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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die geographische Lage Deutschlands

Politische Geographie, das Bismarck am 6. Februar 1888 in seiner berühmten
großen Rede dem Reichstage gelesen hat. Dort heißt es: "Gott hat uns in
eine Lage gesetzt, in der wir durch unsre Nachbarn daran verhindert werden,
irgendwie in Versumpfung oder Trägheit zu geraten. Die französisch-russische
Pression, zwischeu die wir genommen werden, zwingt uns zum Zusammen¬
halten und wird unsre Kohäsionsfühigkeit auch durch Zusammendrücken erheblich
steigern, sodaß wir in dieselbe Lage der Unzerreißbarkeit kommen, die fast allen
andern Nationen eigentümlich ist, und die uns bis jetzt noch fehlt." Bismarck
als politischer Geograph und Geschichtsphilosvph ist wohl frei von dem Vor¬
wurf der Beschönigung. Die Lage Deutschlands birgt auch für ihn Gefahren.
Wer kennte sie besser? Aber sie umschließt auch Quellen der kräftigenden Selbst¬
erziehung und der gesteigerte" Wirkung nach außen. Allerdings verlangt die
Offenhaltung dieser Quellen eine ununterbrochne Aufmerksamkeit und Thätig¬
keit des Volkes. Es kann uns ganz angenehm sein, daß die Engländer nur
an die Sicherheit ihrer meerumschlnugneu Lage denken, ohne sich der Kehrseite
zu erinnern: der Möglichkeit, von allen Hilfsquellen abgeschnitten zu werden
oder der gegebnen Beschränktheit des Raumes, die schon so vielen Jnselvölkern
verderblich geworden ist. Uns ist der Luxus einer so optimistischen Betrachtung
versagt. Wir müssen die Nachteile und Vorzüge unsrer Lage scharf ins Auge
fassen und werden nie darüber im Unklaren sein dürfen, daß unser Staat
wesentlich ans dem Willen seiner Bewohner ruht, ihn zu erhalten. Die Seele
unsers Staates ist die Seele unsers Volkes. Keinem andern Volke muß es
so klar werden wie uns, daß Staaten nicht tot neben einander liegen wie auf
der Landkarte. Jede Nachbarschaft ist auch eine Beziehung. Die Staaten
müssen aufeinander wirken, und in deu mannichfaltigen Bewegungen der Ge¬
schichte drängen alle gegeneinander. Der schwächere Nachbar wird von dem
stärkern seiner Selbständigkeit beraubt. Das Gebiet des starken Staates wächst,
das des schwachen weicht zurück. Kleine Nachbarn, die ihren Raum nicht ver¬
größern können, senden den Überschuß ihrer Volkszahl auf das Gebiet des
größern; ihre Auswandrer machen zwar dort keine politischen Eroberungen,
aber sie erwerben Lohn, oft reichen Lohn, Boden und Einfluß. Die Geschichte
kennt Beispiele, wo aus einer solchen scheinbar rein wirtschaftlichen Ausbreitung
eine friedliche politische Eroberung hervorging. Jmuitteu aller dieser Be¬
wegungen fest an dem Boden zu halten, den wir als unser Staatsgebiet ab¬
gegrenzt haben, erfordert ununterbrochne Gegenbewegungen von unsrer Seite.
Jede Lücke und jede Schwäche würde uns verhängnisvoll werden. Unser
inneres Leben muß so stark sein, daß es deu Gedanken an einen Einbruch gar
nicht zuläßt, weil es ununterbrochen selbst nach außen wirkt und nach den
Grenzen zu noch mehr Energie zeigt als im Kern. Deutschland ist nur, wenn
es stark ist. Kräftig zusammengefaßt und doch von schlagfertiger Beweglichkeit,
von einem starken Selbstbewußtsein erfüllt und doch vorsichtig und wachsam,


