Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die geographische Lage Deutschlands

kühn, arbeitsam und ausdauernd: so muß der Staat sein, der nicht von seinen
Nachbarn erdrückt werden, sondern selbst noch Raum gewinnen will. Die größte
Gefahr einer solchen Lage liegt in der politischen Passivität, zu der sie so
leicht das von allen Seiten bedrohte und zuletzt ermüdende Staatswesen ver¬
leitet. Unthätiges Gehenlassen ist sicher der Anfang seines Untergangs. Jener
größten Freiheit des politischen Handelns zu entbehren, die dem Inselstaate
gewährt ist, und doch nicht zu erschlaffen in der ununterbrochnem Bereitschaft
zu handeln, ist Schicksal und Aufgabe der Länder in unsrer Lage. Die Ge¬
schichte lehrt uns nur drei Wege, die ihnen gewiesen sind: der Polens, der zur
Zertrümmerung führte, der der Schweiz, an dessen Ende die neutrale Ver-
zichtnug aus politisches Handeln liegt, und der Deutschlands, der durch Zu¬
sammenraffen zu rechter Zeit die im alten Reich und im Bunde schon Verlorne
Kraft sich wiedergewann.

Deutschland steht ja glücklicherweise uicht allein damit in Europa, daß
das, was seine Staaten und Stämme wie aus einem seelischen Mittelpunkte
zusammenhält, nur zum Teil die Gemeinsamkeit des Bodens, der Lage und
des Klimas ist, zum andern und größern in dem Geist und dem Charakter
seiner Bevölkerung liegt. Das politische Übergewicht Europas ist ja über¬
haupt kein Massengewicht, sondern ein geistiges. Die Kämpfe des kleine"
europäischen Griechenlands mit dem großen asiatischen Persien haben sich
unzählige male wiederholt. In dem Sieg der geistigen Mächte über die
Massen liegt etwas bezeichnend europäisches.

Der Blick des Geographen richtet sich natürlich zuerst auf das Gemein¬
same, das der Erde eingeschrieben ist. Die Lage, die Größe, die Gestalt unsers
Erdteils kommen in der Lage, der Größe, der Gestalt unsers Landes zum
Ausdruck. Trägt doch jedes Land Eigenschaften seines Erdteils. So gehört
auch Deutschland nicht bloß äußerlich zu Europa, sondern es saugt durch die
tiefsten Wurzeln europäisches ein. Die Vergangenheit seiner Völker reicht
nach Asien hinein, und asiatische Nomadenhorden haben mehr als einmal
Deutschland überschwemmt. So nimmt es an der größten Thatsache der
Geographie Europas, an dem breiten Zusammenhang mit Asien teil. Aber
uoch wichtiger ist die Teilnahme an der reichen Gliederung West- und Mittel¬
europas, die durch Bildung vou Staaten entsprechender Große diese Erdhälfte
zu dem eigentlichen Lande der kleinern und mittlern, mehr durch Volkszahl
und Kultur als durch Naumgröße ausgezeichneten Staaten gemacht hat.
Vedeutnngsvoll für Deutschland ist um allerdings, daß während es selbst in
diese europäische Familie gehört, östlich von seinen Grenzen, in Nußland
bereits eine Macht von asiatischer Größe das europäisch-asiatische Übergangs¬
gebiet einnimmt. Den Segen andrer Staaten Europas, von wenig größer"
oder kleinern Staaten umgebe" zu sein, erfährt also Deutschland, mit Österreich-
Ungar", nicht mehr unverkürzt. Dabei ist Deutschland doch ein kernenropüisches


Die geographische Lage Deutschlands

kühn, arbeitsam und ausdauernd: so muß der Staat sein, der nicht von seinen
Nachbarn erdrückt werden, sondern selbst noch Raum gewinnen will. Die größte
Gefahr einer solchen Lage liegt in der politischen Passivität, zu der sie so
leicht das von allen Seiten bedrohte und zuletzt ermüdende Staatswesen ver¬
leitet. Unthätiges Gehenlassen ist sicher der Anfang seines Untergangs. Jener
größten Freiheit des politischen Handelns zu entbehren, die dem Inselstaate
gewährt ist, und doch nicht zu erschlaffen in der ununterbrochnem Bereitschaft
zu handeln, ist Schicksal und Aufgabe der Länder in unsrer Lage. Die Ge¬
schichte lehrt uns nur drei Wege, die ihnen gewiesen sind: der Polens, der zur
Zertrümmerung führte, der der Schweiz, an dessen Ende die neutrale Ver-
zichtnug aus politisches Handeln liegt, und der Deutschlands, der durch Zu¬
sammenraffen zu rechter Zeit die im alten Reich und im Bunde schon Verlorne
Kraft sich wiedergewann.

