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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur

Bücher nicht geschrieben werden. Er sagt z. B>: "Der Arbeiter, hinter dessen leb¬
haftem Verlangen nach sozialen Verbesserungen auch das nach Befriedigung seines
Kunstgefühls schlummert, hat sich bisher noch wenig um sie gekümmert.
Sicher ist das nicht seine Schuld, sondern die der mangelnden Kunsterziehung,
die es nicht verstanden hat, in die Mansarden- oder Kellerwohnungen zu
dringen." Wir haben noch keinen Arbeiter kennen gelernt, der Kunstbedürfnis
gehabt Hütte, außer wenn er den Beruf hatte, selbst eine Art Künstler zu sein,
wie mancher Möbeltischler. Für alle übrigen kommt das Knnstbedürfnis, von
dessen Erfüllung sich der Verfasser soviel verspricht, von selbst an die Reihe,
wenn -- erst alles andre da ist. Aber -- doch wir wollen dem Verfasser lieber
in eine andre Gedankenreihe folgen.

Es ist reizend, in seinen Abbildungen von Bauernstühlen, Bauernschräuken,
Bauerntischen, Bauernornamenten usw. zu blättern, wirklich poetisch. Aber
könnte man damit wohl die Kunst, deren das Leben nun einmal bedarf, auf¬
bauen? Hänser ganz gewiß nicht. Es sind doch immer nur noch einzelne Stücke,
Ausstattnngsgeräte, Zierteile und dergleichen, die verwendbar wären, und das
alles wäre doch auch immer nur mehr für die verfeinerten Menschen, die sich
in dem Zustande wohlhabenden Behagens diese Vereinfachungen, so zu
sagen, leisten, um sich einmal an den Gegensätzen des Lebens zu erfreuen.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Handwerk. Der Verfasser liebt den Kerb¬
schnitt. Wir auch. Aber was kann man damit "machen?" Wenn die Jungen
in den Städten keine Fenster mehr einwerfen dürfen und keine Schneemänner
mehr machen können und die Mutter ihnen dann einen Platz für die unver¬
meidliche Schmutzerei einrünmen kann und mag, so giebt das eine ganz
hübsche Winterbeschäftigung. Aber als Dekoration an Möbeln macht doch der
Kerbschnitt zu wenig aus, um sich bezahlt zu machen. Relief leistet mehr,
und Stecharbcit geht schneller. Kerbschnitt wird wohl hie und da im Kunst¬
gewerbe angewandt, aber die Unternehmer klagen bei jedem schönen Stück,
daß es zu teuer geworden sei und sich schwer verkaufe. Geübte Schnitzerinnen,
die sich damit einen Teil ihres Unterhalts verdienen, sagen, daß sie nicht
auf ihre Kosten kommen würden, wenn sie sich ihre Arbeit stundenweise nur
nach einem bescheidnen Satze bezahlen lassen wollten. Und so geht es auch
in andern Teilen der Volkskunst. Wir können uns daran freuen und werden
und wollen sie nicht untergehen lassen, aber für unsre praktische Kunst und
für unsre sozialen Bedürfnisse steht das alles leider sehr im Hintergrunde.

Die Verbindung von Kunstbetrachtnng mit Ausblicken in das Leben findet
sich wie in Mielkes Buch auch in den Acsthetisch-politischen Briefen von
einem Ästhetiker. (Leipzig, Werther, 1896.) Im übrigen aber sind sie etwas
ganz andres. Ihre Sprache ist Schulsprache, die Gedanken sind nicht immer
abgeklärt, und die Sätze sind manchmal nicht leicht zu genießen. So ist
ihrem Verfasser z.B. die Vernunft "die weise Beraterin seines Empfindens --


Grenzboten III 1896 48
Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur

Bücher nicht geschrieben werden. Er sagt z. B>: „Der Arbeiter, hinter dessen leb¬
haftem Verlangen nach sozialen Verbesserungen auch das nach Befriedigung seines
Kunstgefühls schlummert, hat sich bisher noch wenig um sie gekümmert.
Sicher ist das nicht seine Schuld, sondern die der mangelnden Kunsterziehung,
die es nicht verstanden hat, in die Mansarden- oder Kellerwohnungen zu
dringen." Wir haben noch keinen Arbeiter kennen gelernt, der Kunstbedürfnis
gehabt Hütte, außer wenn er den Beruf hatte, selbst eine Art Künstler zu sein,
wie mancher Möbeltischler. Für alle übrigen kommt das Knnstbedürfnis, von
dessen Erfüllung sich der Verfasser soviel verspricht, von selbst an die Reihe,
wenn — erst alles andre da ist. Aber — doch wir wollen dem Verfasser lieber
in eine andre Gedankenreihe folgen.