Die geographische Lage Deutschlands

Politische Geographie, das Bismarck am 6. Februar 1888 in seiner berühmten
großen Rede dem Reichstage gelesen hat. Dort heißt es: „Gott hat uns in
eine Lage gesetzt, in der wir durch unsre Nachbarn daran verhindert werden,
irgendwie in Versumpfung oder Trägheit zu geraten. Die französisch-russische
Pression, zwischeu die wir genommen werden, zwingt uns zum Zusammen¬
halten und wird unsre Kohäsionsfühigkeit auch durch Zusammendrücken erheblich
steigern, sodaß wir in dieselbe Lage der Unzerreißbarkeit kommen, die fast allen
andern Nationen eigentümlich ist, und die uns bis jetzt noch fehlt." Bismarck
als politischer Geograph und Geschichtsphilosvph ist wohl frei von dem Vor¬
wurf der Beschönigung. Die Lage Deutschlands birgt auch für ihn Gefahren.
Wer kennte sie besser? Aber sie umschließt auch Quellen der kräftigenden Selbst¬
erziehung und der gesteigerte» Wirkung nach außen. Allerdings verlangt die
Offenhaltung dieser Quellen eine ununterbrochne Aufmerksamkeit und Thätig¬
keit des Volkes. Es kann uns ganz angenehm sein, daß die Engländer nur
an die Sicherheit ihrer meerumschlnugneu Lage denken, ohne sich der Kehrseite
zu erinnern: der Möglichkeit, von allen Hilfsquellen abgeschnitten zu werden
oder der gegebnen Beschränktheit des Raumes, die schon so vielen Jnselvölkern
verderblich geworden ist. Uns ist der Luxus einer so optimistischen Betrachtung
versagt. Wir müssen die Nachteile und Vorzüge unsrer Lage scharf ins Auge
fassen und werden nie darüber im Unklaren sein dürfen, daß unser Staat
wesentlich ans dem Willen seiner Bewohner ruht, ihn zu erhalten. Die Seele
unsers Staates ist die Seele unsers Volkes. Keinem andern Volke muß es
so klar werden wie uns, daß Staaten nicht tot neben einander liegen wie auf
der Landkarte. Jede Nachbarschaft ist auch eine Beziehung. Die Staaten
müssen aufeinander wirken, und in deu mannichfaltigen Bewegungen der Ge¬
schichte drängen alle gegeneinander. Der schwächere Nachbar wird von dem
stärkern seiner Selbständigkeit beraubt. Das Gebiet des starken Staates wächst,
das des schwachen weicht zurück. Kleine Nachbarn, die ihren Raum nicht ver¬
größern können, senden den Überschuß ihrer Volkszahl auf das Gebiet des
größern; ihre Auswandrer machen zwar dort keine politischen Eroberungen,
aber sie erwerben Lohn, oft reichen Lohn, Boden und Einfluß. Die Geschichte
kennt Beispiele, wo aus einer solchen scheinbar rein wirtschaftlichen Ausbreitung
eine friedliche politische Eroberung hervorging. Jmuitteu aller dieser Be¬
wegungen fest an dem Boden zu halten, den wir als unser Staatsgebiet ab¬
gegrenzt haben, erfordert ununterbrochne Gegenbewegungen von unsrer Seite.
Jede Lücke und jede Schwäche würde uns verhängnisvoll werden. Unser
inneres Leben muß so stark sein, daß es deu Gedanken an einen Einbruch gar
nicht zuläßt, weil es ununterbrochen selbst nach außen wirkt und nach den
Grenzen zu noch mehr Energie zeigt als im Kern. Deutschland ist nur, wenn
es stark ist. Kräftig zusammengefaßt und doch von schlagfertiger Beweglichkeit,
von einem starken Selbstbewußtsein erfüllt und doch vorsichtig und wachsam,


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[0399] Die geographische Lage Deutschlands Politische Geographie, das Bismarck am 6. Februar 1888 in seiner berühmten großen Rede dem Reichstage gelesen hat. Dort heißt es: „Gott hat uns in eine Lage gesetzt, in der wir durch unsre Nachbarn daran verhindert werden, irgendwie in Versumpfung oder Trägheit zu geraten. Die französisch-russische Pression, zwischeu die wir genommen werden, zwingt uns zum Zusammen¬ halten und wird unsre Kohäsionsfühigkeit auch durch Zusammendrücken erheblich steigern, sodaß wir in dieselbe Lage der Unzerreißbarkeit kommen, die fast allen andern Nationen eigentümlich ist, und die uns bis jetzt noch fehlt." Bismarck als politischer Geograph und Geschichtsphilosvph ist wohl frei von dem Vor¬ wurf der Beschönigung. Die Lage Deutschlands birgt auch für ihn Gefahren. Wer kennte sie besser? Aber sie umschließt auch Quellen der kräftigenden Selbst¬ erziehung und der gesteigerte» Wirkung nach außen. Allerdings verlangt die Offenhaltung dieser Quellen eine ununterbrochne Aufmerksamkeit und Thätig¬ keit des Volkes. Es kann uns ganz angenehm sein, daß die Engländer nur an die Sicherheit ihrer meerumschlnugneu Lage denken, ohne sich der Kehrseite zu erinnern: der Möglichkeit, von allen Hilfsquellen abgeschnitten zu werden oder der gegebnen Beschränktheit des Raumes, die schon so vielen Jnselvölkern verderblich geworden ist. Uns ist der Luxus einer so optimistischen Betrachtung versagt. Wir müssen die Nachteile und Vorzüge unsrer Lage scharf ins Auge fassen und werden nie darüber im Unklaren sein dürfen, daß unser Staat wesentlich ans dem Willen seiner Bewohner ruht, ihn zu erhalten. Die Seele unsers Staates ist die Seele unsers Volkes. Keinem andern Volke muß es so klar werden wie uns, daß Staaten nicht tot neben einander liegen wie auf der Landkarte. Jede Nachbarschaft ist auch eine Beziehung. Die Staaten müssen aufeinander wirken, und in deu mannichfaltigen Bewegungen der Ge¬ schichte drängen alle gegeneinander. Der schwächere Nachbar wird von dem stärkern seiner Selbständigkeit beraubt. Das Gebiet des starken Staates wächst, das des schwachen weicht zurück. Kleine Nachbarn, die ihren Raum nicht ver¬ größern können, senden den Überschuß ihrer Volkszahl auf das Gebiet des größern; ihre Auswandrer machen zwar dort keine politischen Eroberungen, aber sie erwerben Lohn, oft reichen Lohn, Boden und Einfluß. Die Geschichte kennt Beispiele, wo aus einer solchen scheinbar rein wirtschaftlichen Ausbreitung eine friedliche politische Eroberung hervorging. Jmuitteu aller dieser Be¬ wegungen fest an dem Boden zu halten, den wir als unser Staatsgebiet ab¬ gegrenzt haben, erfordert ununterbrochne Gegenbewegungen von unsrer Seite. Jede Lücke und jede Schwäche würde uns verhängnisvoll werden. Unser inneres Leben muß so stark sein, daß es deu Gedanken an einen Einbruch gar nicht zuläßt, weil es ununterbrochen selbst nach außen wirkt und nach den Grenzen zu noch mehr Energie zeigt als im Kern. Deutschland ist nur, wenn es stark ist. Kräftig zusammengefaßt und doch von schlagfertiger Beweglichkeit, von einem starken Selbstbewußtsein erfüllt und doch vorsichtig und wachsam,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/399>, abgerufen am 01.09.2024.