Deutschland steht ja glücklicherweise uicht allein damit in Europa, daß
das, was seine Staaten und Stämme wie aus einem seelischen Mittelpunkte
zusammenhält, nur zum Teil die Gemeinsamkeit des Bodens, der Lage und
des Klimas ist, zum andern und größern in dem Geist und dem Charakter
seiner Bevölkerung liegt. Das politische Übergewicht Europas ist ja über¬
haupt kein Massengewicht, sondern ein geistiges. Die Kämpfe des kleine»
europäischen Griechenlands mit dem großen asiatischen Persien haben sich
unzählige male wiederholt. In dem Sieg der geistigen Mächte über die
Massen liegt etwas bezeichnend europäisches.

Der Blick des Geographen richtet sich natürlich zuerst auf das Gemein¬
same, das der Erde eingeschrieben ist. Die Lage, die Größe, die Gestalt unsers
Erdteils kommen in der Lage, der Größe, der Gestalt unsers Landes zum
Ausdruck. Trägt doch jedes Land Eigenschaften seines Erdteils. So gehört
auch Deutschland nicht bloß äußerlich zu Europa, sondern es saugt durch die
tiefsten Wurzeln europäisches ein. Die Vergangenheit seiner Völker reicht
nach Asien hinein, und asiatische Nomadenhorden haben mehr als einmal
Deutschland überschwemmt. So nimmt es an der größten Thatsache der
Geographie Europas, an dem breiten Zusammenhang mit Asien teil. Aber
uoch wichtiger ist die Teilnahme an der reichen Gliederung West- und Mittel¬
europas, die durch Bildung vou Staaten entsprechender Große diese Erdhälfte
zu dem eigentlichen Lande der kleinern und mittlern, mehr durch Volkszahl
und Kultur als durch Naumgröße ausgezeichneten Staaten gemacht hat.
Vedeutnngsvoll für Deutschland ist um allerdings, daß während es selbst in
diese europäische Familie gehört, östlich von seinen Grenzen, in Nußland
bereits eine Macht von asiatischer Größe das europäisch-asiatische Übergangs¬
gebiet einnimmt. Den Segen andrer Staaten Europas, von wenig größer»
oder kleinern Staaten umgebe» zu sein, erfährt also Deutschland, mit Österreich-
Ungar», nicht mehr unverkürzt. Dabei ist Deutschland doch ein kernenropüisches