Es ist reizend, in seinen Abbildungen von Bauernstühlen, Bauernschräuken,
Bauerntischen, Bauernornamenten usw. zu blättern, wirklich poetisch. Aber
könnte man damit wohl die Kunst, deren das Leben nun einmal bedarf, auf¬
bauen? Hänser ganz gewiß nicht. Es sind doch immer nur noch einzelne Stücke,
Ausstattnngsgeräte, Zierteile und dergleichen, die verwendbar wären, und das
alles wäre doch auch immer nur mehr für die verfeinerten Menschen, die sich
in dem Zustande wohlhabenden Behagens diese Vereinfachungen, so zu
sagen, leisten, um sich einmal an den Gegensätzen des Lebens zu erfreuen.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Handwerk. Der Verfasser liebt den Kerb¬
schnitt. Wir auch. Aber was kann man damit „machen?" Wenn die Jungen
in den Städten keine Fenster mehr einwerfen dürfen und keine Schneemänner
mehr machen können und die Mutter ihnen dann einen Platz für die unver¬
meidliche Schmutzerei einrünmen kann und mag, so giebt das eine ganz
hübsche Winterbeschäftigung. Aber als Dekoration an Möbeln macht doch der
Kerbschnitt zu wenig aus, um sich bezahlt zu machen. Relief leistet mehr,
und Stecharbcit geht schneller. Kerbschnitt wird wohl hie und da im Kunst¬
gewerbe angewandt, aber die Unternehmer klagen bei jedem schönen Stück,
daß es zu teuer geworden sei und sich schwer verkaufe. Geübte Schnitzerinnen,
die sich damit einen Teil ihres Unterhalts verdienen, sagen, daß sie nicht
auf ihre Kosten kommen würden, wenn sie sich ihre Arbeit stundenweise nur
nach einem bescheidnen Satze bezahlen lassen wollten. Und so geht es auch
in andern Teilen der Volkskunst. Wir können uns daran freuen und werden
und wollen sie nicht untergehen lassen, aber für unsre praktische Kunst und
für unsre sozialen Bedürfnisse steht das alles leider sehr im Hintergrunde.

Die Verbindung von Kunstbetrachtnng mit Ausblicken in das Leben findet
sich wie in Mielkes Buch auch in den Acsthetisch-politischen Briefen von
einem Ästhetiker. (Leipzig, Werther, 1896.) Im übrigen aber sind sie etwas
ganz andres. Ihre Sprache ist Schulsprache, die Gedanken sind nicht immer
abgeklärt, und die Sätze sind manchmal nicht leicht zu genießen. So ist
ihrem Verfasser z.B. die Vernunft „die weise Beraterin seines Empfindens —


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[0385] Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur Bücher nicht geschrieben werden. Er sagt z. B>: „Der Arbeiter, hinter dessen leb¬ haftem Verlangen nach sozialen Verbesserungen auch das nach Befriedigung seines Kunstgefühls schlummert, hat sich bisher noch wenig um sie gekümmert. Sicher ist das nicht seine Schuld, sondern die der mangelnden Kunsterziehung, die es nicht verstanden hat, in die Mansarden- oder Kellerwohnungen zu dringen." Wir haben noch keinen Arbeiter kennen gelernt, der Kunstbedürfnis gehabt Hütte, außer wenn er den Beruf hatte, selbst eine Art Künstler zu sein, wie mancher Möbeltischler. Für alle übrigen kommt das Knnstbedürfnis, von dessen Erfüllung sich der Verfasser soviel verspricht, von selbst an die Reihe, wenn — erst alles andre da ist. Aber — doch wir wollen dem Verfasser lieber in eine andre Gedankenreihe folgen. Es ist reizend, in seinen Abbildungen von Bauernstühlen, Bauernschräuken, Bauerntischen, Bauernornamenten usw. zu blättern, wirklich poetisch. Aber könnte man damit wohl die Kunst, deren das Leben nun einmal bedarf, auf¬ bauen? Hänser ganz gewiß nicht. Es sind doch immer nur noch einzelne Stücke, Ausstattnngsgeräte, Zierteile und dergleichen, die verwendbar wären, und das alles wäre doch auch immer nur mehr für die verfeinerten Menschen, die sich in dem Zustande wohlhabenden Behagens diese Vereinfachungen, so zu sagen, leisten, um sich einmal an den Gegensätzen des Lebens zu erfreuen. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Handwerk. Der Verfasser liebt den Kerb¬ schnitt. Wir auch. Aber was kann man damit „machen?" Wenn die Jungen in den Städten keine Fenster mehr einwerfen dürfen und keine Schneemänner mehr machen können und die Mutter ihnen dann einen Platz für die unver¬ meidliche Schmutzerei einrünmen kann und mag, so giebt das eine ganz hübsche Winterbeschäftigung. Aber als Dekoration an Möbeln macht doch der Kerbschnitt zu wenig aus, um sich bezahlt zu machen. Relief leistet mehr, und Stecharbcit geht schneller. Kerbschnitt wird wohl hie und da im Kunst¬ gewerbe angewandt, aber die Unternehmer klagen bei jedem schönen Stück, daß es zu teuer geworden sei und sich schwer verkaufe. Geübte Schnitzerinnen, die sich damit einen Teil ihres Unterhalts verdienen, sagen, daß sie nicht auf ihre Kosten kommen würden, wenn sie sich ihre Arbeit stundenweise nur nach einem bescheidnen Satze bezahlen lassen wollten. Und so geht es auch in andern Teilen der Volkskunst. Wir können uns daran freuen und werden und wollen sie nicht untergehen lassen, aber für unsre praktische Kunst und für unsre sozialen Bedürfnisse steht das alles leider sehr im Hintergrunde. Die Verbindung von Kunstbetrachtnng mit Ausblicken in das Leben findet sich wie in Mielkes Buch auch in den Acsthetisch-politischen Briefen von einem Ästhetiker. (Leipzig, Werther, 1896.) Im übrigen aber sind sie etwas ganz andres. Ihre Sprache ist Schulsprache, die Gedanken sind nicht immer abgeklärt, und die Sätze sind manchmal nicht leicht zu genießen. So ist ihrem Verfasser z.B. die Vernunft „die weise Beraterin seines Empfindens — Grenzboten III 1896 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/385>, abgerufen am 24.11.2024.