Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Lin preisausschreiben einer besondern Volkslitteratur heute auch gar kein Bedürfnis mehr; wie es Ernsthaft zu nehmende Bewerbungen um den Tausendmarkpreis gingen Da taucht zunächst die Geschlechterfrage auf. Im allgemeinen nimmt Lin preisausschreiben einer besondern Volkslitteratur heute auch gar kein Bedürfnis mehr; wie es Ernsthaft zu nehmende Bewerbungen um den Tausendmarkpreis gingen Da taucht zunächst die Geschlechterfrage auf. Im allgemeinen nimmt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0040" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222982"/> <fw type="header" place="top"> Lin preisausschreiben</fw><lb/> <p xml:id="ID_98" prev="#ID_97"> einer besondern Volkslitteratur heute auch gar kein Bedürfnis mehr; wie es<lb/> in Deutschland kaum eine volkstümlich gehaltene und geschriebne Zeitung giebt<lb/> und das Bedürfnis nach einer solchen auch nirgends laut wird, so verzichtet<lb/> das Volk selber vielleicht jetzt auch auf das volkstümlich geschriebne Buch, da<lb/> es zu der Gesamtlitteratur Zutritt erlangt hat. Ich kann diese äußerst wichtige<lb/> Frage hier nur flüchtig streifen. Daß die städtische Arbeiterbevölkerung, zum<lb/> Teil durch die sozialdemokratische Presse und Litteratur erzogen, zum Teil im<lb/> Banne der der Sensation dienenden Großstadtpresse, wenig Verlangen nach<lb/> dem hat, was man sonst Volkslitteratur nannte und als solche pflegte, ist<lb/> wohl klar; aber der kleinstädtische Handwerkerstand und die bäuerlichen Kreise<lb/> sind jedenfalls noch für volkstümliche Schriften zu haben, und an sie wendet<lb/> sich denn auch hauptsächlich der Kalender des hinkenden Voden. Da ich den<lb/> Kalender früher einige Jahre mit redigirt hatte, so wurde ich bei dem Preis¬<lb/> ausschreiben jetzt mit zum Preisrichter ernannt. Wenn ich im Einverständnis<lb/> mit der Verlagsbuchhandlung meine Erfahrungen hier zum besten gebe, so<lb/> geschieht das in der Überzeugung, auf Grund eines verhältnismäßig großen<lb/> Materials manches, was für die Litteratur der Gegenwart und die ihr dienenden<lb/> charakteristisch ist, sicherer als es sonst möglich ist, feststellen zu können.</p><lb/> <p xml:id="ID_99"> Ernsthaft zu nehmende Bewerbungen um den Tausendmarkpreis gingen<lb/> nicht weniger als 310 ein, daneben noch eine ganze Anzahl „Kuriosa," Stil-<lb/> übungen ungrammatisch und unorthographisch schreibender Deutschen, vielfach<lb/> auf einem Briefbogen hingeworfen. Da erzählte z. B. ein Bauer eine schöne<lb/> Geschichte, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte, in naivster Weise<lb/> wieder und bat den Kalendermacher, sie in die richtige Form zu bringen;<lb/> da berichtete ein Handwerker ein Ereignis seines Lebens und bat, da es ihm<lb/> schlecht gehe, ihn doch bei dem Preise nicht zu vergessen; ein Krieger von<lb/> 1870 teilte irgend ein Feldzugserlebnis mit und versicherte, daß es nach der<lb/> Aussage aller seiner Freunde „äußerst interessant" sei; ja auch der dem Zei¬<lb/> tungsredakteur wohlbekannte harmlose Verrückte fehlte nicht und sandte voll¬<lb/> ständig blödsinnige Verse. Diese Kuriosa waren bald ausgeschieden. Die<lb/> Schwierigkeit begann erst, als es unter den übrigbleibenden 310 Manuskripten<lb/> das Gute und Schlechte zu sondern galt. Fragen wir aber zuerst: Wer waren<lb/> die Einsender?</p><lb/> <p xml:id="ID_100" next="#ID_101"> Da taucht zunächst die Geschlechterfrage auf. Im allgemeinen nimmt<lb/> man heute an, daß die schreibende Weiblichkeit in der Durchschnittslitteratur<lb/> überwiege. Das scheint aber nach unserm Material eine falsche Annahme zu<lb/> sein. Ganz genau ist das Verhältnis von Mann und Weib in solchen Füllen<lb/> ja nicht festzustellen, da die Frauen und Vorliebe männliche Verhüllungen<lb/> wählen, und wenn sie nur ihren Vornamen nicht ausschreiben, auch die Hand¬<lb/> schrift sie nicht immer verrät; aber annähernd genau kann ich es doch angeben.<lb/> Soweit ich es übersehen konnte, rührten unter den 310 Arbeiten 125 bis 140</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0040]