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223342"/>
          <fw type="header" place="top"> Die geographische Lage Deutschlands</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1142" prev="#ID_1141"> kühn, arbeitsam und ausdauernd: so muß der Staat sein, der nicht von seinen<lb/>
Nachbarn erdrückt werden, sondern selbst noch Raum gewinnen will. Die größte<lb/>
Gefahr einer solchen Lage liegt in der politischen Passivität, zu der sie so<lb/>
leicht das von allen Seiten bedrohte und zuletzt ermüdende Staatswesen ver¬<lb/>
leitet. Unthätiges Gehenlassen ist sicher der Anfang seines Untergangs. Jener<lb/>
größten Freiheit des politischen Handelns zu entbehren, die dem Inselstaate<lb/>
gewährt ist, und doch nicht zu erschlaffen in der ununterbrochnem Bereitschaft<lb/>
zu handeln, ist Schicksal und Aufgabe der Länder in unsrer Lage. Die Ge¬<lb/>
schichte lehrt uns nur drei Wege, die ihnen gewiesen sind: der Polens, der zur<lb/>
Zertrümmerung führte, der der Schweiz, an dessen Ende die neutrale Ver-<lb/>
zichtnug aus politisches Handeln liegt, und der Deutschlands, der durch Zu¬<lb/>
sammenraffen zu rechter Zeit die im alten Reich und im Bunde schon Verlorne<lb/>
Kraft sich wiedergewann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1143"> Deutschland steht ja glücklicherweise uicht allein damit in Europa, daß<lb/>
das, was seine Staaten und Stämme wie aus einem seelischen Mittelpunkte<lb/>
zusammenhält, nur zum Teil die Gemeinsamkeit des Bodens, der Lage und<lb/>
des Klimas ist, zum andern und größern in dem Geist und dem Charakter<lb/>
seiner Bevölkerung liegt. Das politische Übergewicht Europas ist ja über¬<lb/>
haupt kein Massengewicht, sondern ein geistiges. Die Kämpfe des kleine»<lb/>
europäischen Griechenlands mit dem großen asiatischen Persien haben sich<lb/>
unzählige male wiederholt. In dem Sieg der geistigen Mächte über die<lb/>
Massen liegt etwas bezeichnend europäisches.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1144" next="#ID_1145"> Der Blick des Geographen richtet sich natürlich zuerst auf das Gemein¬<lb/>
same, das der Erde eingeschrieben ist. Die Lage, die Größe, die Gestalt unsers<lb/>
Erdteils kommen in der Lage, der Größe, der Gestalt unsers Landes zum<lb/>
Ausdruck. Trägt doch jedes Land Eigenschaften seines Erdteils. So gehört<lb/>
auch Deutschland nicht bloß äußerlich zu Europa, sondern es saugt durch die<lb/>
tiefsten Wurzeln europäisches ein. Die Vergangenheit seiner Völker reicht<lb/>
nach Asien hinein, und asiatische Nomadenhorden haben mehr als einmal<lb/>
Deutschland überschwemmt. So nimmt es an der größten Thatsache der<lb/>
Geographie Europas, an dem breiten Zusammenhang mit Asien teil. Aber<lb/>
uoch wichtiger ist die Teilnahme an der reichen Gliederung West- und Mittel¬<lb/>
europas, die durch Bildung vou Staaten entsprechender Große diese Erdhälfte<lb/>
zu dem eigentlichen Lande der kleinern und mittlern, mehr durch Volkszahl<lb/>
und Kultur als durch Naumgröße ausgezeichneten Staaten gemacht hat.<lb/>
Vedeutnngsvoll für Deutschland ist um allerdings, daß während es selbst in<lb/>
diese europäische Familie gehört, östlich von seinen Grenzen, in Nußland<lb/>
bereits eine Macht von asiatischer Größe das europäisch-asiatische Übergangs¬<lb/>
gebiet einnimmt. Den Segen andrer Staaten Europas, von wenig größer»<lb/>
oder kleinern Staaten umgebe» zu sein, erfährt also Deutschland, mit Österreich-<lb/>
Ungar», nicht mehr unverkürzt. Dabei ist Deutschland doch ein kernenropüisches</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0400] Die geographische Lage Deutschlands kühn, arbeitsam und ausdauernd: so muß der Staat sein, der nicht von seinen Nachbarn erdrückt werden, sondern selbst noch Raum gewinnen will. Die größte Gefahr einer solchen Lage liegt in der politischen Passivität, zu der sie so leicht das von allen Seiten bedrohte und zuletzt ermüdende Staatswesen ver¬ leitet. Unthätiges Gehenlassen ist sicher der Anfang seines Untergangs. Jener größten Freiheit des politischen Handelns zu entbehren, die dem Inselstaate gewährt ist, und doch nicht zu erschlaffen in der ununterbrochnem Bereitschaft zu handeln, ist Schicksal und Aufgabe der Länder in unsrer Lage. Die Ge¬ schichte lehrt uns nur drei Wege, die ihnen gewiesen sind: der Polens, der zur Zertrümmerung führte, der der Schweiz, an dessen Ende die neutrale Ver- zichtnug aus politisches Handeln liegt, und der Deutschlands, der durch Zu¬ sammenraffen zu rechter Zeit die im alten Reich und im Bunde schon Verlorne Kraft sich wiedergewann. Deutschland steht ja glücklicherweise uicht allein damit in Europa, daß das, was seine Staaten und Stämme wie aus einem seelischen Mittelpunkte zusammenhält, nur zum Teil die Gemeinsamkeit des Bodens, der Lage und des Klimas ist, zum andern und größern in dem Geist und dem Charakter seiner Bevölkerung liegt. Das politische Übergewicht Europas ist ja über¬ haupt kein Massengewicht, sondern ein geistiges. Die Kämpfe des kleine» europäischen Griechenlands mit dem großen asiatischen Persien haben sich unzählige male wiederholt. In dem Sieg der geistigen Mächte über die Massen liegt etwas bezeichnend europäisches. Der Blick des Geographen richtet sich natürlich zuerst auf das Gemein¬ same, das der Erde eingeschrieben ist. Die Lage, die Größe, die Gestalt unsers Erdteils kommen in der Lage, der Größe, der Gestalt unsers Landes zum Ausdruck. Trägt doch jedes Land Eigenschaften seines Erdteils. So gehört auch Deutschland nicht bloß äußerlich zu Europa, sondern es saugt durch die tiefsten Wurzeln europäisches ein. Die Vergangenheit seiner Völker reicht nach Asien hinein, und asiatische Nomadenhorden haben mehr als einmal Deutschland überschwemmt. So nimmt es an der größten Thatsache der Geographie Europas, an dem breiten Zusammenhang mit Asien teil. Aber uoch wichtiger ist die Teilnahme an der reichen Gliederung West- und Mittel¬ europas, die durch Bildung vou Staaten entsprechender Große diese Erdhälfte zu dem eigentlichen Lande der kleinern und mittlern, mehr durch Volkszahl und Kultur als durch Naumgröße ausgezeichneten Staaten gemacht hat. Vedeutnngsvoll für Deutschland ist um allerdings, daß während es selbst in diese europäische Familie gehört, östlich von seinen Grenzen, in Nußland bereits eine Macht von asiatischer Größe das europäisch-asiatische Übergangs¬ gebiet einnimmt. Den Segen andrer Staaten Europas, von wenig größer» oder kleinern Staaten umgebe» zu sein, erfährt also Deutschland, mit Österreich- Ungar», nicht mehr unverkürzt. Dabei ist Deutschland doch ein kernenropüisches

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/400
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/400>, abgerufen am 23.11.2024.