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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die geographische Lage Deutschlands

Während auf der Südhalbkugel die Ländergruppeu durch breite Meere ge¬
trennt und deshalb dem immer mehr sich ausbreitende" ozeanischen Verkehr
erschlossen sind, sind auf der Nordhalbkugel uur die am Rande gelegnen
Länder, besonders die Inseln und Halbinseln dem Verkehr leicht zugänglich.
Die Frage: Wie liegt es zum Meer? ist daher eine der ersten, die man gegen¬
über jedem Lande der nördlichen Halbkugel stellen muß.

Die Kultur ist auf unsrer Erde von der Nord- auf die Südhalbkugel
gewandert. Die Nordhalbkugel ist menschheitsgeschichtlich alter als die Süd¬
halbkugel, die in der Kultur noch lange von der Nordhalbkugel abhängig sein
wird. Noch heute zeigt in der Zahl und Rasse der Bevölkerung, in der Ver¬
breitung der Kultur, besonders der Religion, und überhaupt aller geistigen
Fortschritts- und Veredeluugskrüfte die Nordhalbkugel ein ausgesprochnes
Übergewicht. Jedes Volk auf dieser Seite der Erde zieht davon den Vorteil,
auf einem ältern, höhern Grunde zu stehe" und wird in engerer Berührung
mit den fortgeschrittensten und am entschiedensten weiter fortschreitenden
Völkern vorwärts gedrängt. Die größten und reichsten Völker, der lebhafteste
geistige und wirtschaftliche Verkehr, die größte Zahl mächtiger Haupt- und
Handelsstädte gehören der nördlichen Halbkugel an. Deutschland, das an Volks¬
zahl in Europa nur Nußland nachsteht und im Handelsnmscitz nur England,
dessen Hauptstadt unmittelbar auf London, Newyork und Paris folgt, nimmt
in seiner Weise an diesen Vorzügen teil.

Deutschland nimmt in dem Gürtel zwischen dem 36. und dem 72. Grade,
in dem Europa liegt, eine mittlere Stelle ein. Es liegt 12 Grad vom Südende,
15 Grad vom Nordende Europas entfernt. Demnach gehört Deutschland
wieder einer nördlichen Gruppe von Ländern an: England, die skandinavischen
Königreiche, die Niederlande liegen alle nördlich vom 50. Grade, und nördlich
von diesem liegt auch die größere Hälfte Deutschlands. Sogar Östereich ragt
noch mit Nvrdböhmen in diese Zone herein. Diese Länder sind vorwiegend
von germanischen Völkern bewohnt. Als eine südliche Gruppe liegen südlich
von 50. Grad Portugal, Spanien, Italien, der größere Teil von Frankreich
und Rumänien: eine romanische Ländcrgrnppe. Die germanische Familie
ist also nicht bloß stammverwandt, sondern auch lageverwaudt. Vom Norden
Europas ist sie ausgegangen, im Norden liegt noch immer ihr Schwerpunkt;
oder vielmehr nach Norden ist er wieder zurückgekehrt, als die Mittelmeer¬
zweige des germanischen Stammes abstarben. In Deutschland wiederholt
sich dann noch einmal das Übergewicht des Nordens, dessen immer stärkeres
Hervortreten greifbar durch die ganze deutsche Geschichte läuft.

Deutschland liegt ferner zwischen dem 6. Grad (Redingen in Lothringen) und
deu 23. Grad östlicher Länge von Greenwich (Pillkallen in Ostpreußen). Das
bedeutet in Europa die Lage in demselben Maridianstreifen mit der skandi¬
navischen Halbinsel, mit Dänemark, der Schweiz, Italien und der größern


Die geographische Lage Deutschlands

Während auf der Südhalbkugel die Ländergruppeu durch breite Meere ge¬
trennt und deshalb dem immer mehr sich ausbreitende» ozeanischen Verkehr
erschlossen sind, sind auf der Nordhalbkugel uur die am Rande gelegnen
Länder, besonders die Inseln und Halbinseln dem Verkehr leicht zugänglich.
Die Frage: Wie liegt es zum Meer? ist daher eine der ersten, die man gegen¬
über jedem Lande der nördlichen Halbkugel stellen muß.

Die Kultur ist auf unsrer Erde von der Nord- auf die Südhalbkugel
gewandert. Die Nordhalbkugel ist menschheitsgeschichtlich alter als die Süd¬
halbkugel, die in der Kultur noch lange von der Nordhalbkugel abhängig sein
wird. Noch heute zeigt in der Zahl und Rasse der Bevölkerung, in der Ver¬
breitung der Kultur, besonders der Religion, und überhaupt aller geistigen
Fortschritts- und Veredeluugskrüfte die Nordhalbkugel ein ausgesprochnes
Übergewicht. Jedes Volk auf dieser Seite der Erde zieht davon den Vorteil,
auf einem ältern, höhern Grunde zu stehe» und wird in engerer Berührung
mit den fortgeschrittensten und am entschiedensten weiter fortschreitenden
Völkern vorwärts gedrängt. Die größten und reichsten Völker, der lebhafteste
geistige und wirtschaftliche Verkehr, die größte Zahl mächtiger Haupt- und
Handelsstädte gehören der nördlichen Halbkugel an. Deutschland, das an Volks¬
zahl in Europa nur Nußland nachsteht und im Handelsnmscitz nur England,
dessen Hauptstadt unmittelbar auf London, Newyork und Paris folgt, nimmt
in seiner Weise an diesen Vorzügen teil.

