seiue Geschicke werden immer von denen
Europas mitbestimmt werden. In dieser engen Zugehörigkeit liegt eine Starke,
es könnte aber vielleicht anch einmal eine Schwäche darin liegen. Wir ruhen mit
einer gewissen Schwere so recht mitten in Europa. Schwerfälligkeit, die
die Folge davon sein konnte, sollte uns aber nicht befallen. Vor dem Beginn
der deutschen Kvlonialerwerbungen im Jahre 1884, als Deutschland keine
Quadratmeile Boden in fremden Erdteilen besaß, war es unter den Gro߬
mächten die europäischste. Keine war politisch und teilweise auch wirtschaftlich
so europäisch beschränkt. Noch immer ist es von Asien durch Rußland, vom
Mittelmeer mit seinen afrikanisch-asiatischen Beziehungen durch die Alpen ge¬
trennt, und nur durch die Nordsee hängt es mit dem Weltmeer zusammen.
Ein Vorteil dieser zurückgezognen Lage hat sich mehr als einmal in den
letzten Jahrzehnten darin gezeigt, daß Deutschland von orientalischen und
Mittelmeererschütteruugen unberührt geblieben ist. Es ist zweifellos von Vorteil
für eine sich sammelnde Macht, wie es Deutschland in dieser Zeit war, den
Angenblick der Zurückhaltung oder des Eingreifens wählen zu können. Doch
besteht die Gefahr, daß ein augenblicklicher Vorteil dabei zu teuer erkauft
wird. Denn nicht die unmittelbare Nachbarschaft allein entscheidet über den
Anteil eines großen Staates an der Entwicklung der Weltgeschicke.

Trieft kann bei einer feindlichen Stellung Italiens für Deutschland so
wichtig werden, daß nur Österreichs Teilnahme daran noch größer gedacht
werden kann. Da neben England Deutschland den größten Verkehr durch den
Suezkannl unterhält, ist es an der Neutralität dieses wichtigen Weges noch
stärker beteiligt als alle Mittelmeermächte. Vergessen wir bei der Schätzung
jener negativen Vorteile nie, daß die Machtstellung eines Reichs nichts starres
ist. Heikle mehr als je steht sie unter dem Einfluß von Kultur- und besonders
Wirtschaftsbewegungen, die die politischen Räume verkleinern, die Entfernungen
und damit so manchen kleinen geographischen Vorzug der Lage oder Gestalt
unaufhaltsam schwinden machen.

Was bedeutet es, daß wir sagen: Deutschland liegt zwischen 47" 20'
(Eiuödsbach im Algäu) im Süden und 55° 53' nördlicher Breite (Nimmer¬
satt bei Memel) im Norden? Die nördliche Breite besagt zunächst: Da Deutsch¬
land auf der Nordhalbkugel liegt, so nimmt es an den Eigenschaften teil, die
dieser Halbkugel durch die Masse des Landes erteilt werden. Das Land ist
hier 2^7 mal größer als auf der Südhalbkugel. Außerdem ist die Ver¬
schiebung dieser Landmassen nach Norden zu beachten. Deutschland gehört
damit der kontinentalen Halbkugel an, deren Klima die Wirkungen des Land¬
übergewichts zeigt, der Halbkugel, die durch ihren Reichtum an Land weit
voll- und staatenreicher und besonders auch reicher an großen Staaten ist.


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[0401] Die geographische Lage Deutschlands Land. Es hat nicht nur äußerlich, weil es ein Stück von Europa ist, teil an allen Eigenschaften, die unsern Kontinent auszeichnen; so wie unser Land ist, kann es nur in Europa sein, und seiue Geschicke werden immer von denen Europas mitbestimmt werden. In dieser engen Zugehörigkeit liegt eine Starke, es könnte aber vielleicht anch einmal eine Schwäche darin liegen. Wir ruhen mit einer gewissen Schwere so recht mitten in Europa. Schwerfälligkeit, die die Folge davon sein konnte, sollte uns aber nicht befallen. Vor dem Beginn der deutschen Kvlonialerwerbungen im Jahre 1884, als Deutschland keine Quadratmeile Boden in fremden Erdteilen besaß, war es unter den Gro߬ mächten die europäischste. Keine war politisch und teilweise auch wirtschaftlich so europäisch beschränkt. Noch immer ist es von Asien durch Rußland, vom Mittelmeer mit seinen afrikanisch-asiatischen Beziehungen durch die Alpen ge¬ trennt, und nur durch die Nordsee hängt es mit dem Weltmeer zusammen. Ein Vorteil dieser zurückgezognen Lage hat sich mehr als einmal in den letzten Jahrzehnten darin gezeigt, daß Deutschland von orientalischen und Mittelmeererschütteruugen unberührt geblieben ist. Es ist zweifellos von Vorteil für eine sich sammelnde Macht, wie es Deutschland in dieser Zeit war, den Angenblick der Zurückhaltung oder des Eingreifens wählen zu können. Doch besteht die Gefahr, daß ein augenblicklicher Vorteil dabei zu teuer erkauft wird. Denn nicht die unmittelbare Nachbarschaft allein entscheidet über den Anteil eines großen Staates an der Entwicklung der Weltgeschicke. Trieft kann bei einer feindlichen Stellung Italiens für Deutschland so wichtig werden, daß nur Österreichs Teilnahme daran noch größer gedacht werden kann. Da neben England Deutschland den größten Verkehr durch den Suezkannl unterhält, ist es an der Neutralität dieses wichtigen Weges noch stärker beteiligt als alle Mittelmeermächte. Vergessen wir bei der Schätzung jener negativen Vorteile nie, daß die Machtstellung eines Reichs nichts starres ist. Heikle mehr als je steht sie unter dem Einfluß von Kultur- und besonders Wirtschaftsbewegungen, die die politischen Räume verkleinern, die Entfernungen und damit so manchen kleinen geographischen Vorzug der Lage oder Gestalt unaufhaltsam schwinden machen. Was bedeutet es, daß wir sagen: Deutschland liegt zwischen 47" 20' (Eiuödsbach im Algäu) im Süden und 55° 53' nördlicher Breite (Nimmer¬ satt bei Memel) im Norden? Die nördliche Breite besagt zunächst: Da Deutsch¬ land auf der Nordhalbkugel liegt, so nimmt es an den Eigenschaften teil, die dieser Halbkugel durch die Masse des Landes erteilt werden. Das Land ist hier 2^7 mal größer als auf der Südhalbkugel. Außerdem ist die Ver¬ schiebung dieser Landmassen nach Norden zu beachten. Deutschland gehört damit der kontinentalen Halbkugel an, deren Klima die Wirkungen des Land¬ übergewichts zeigt, der Halbkugel, die durch ihren Reichtum an Land weit voll- und staatenreicher und besonders auch reicher an großen Staaten ist. Grenzboicn III 1896 A)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/401>, abgerufen am 22.11.2024.