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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Ursachen der Unsicherheit im Innern

le Krisengerüchte wollen nicht verstummen. Man glaubt nicht
daran, daß die jetzige Regierung von großer Dauer sein werde.
Man glaubt auch, daß noch andre Gründe als das hohe Alter
und der Gesundheitszustand des Reichskanzlers hierfür bestimmend
seien. Man hat sich daran gewöhnt, unsre politische Lage als
""sicher anzusehen. Und besonders der gegenwärtigen Regierung ist von Anfang
an keine lange Dauer prophezeit worden. Neuerdings sind aber durch den Rück¬
tritt des Kriegsministers die öfter geäußerten Vermutungen bestätigt worden,
und so scheint es, daß wir uns bereits mitten in einer Krisis befinden.

Wodurch entsteht diese Unsicherheit? Was auch immer den einzelnen
Ministern vorgeworfen werden mag, ob sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen
sein "logen, die Ursache der Unsicherheit liegt doch tiefer. Sie entsteht dnrch
das Bestreben, nach Grundsätzen zu regieren, die sich in dem heutigen politischen
Leben nicht durchführen lassen.

In konstitutionell regierten Ländern Pflegen die Führer der politischen
Parteien zur Leitung der Staatsgeschäfte berufe" zu werden, und das Stärke¬
verhältnis der Parteien entscheidet darüber, welcher Parteirichtnng die Herrschaft
über die Gesetzgebung zufällt. Bei uns mag wegen unsrer ganze" geschichtlichen
Entwicklung die Befolgung konstitutioneller Grundsätze in diesen: strengen Sinne
nicht notwendig sein. Ja wenn der Versuch gemacht würde, bei uns mit einem
Schlage eine solche Regierungsweise einzuführen, so ist es sogar zweifelhaft, ob
das ersprießliche Folgen haben würde. Aber wie wir auch immer die Eigen¬
tümlichkeiten des Volkscharakters und die sonstige" i" Betracht kommenden
Verhältnisse berücksichtigen "logen, anch bei uns ist es doch unerläßlich, daß
die Negierung die Volksstimmung beachte, daß sie darnach ihre Maßnahme"
treffe, ihre Vorschläge mache. Das ist auch dem Grundsätze nach immer a"-


Grenzboten III 1896 ' 49


Die Ursachen der Unsicherheit im Innern

le Krisengerüchte wollen nicht verstummen. Man glaubt nicht
daran, daß die jetzige Regierung von großer Dauer sein werde.
Man glaubt auch, daß noch andre Gründe als das hohe Alter
und der Gesundheitszustand des Reichskanzlers hierfür bestimmend
seien. Man hat sich daran gewöhnt, unsre politische Lage als
»»sicher anzusehen. Und besonders der gegenwärtigen Regierung ist von Anfang
an keine lange Dauer prophezeit worden. Neuerdings sind aber durch den Rück¬
tritt des Kriegsministers die öfter geäußerten Vermutungen bestätigt worden,
und so scheint es, daß wir uns bereits mitten in einer Krisis befinden.

Wodurch entsteht diese Unsicherheit? Was auch immer den einzelnen
Ministern vorgeworfen werden mag, ob sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen
sein »logen, die Ursache der Unsicherheit liegt doch tiefer. Sie entsteht dnrch
das Bestreben, nach Grundsätzen zu regieren, die sich in dem heutigen politischen
Leben nicht durchführen lassen.

In konstitutionell regierten Ländern Pflegen die Führer der politischen
Parteien zur Leitung der Staatsgeschäfte berufe» zu werden, und das Stärke¬
verhältnis der Parteien entscheidet darüber, welcher Parteirichtnng die Herrschaft
über die Gesetzgebung zufällt. Bei uns mag wegen unsrer ganze» geschichtlichen
Entwicklung die Befolgung konstitutioneller Grundsätze in diesen: strengen Sinne
nicht notwendig sein. Ja wenn der Versuch gemacht würde, bei uns mit einem
Schlage eine solche Regierungsweise einzuführen, so ist es sogar zweifelhaft, ob
das ersprießliche Folgen haben würde. Aber wie wir auch immer die Eigen¬
tümlichkeiten des Volkscharakters und die sonstige» i» Betracht kommenden
Verhältnisse berücksichtigen »logen, anch bei uns ist es doch unerläßlich, daß
die Negierung die Volksstimmung beachte, daß sie darnach ihre Maßnahme»
treffe, ihre Vorschläge mache. Das ist auch dem Grundsätze nach immer a»-


Grenzboten III 1896 ' 49
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[0393] [Abbildung] Die Ursachen der Unsicherheit im Innern le Krisengerüchte wollen nicht verstummen. Man glaubt nicht daran, daß die jetzige Regierung von großer Dauer sein werde. Man glaubt auch, daß noch andre Gründe als das hohe Alter und der Gesundheitszustand des Reichskanzlers hierfür bestimmend seien. Man hat sich daran gewöhnt, unsre politische Lage als »»sicher anzusehen. Und besonders der gegenwärtigen Regierung ist von Anfang an keine lange Dauer prophezeit worden. Neuerdings sind aber durch den Rück¬ tritt des Kriegsministers die öfter geäußerten Vermutungen bestätigt worden, und so scheint es, daß wir uns bereits mitten in einer Krisis befinden. Wodurch entsteht diese Unsicherheit? Was auch immer den einzelnen Ministern vorgeworfen werden mag, ob sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sein »logen, die Ursache der Unsicherheit liegt doch tiefer. Sie entsteht dnrch das Bestreben, nach Grundsätzen zu regieren, die sich in dem heutigen politischen Leben nicht durchführen lassen. In konstitutionell regierten Ländern Pflegen die Führer der politischen Parteien zur Leitung der Staatsgeschäfte berufe» zu werden, und das Stärke¬ verhältnis der Parteien entscheidet darüber, welcher Parteirichtnng die Herrschaft über die Gesetzgebung zufällt. Bei uns mag wegen unsrer ganze» geschichtlichen Entwicklung die Befolgung konstitutioneller Grundsätze in diesen: strengen Sinne nicht notwendig sein. Ja wenn der Versuch gemacht würde, bei uns mit einem Schlage eine solche Regierungsweise einzuführen, so ist es sogar zweifelhaft, ob das ersprießliche Folgen haben würde. Aber wie wir auch immer die Eigen¬ tümlichkeiten des Volkscharakters und die sonstige» i» Betracht kommenden Verhältnisse berücksichtigen »logen, anch bei uns ist es doch unerläßlich, daß die Negierung die Volksstimmung beachte, daß sie darnach ihre Maßnahme» treffe, ihre Vorschläge mache. Das ist auch dem Grundsätze nach immer a»- Grenzboten III 1896 ' 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/393>, abgerufen am 01.09.2024.