Lin preisausschreiben
einer besondern Volkslitteratur heute auch gar kein Bedürfnis mehr; wie es
in Deutschland kaum eine volkstümlich gehaltene und geschriebne Zeitung giebt
und das Bedürfnis nach einer solchen auch nirgends laut wird, so verzichtet
das Volk selber vielleicht jetzt auch auf das volkstümlich geschriebne Buch, da
es zu der Gesamtlitteratur Zutritt erlangt hat. Ich kann diese äußerst wichtige
Frage hier nur flüchtig streifen. Daß die städtische Arbeiterbevölkerung, zum
Teil durch die sozialdemokratische Presse und Litteratur erzogen, zum Teil im
Banne der der Sensation dienenden Großstadtpresse, wenig Verlangen nach
dem hat, was man sonst Volkslitteratur nannte und als solche pflegte, ist
wohl klar; aber der kleinstädtische Handwerkerstand und die bäuerlichen Kreise
sind jedenfalls noch für volkstümliche Schriften zu haben, und an sie wendet
sich denn auch hauptsächlich der Kalender des hinkenden Voden. Da ich den
Kalender früher einige Jahre mit redigirt hatte, so wurde ich bei dem Preis¬
ausschreiben jetzt mit zum Preisrichter ernannt. Wenn ich im Einverständnis
mit der Verlagsbuchhandlung meine Erfahrungen hier zum besten gebe, so
geschieht das in der Überzeugung, auf Grund eines verhältnismäßig großen
Materials manches, was für die Litteratur der Gegenwart und die ihr dienenden
charakteristisch ist, sicherer als es sonst möglich ist, feststellen zu können.
Ernsthaft zu nehmende Bewerbungen um den Tausendmarkpreis gingen
nicht weniger als 310 ein, daneben noch eine ganze Anzahl „Kuriosa," Stil-
übungen ungrammatisch und unorthographisch schreibender Deutschen, vielfach
auf einem Briefbogen hingeworfen. Da erzählte z. B. ein Bauer eine schöne
Geschichte, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte, in naivster Weise
wieder und bat den Kalendermacher, sie in die richtige Form zu bringen;
da berichtete ein Handwerker ein Ereignis seines Lebens und bat, da es ihm
schlecht gehe, ihn doch bei dem Preise nicht zu vergessen; ein Krieger von
1870 teilte irgend ein Feldzugserlebnis mit und versicherte, daß es nach der
Aussage aller seiner Freunde „äußerst interessant" sei; ja auch der dem Zei¬
tungsredakteur wohlbekannte harmlose Verrückte fehlte nicht und sandte voll¬
ständig blödsinnige Verse. Diese Kuriosa waren bald ausgeschieden. Die
Schwierigkeit begann erst, als es unter den übrigbleibenden 310 Manuskripten
das Gute und Schlechte zu sondern galt. Fragen wir aber zuerst: Wer waren
die Einsender?
Da taucht zunächst die Geschlechterfrage auf. Im allgemeinen nimmt
man heute an, daß die schreibende Weiblichkeit in der Durchschnittslitteratur
überwiege. Das scheint aber nach unserm Material eine falsche Annahme zu
sein. Ganz genau ist das Verhältnis von Mann und Weib in solchen Füllen
ja nicht festzustellen, da die Frauen und Vorliebe männliche Verhüllungen
wählen, und wenn sie nur ihren Vornamen nicht ausschreiben, auch die Hand¬
schrift sie nicht immer verrät; aber annähernd genau kann ich es doch angeben.
Soweit ich es übersehen konnte, rührten unter den 310 Arbeiten 125 bis 140
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