Deutschland nimmt in dem Gürtel zwischen dem 36. und dem 72. Grade,
in dem Europa liegt, eine mittlere Stelle ein. Es liegt 12 Grad vom Südende,
15 Grad vom Nordende Europas entfernt. Demnach gehört Deutschland
wieder einer nördlichen Gruppe von Ländern an: England, die skandinavischen
Königreiche, die Niederlande liegen alle nördlich vom 50. Grade, und nördlich
von diesem liegt auch die größere Hälfte Deutschlands. Sogar Östereich ragt
noch mit Nvrdböhmen in diese Zone herein. Diese Länder sind vorwiegend
von germanischen Völkern bewohnt. Als eine südliche Gruppe liegen südlich
von 50. Grad Portugal, Spanien, Italien, der größere Teil von Frankreich
und Rumänien: eine romanische Ländcrgrnppe. Die germanische Familie
ist also nicht bloß stammverwandt, sondern auch lageverwaudt. Vom Norden
Europas ist sie ausgegangen, im Norden liegt noch immer ihr Schwerpunkt;
oder vielmehr nach Norden ist er wieder zurückgekehrt, als die Mittelmeer¬
zweige des germanischen Stammes abstarben. In Deutschland wiederholt
sich dann noch einmal das Übergewicht des Nordens, dessen immer stärkeres
Hervortreten greifbar durch die ganze deutsche Geschichte läuft.

Deutschland liegt ferner zwischen dem 6. Grad (Redingen in Lothringen) und
deu 23. Grad östlicher Länge von Greenwich (Pillkallen in Ostpreußen). Das
bedeutet in Europa die Lage in demselben Maridianstreifen mit der skandi¬
navischen Halbinsel, mit Dänemark, der Schweiz, Italien und der größern


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[0402] Die geographische Lage Deutschlands Während auf der Südhalbkugel die Ländergruppeu durch breite Meere ge¬ trennt und deshalb dem immer mehr sich ausbreitende» ozeanischen Verkehr erschlossen sind, sind auf der Nordhalbkugel uur die am Rande gelegnen Länder, besonders die Inseln und Halbinseln dem Verkehr leicht zugänglich. Die Frage: Wie liegt es zum Meer? ist daher eine der ersten, die man gegen¬ über jedem Lande der nördlichen Halbkugel stellen muß. Die Kultur ist auf unsrer Erde von der Nord- auf die Südhalbkugel gewandert. Die Nordhalbkugel ist menschheitsgeschichtlich alter als die Süd¬ halbkugel, die in der Kultur noch lange von der Nordhalbkugel abhängig sein wird. Noch heute zeigt in der Zahl und Rasse der Bevölkerung, in der Ver¬ breitung der Kultur, besonders der Religion, und überhaupt aller geistigen Fortschritts- und Veredeluugskrüfte die Nordhalbkugel ein ausgesprochnes Übergewicht. Jedes Volk auf dieser Seite der Erde zieht davon den Vorteil, auf einem ältern, höhern Grunde zu stehe» und wird in engerer Berührung mit den fortgeschrittensten und am entschiedensten weiter fortschreitenden Völkern vorwärts gedrängt. Die größten und reichsten Völker, der lebhafteste geistige und wirtschaftliche Verkehr, die größte Zahl mächtiger Haupt- und Handelsstädte gehören der nördlichen Halbkugel an. Deutschland, das an Volks¬ zahl in Europa nur Nußland nachsteht und im Handelsnmscitz nur England, dessen Hauptstadt unmittelbar auf London, Newyork und Paris folgt, nimmt in seiner Weise an diesen Vorzügen teil. Deutschland nimmt in dem Gürtel zwischen dem 36. und dem 72. Grade, in dem Europa liegt, eine mittlere Stelle ein. Es liegt 12 Grad vom Südende, 15 Grad vom Nordende Europas entfernt. Demnach gehört Deutschland wieder einer nördlichen Gruppe von Ländern an: England, die skandinavischen Königreiche, die Niederlande liegen alle nördlich vom 50. Grade, und nördlich von diesem liegt auch die größere Hälfte Deutschlands. Sogar Östereich ragt noch mit Nvrdböhmen in diese Zone herein. Diese Länder sind vorwiegend von germanischen Völkern bewohnt. Als eine südliche Gruppe liegen südlich von 50. Grad Portugal, Spanien, Italien, der größere Teil von Frankreich und Rumänien: eine romanische Ländcrgrnppe. Die germanische Familie ist also nicht bloß stammverwandt, sondern auch lageverwaudt. Vom Norden Europas ist sie ausgegangen, im Norden liegt noch immer ihr Schwerpunkt; oder vielmehr nach Norden ist er wieder zurückgekehrt, als die Mittelmeer¬ zweige des germanischen Stammes abstarben. In Deutschland wiederholt sich dann noch einmal das Übergewicht des Nordens, dessen immer stärkeres Hervortreten greifbar durch die ganze deutsche Geschichte läuft. Deutschland liegt ferner zwischen dem 6. Grad (Redingen in Lothringen) und deu 23. Grad östlicher Länge von Greenwich (Pillkallen in Ostpreußen). Das bedeutet in Europa die Lage in demselben Maridianstreifen mit der skandi¬ navischen Halbinsel, mit Dänemark, der Schweiz, Italien und der größern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/402>, abgerufen am 22.11.2024.