Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur nur die Geschmacksbildung auf sinnlichem Wege bleibt, Vorträge von Liedern, Wer als gebildeter denkender Mensch oder einer einzelnen bestimmten Auf¬ Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur nur die Geschmacksbildung auf sinnlichem Wege bleibt, Vorträge von Liedern, Wer als gebildeter denkender Mensch oder einer einzelnen bestimmten Auf¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223329"/> <fw type="header" place="top"> Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1105" prev="#ID_1104"> nur die Geschmacksbildung auf sinnlichem Wege bleibt, Vorträge von Liedern,<lb/> Orgelkompositionen, Anschciuen von Bildern usw. Aber wir wollen das nicht<lb/> im einzelnen verfolgen. Wer sich dafür interessirt, findet unter anderm auch<lb/> noch einen „gangbaren Weg zu einer Neugestaltung des thätigen und sittlichen<lb/> Lebens: die absolute Scheidung der materiellen Interessen von den geistigen,<lb/> eine Reform, die erst das Geistige in das Ideale wandelt," was dann, um<lb/> etwaige Zweifel zu besiegen, einstweilen nicht anders als durch gesperrten Druck<lb/> bekräftigt werden konnte. Übrigens sagt der Verfasser auch sehr viel richtiges<lb/> und gutes über den Widerstreit unsrer Verstandesbildung mit dem Gemüts¬<lb/> leben, ohne daß wir etwas anzugeben wüßten, was wir bei ihm zuerst in dieser<lb/> Form ausgedrückt gefunden hätten. Es scheint, als läge ihm die Erörterung<lb/> allgemeiner sittlicher Fragen mit etwas philosophischer Färbung näher, als<lb/> jene ganz konkreten Sachen, die Kenntnis und Reife des Urteils fordern, wovon<lb/> in seinen „ästhetisch-politischen Briefen" nichts, vielleicht dürfen wir sagen:<lb/> noch nichts zu spüren ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1106" next="#ID_1107"> Wer als gebildeter denkender Mensch oder einer einzelnen bestimmten Auf¬<lb/> gabe gegenüber, z. B. als wohlhabender Bauherr zu einem selbständigen Urteil<lb/> angeleitet werden möchte über das, was innerhalb unsrer heutigen Architektur<lb/> möglich oder nicht möglich ist, dem empfehlen wir die Architektonischen<lb/> Betrachtungen eines deutschen Baumeisters, mit besondrer Beziehung auf<lb/> deutsches Wesen in deutscher Baukunst von Robert Neumann. (Berlin, Ernst<lb/> und Sohn, 1896.) Er findet darin zuerst eine historische Übersicht über die<lb/> Baustile in ihrem Zusammenhang mit dem Leben der Völker und ihrer be¬<lb/> sondern Geschichte, alles gut und klar dagelegt, nichts zu weit hergeholt, dann<lb/> in einem zweiten Teile die Folgerungen in Bezug auf die Art, wie man heute<lb/> bauen oder nicht bauen sollte. Der Verfasser ist nicht einseitig für einen be¬<lb/> stimmten Stil eingenommen, und er meint auch nicht, daß die nächste Zukunft<lb/> noch einen neuen Stil zu erfinden hätte. Man soll aus dem Borhandnen<lb/> auswählen und zusammenfügen und dabei dem nationalen Gefühl gerecht zu<lb/> werden und einen Gedanken auszudrücken suchen, so wie die Alten mit ihren<lb/> historischen Stilen bestimmte Gedanken ausgedrückt haben. Über das Ver¬<lb/> hältnis der beiden großen organischen Baustile der Vergangenheit, des<lb/> griechischen und des gotischen, spricht er sich so aus, daß man ihm wohl<lb/> zustimmen kann. Er nimmt den gotischen nicht ausschließlich für uns in An¬<lb/> spruch und sieht andrerseits als Zögling der Berliner Banakademie mit<lb/> Recht in dem griechischen die beste praktische Vorschule für die Beschäftigung<lb/> mit jedem andern Stil. In diesem Zusammenhange werden auch Karl<lb/> Vöttichers Verdienste um die Erklärung der griechischen Bauglieder gebührend<lb/> anerkannt, nicht überschätzt, aber auch nicht bemäkelt, wie das jetzt Mode ist.<lb/> Bötticher ist mit seiner Strnkturshmbolik im einzelnen vielfach in die Irre ge¬<lb/> gangen, aber an alle Einzelheiten hat auch außer ihm vielleicht zu keiner Zeit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0387]
Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur
nur die Geschmacksbildung auf sinnlichem Wege bleibt, Vorträge von Liedern,
Orgelkompositionen, Anschciuen von Bildern usw. Aber wir wollen das nicht
im einzelnen verfolgen. Wer sich dafür interessirt, findet unter anderm auch
noch einen „gangbaren Weg zu einer Neugestaltung des thätigen und sittlichen
Lebens: die absolute Scheidung der materiellen Interessen von den geistigen,
eine Reform, die erst das Geistige in das Ideale wandelt," was dann, um
etwaige Zweifel zu besiegen, einstweilen nicht anders als durch gesperrten Druck
bekräftigt werden konnte. Übrigens sagt der Verfasser auch sehr viel richtiges
und gutes über den Widerstreit unsrer Verstandesbildung mit dem Gemüts¬
leben, ohne daß wir etwas anzugeben wüßten, was wir bei ihm zuerst in dieser
Form ausgedrückt gefunden hätten. Es scheint, als läge ihm die Erörterung
allgemeiner sittlicher Fragen mit etwas philosophischer Färbung näher, als
jene ganz konkreten Sachen, die Kenntnis und Reife des Urteils fordern, wovon
in seinen „ästhetisch-politischen Briefen" nichts, vielleicht dürfen wir sagen:
noch nichts zu spüren ist.
Wer als gebildeter denkender Mensch oder einer einzelnen bestimmten Auf¬
gabe gegenüber, z. B. als wohlhabender Bauherr zu einem selbständigen Urteil
angeleitet werden möchte über das, was innerhalb unsrer heutigen Architektur
möglich oder nicht möglich ist, dem empfehlen wir die Architektonischen
Betrachtungen eines deutschen Baumeisters, mit besondrer Beziehung auf
deutsches Wesen in deutscher Baukunst von Robert Neumann. (Berlin, Ernst
und Sohn, 1896.) Er findet darin zuerst eine historische Übersicht über die
Baustile in ihrem Zusammenhang mit dem Leben der Völker und ihrer be¬
sondern Geschichte, alles gut und klar dagelegt, nichts zu weit hergeholt, dann
in einem zweiten Teile die Folgerungen in Bezug auf die Art, wie man heute
bauen oder nicht bauen sollte. Der Verfasser ist nicht einseitig für einen be¬
stimmten Stil eingenommen, und er meint auch nicht, daß die nächste Zukunft
noch einen neuen Stil zu erfinden hätte. Man soll aus dem Borhandnen
auswählen und zusammenfügen und dabei dem nationalen Gefühl gerecht zu
werden und einen Gedanken auszudrücken suchen, so wie die Alten mit ihren
historischen Stilen bestimmte Gedanken ausgedrückt haben. Über das Ver¬
hältnis der beiden großen organischen Baustile der Vergangenheit, des
griechischen und des gotischen, spricht er sich so aus, daß man ihm wohl
zustimmen kann. Er nimmt den gotischen nicht ausschließlich für uns in An¬
spruch und sieht andrerseits als Zögling der Berliner Banakademie mit
Recht in dem griechischen die beste praktische Vorschule für die Beschäftigung
mit jedem andern Stil. In diesem Zusammenhange werden auch Karl
Vöttichers Verdienste um die Erklärung der griechischen Bauglieder gebührend
anerkannt, nicht überschätzt, aber auch nicht bemäkelt, wie das jetzt Mode ist.
Bötticher ist mit seiner Strnkturshmbolik im einzelnen vielfach in die Irre ge¬
gangen, aber an alle Einzelheiten hat auch außer ihm vielleicht zu keiner Zeit
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