Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur dessen, was der Chirurg mit dem Messer nicht finden kann, und was doch "Politisch" hat der Verfasser seine Briefe genannt, weil er meint, daß seine Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur dessen, was der Chirurg mit dem Messer nicht finden kann, und was doch „Politisch" hat der Verfasser seine Briefe genannt, weil er meint, daß seine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0386" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223328"/> <fw type="header" place="top"> Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1103" prev="#ID_1102"> dessen, was der Chirurg mit dem Messer nicht finden kann, und was doch<lb/> in ihm ist" (S. 18). Wir kennen aber wohl Chirurgen, die den Menschen<lb/> Arme und Beine abschneiden, würden es aber doch nicht für rätlich halten,<lb/> sie uns bei lebendigem Leibe so nahe kommen zu lassen, daß sie in den „Sitz<lb/> unsers Empfindens" eindringen könnten. Hat er sich ferner wohl einen Augen¬<lb/> blick klar zu machen versucht, wie er es anstellen will, eine Aureole oder<lb/> eine Apotheose zu „zertrümmern" (S. 72)? Oder hat er an etwas andres als an<lb/> die mechanische Satzbildung gedacht, als er S. 91 schrieb: „die nach innen<lb/> gewandte Erziehung gewinnt eine neue, tiefere Bedeutung: die der exekutiven<lb/> Neformfähigkeit in sich"? Denn die Worte scheinen uns keinen Sinn zu<lb/> haben. Eine Broschüre, zumal wenn sie namenlos erscheint, sodaß man sie<lb/> nicht um ihres Verfassers willen liest, muß klar und treffend geschrieben sein,<lb/> womöglich auch unterhaltend und etwas spannend. Diese hier ist nur lehr¬<lb/> haft und macht uns noch dazu das Lernen ziemlich schwer. Aber vielleicht<lb/> lohnt es sich gerade darum.</p><lb/> <p xml:id="ID_1104" next="#ID_1105"> „Politisch" hat der Verfasser seine Briefe genannt, weil er meint, daß seine<lb/> Fragen von öffentlichem Interesse seien und den Staat etwas angingen, dieser<lb/> wohl auch etwas zu ihrer Lösung thun könne. „Ästhetisch" sind sie, insofern<lb/> sich der Verfasser mit Gegenständen der Litteratur und der Kunst beschäftigt.<lb/> Hören wir also. Von S. 49 an handelt er über das Nativnaldenkmal von<lb/> Begas und über Hauptmanns Hcmnele und sieht „das Hervorstechende der<lb/> beiden Werke," also das, was die Zusammenstellung in seinen Augen recht¬<lb/> fertigt, bei dem Denkmal in der „Größe des plastischen Vorwurfs und der<lb/> unbestreitbar vollen und vornehmen Künstlernatur des ausführenden Meisters,"<lb/> bei dem Theaterstück aber in dem „geistigen und gesellschaftlichen Niveau derer,"<lb/> die es auf der Bühne des Schauspielhauses zugelassen haben. Und dieses<lb/> sein „Hervorstechendes" ist ihm außerdem noch „sei es ein unterlegtes (!) oder<lb/> begründetes." Wir glauben nach diesem Anfange nicht, daß in der Be¬<lb/> schäftigung mit Kunst und Litteratur von jeher die Stärke des Verfassers ge¬<lb/> legen habe, und können uns auch von seinen praktischen oder, wie er sie be¬<lb/> zeichnet, politischen Gedanken nichts andres versprechen, als eine „Erfolgs¬<lb/> unmöglichkeit dieser Absicht," um einen nicht gewöhnlichen, aber in diesem Falle<lb/> zutreffenden Ausdruck von ihm selbst zu gebrauchen. Denn daß die Kunst „das<lb/> Aschenbrödel des Staats ist," entgeht zwar seiner Einsicht nicht, aber es wird<lb/> nirgends klar, wie er das praktisch zu ändern gedenkt. Er mißbilligt es, daß<lb/> in den Zeichensälen Anatomie getrieben wird, wovor die Griechen aus religiöser<lb/> Scheu zurückschreckten, und daß die Akademien „aus der Technik die künstlerische<lb/> Begabung gewinnen wollen," während sie „umgekehrt die Künstlernatur, die<lb/> immer sporadische, zur vorhandnen Intuition nur im Handgriff zu belehren<lb/> hätten." Dagegen hat er eine Art Menschheitsschule im Auge,, wo nichts<lb/> auswendig gelernt werden darf, sondern für das zu erzielende Kunstverständnis</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0386]
Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur
dessen, was der Chirurg mit dem Messer nicht finden kann, und was doch
in ihm ist" (S. 18). Wir kennen aber wohl Chirurgen, die den Menschen
Arme und Beine abschneiden, würden es aber doch nicht für rätlich halten,
sie uns bei lebendigem Leibe so nahe kommen zu lassen, daß sie in den „Sitz
unsers Empfindens" eindringen könnten. Hat er sich ferner wohl einen Augen¬
blick klar zu machen versucht, wie er es anstellen will, eine Aureole oder
eine Apotheose zu „zertrümmern" (S. 72)? Oder hat er an etwas andres als an
die mechanische Satzbildung gedacht, als er S. 91 schrieb: „die nach innen
gewandte Erziehung gewinnt eine neue, tiefere Bedeutung: die der exekutiven
Neformfähigkeit in sich"? Denn die Worte scheinen uns keinen Sinn zu
haben. Eine Broschüre, zumal wenn sie namenlos erscheint, sodaß man sie
nicht um ihres Verfassers willen liest, muß klar und treffend geschrieben sein,
womöglich auch unterhaltend und etwas spannend. Diese hier ist nur lehr¬
haft und macht uns noch dazu das Lernen ziemlich schwer. Aber vielleicht
lohnt es sich gerade darum.
„Politisch" hat der Verfasser seine Briefe genannt, weil er meint, daß seine
Fragen von öffentlichem Interesse seien und den Staat etwas angingen, dieser
wohl auch etwas zu ihrer Lösung thun könne. „Ästhetisch" sind sie, insofern
sich der Verfasser mit Gegenständen der Litteratur und der Kunst beschäftigt.
Hören wir also. Von S. 49 an handelt er über das Nativnaldenkmal von
Begas und über Hauptmanns Hcmnele und sieht „das Hervorstechende der
beiden Werke," also das, was die Zusammenstellung in seinen Augen recht¬
fertigt, bei dem Denkmal in der „Größe des plastischen Vorwurfs und der
unbestreitbar vollen und vornehmen Künstlernatur des ausführenden Meisters,"
bei dem Theaterstück aber in dem „geistigen und gesellschaftlichen Niveau derer,"
die es auf der Bühne des Schauspielhauses zugelassen haben. Und dieses
sein „Hervorstechendes" ist ihm außerdem noch „sei es ein unterlegtes (!) oder
begründetes." Wir glauben nach diesem Anfange nicht, daß in der Be¬
schäftigung mit Kunst und Litteratur von jeher die Stärke des Verfassers ge¬
legen habe, und können uns auch von seinen praktischen oder, wie er sie be¬
zeichnet, politischen Gedanken nichts andres versprechen, als eine „Erfolgs¬
unmöglichkeit dieser Absicht," um einen nicht gewöhnlichen, aber in diesem Falle
zutreffenden Ausdruck von ihm selbst zu gebrauchen. Denn daß die Kunst „das
Aschenbrödel des Staats ist," entgeht zwar seiner Einsicht nicht, aber es wird
nirgends klar, wie er das praktisch zu ändern gedenkt. Er mißbilligt es, daß
in den Zeichensälen Anatomie getrieben wird, wovor die Griechen aus religiöser
Scheu zurückschreckten, und daß die Akademien „aus der Technik die künstlerische
Begabung gewinnen wollen," während sie „umgekehrt die Künstlernatur, die
immer sporadische, zur vorhandnen Intuition nur im Handgriff zu belehren
hätten." Dagegen hat er eine Art Menschheitsschule im Auge,, wo nichts
auswendig gelernt werden darf, sondern für das zu erzielende Kunstverständnis
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