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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten uns die Jungen

Erzeugnisse des Tages, die seine eignen Neigungen rechtfertigen und seine
Leiden beschönigen, als Werke von Bedeutung anzusehen und anzupreisen."
An einer andern Stelle schreibt er: "Der Verfallzeitler versteht es, seine
Willensschwäche auf die geistreichste Weise zu verhüllen; er versucht es nicht
einmal zu Wollen; er ist im höchsten Grade wählerisch in seinen Geistesgenüssen
und genießt zuletzt nur solche Werke, die schon Erzeugnisse eines Ansnahme-
zustandcs sind, einer herbstlich reifen Weltanschauung, eines Blickes für die
Scheidegrenze zwischeu beginnender Fäulnis und strotzender Gesundheit. Er
liebt die Werke, in denen die mannichfaltigsten Säfte und Düfte vermengt sind,
die das Nahe und Ferne verschmelzen; er liebt vor allem die Kontraste ge¬
waltsamster Art: der Naiv-Unschuldige wie der Lüstling, den nur die knospende
Schönheit noch reizen kann; das Künstlich-Natürliche neben dem Brutalen,
das die Nerven zu zerreißen droht. Es liegt etwas Teuflisches in seinein
Verneinen des Schaffens, in seinem ironischen Einsamkeitsgefühl des Ver¬
bannten, der auf kein Verständnis hoffen kann noch hoffen will. Die Schön¬
heit reizt ihn nicht zum Zeugen, sie wirkt als Narkose." Nun, das ist Deca-
dence in ausgeprägter Form. In ihren Anfängen und bei gewöhnlicheren
Naturen zeigt sie sich doch anders. Für uus handelt es sich darum, die
Kennzeichen ihres Auftretens in der Litteratur zu entdecken, und die sind nicht
schwer zu finde". Wenn die Dichter und Schriftsteller die einfachen, natür¬
lichen und gesunden Verhältnisse nicht mehr sehen können, dagegen jeden faulen
Fleck entdecken, ihn für interessant erklären und mit geheimer Lust und leisem
Grauen beleuchten, wenn sie vor allem das Gleißende und Lockende der Sünde
sehen und mit ihr spielen und tändeln, ja sie mit einer Glorie umkleiden,
wenn sie die Schäden des Volkskörpers, die Schwächen der Zeit nicht mehr
energisch anzugreifen wagen, höchstens darüber jammern, oft eine gewisse
Freude daran haben, wenn sie sich selbst endlich nicht mehr schlicht und wahr¬
haft zu geben verstehen, zu posiren und zu künsteln anfangen, die reinen Kunst-
formen verderben, überall nur den "Effekt" sehen, und um ihn zu erreichen
die raffinirtesten Mittel wählen, dann ist die Decadence da, aber in der Regel
merkt man sie nicht gleich, weder im Leben noch in seinem Spiegelbilde, der
Litteratur. Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß die Decadence in
Deutschland schon vor 1870 begonnen hat und nun schon fast ein Menschen¬
alter hindurch anhält.

Decadence in Deutschland vor 1870? Ich weiß wohl, man liebt es, das
Deutschland vor dem großen Kriege als durchaus tugendhaft und sittenrein
hinzustellen und dadurch den Sieg über das verfaulte Frankreich des zweiten
Kaiserreichs zu erklären; auch leugne ich selbstverständlich nicht, daß die Volks¬
kraft in unserm Vaterlande unversehrter war als jenseits des Rheines. Aber
die Kennzeichen des beginnenden Verfalls sind bei uns vor 1870 so gut zu
erkennen wie in den übrigen europäischen Kulturländern. Die schöne Abend-


Die Alten uns die Jungen

Erzeugnisse des Tages, die seine eignen Neigungen rechtfertigen und seine
Leiden beschönigen, als Werke von Bedeutung anzusehen und anzupreisen."
An einer andern Stelle schreibt er: „Der Verfallzeitler versteht es, seine
Willensschwäche auf die geistreichste Weise zu verhüllen; er versucht es nicht
einmal zu Wollen; er ist im höchsten Grade wählerisch in seinen Geistesgenüssen
und genießt zuletzt nur solche Werke, die schon Erzeugnisse eines Ansnahme-
zustandcs sind, einer herbstlich reifen Weltanschauung, eines Blickes für die
Scheidegrenze zwischeu beginnender Fäulnis und strotzender Gesundheit. Er
liebt die Werke, in denen die mannichfaltigsten Säfte und Düfte vermengt sind,
die das Nahe und Ferne verschmelzen; er liebt vor allem die Kontraste ge¬
waltsamster Art: der Naiv-Unschuldige wie der Lüstling, den nur die knospende
Schönheit noch reizen kann; das Künstlich-Natürliche neben dem Brutalen,
das die Nerven zu zerreißen droht. Es liegt etwas Teuflisches in seinein
Verneinen des Schaffens, in seinem ironischen Einsamkeitsgefühl des Ver¬
bannten, der auf kein Verständnis hoffen kann noch hoffen will. Die Schön¬
heit reizt ihn nicht zum Zeugen, sie wirkt als Narkose." Nun, das ist Deca-
dence in ausgeprägter Form. In ihren Anfängen und bei gewöhnlicheren
Naturen zeigt sie sich doch anders. Für uus handelt es sich darum, die
Kennzeichen ihres Auftretens in der Litteratur zu entdecken, und die sind nicht
schwer zu finde». Wenn die Dichter und Schriftsteller die einfachen, natür¬
lichen und gesunden Verhältnisse nicht mehr sehen können, dagegen jeden faulen
Fleck entdecken, ihn für interessant erklären und mit geheimer Lust und leisem
Grauen beleuchten, wenn sie vor allem das Gleißende und Lockende der Sünde
sehen und mit ihr spielen und tändeln, ja sie mit einer Glorie umkleiden,
wenn sie die Schäden des Volkskörpers, die Schwächen der Zeit nicht mehr
energisch anzugreifen wagen, höchstens darüber jammern, oft eine gewisse
Freude daran haben, wenn sie sich selbst endlich nicht mehr schlicht und wahr¬
haft zu geben verstehen, zu posiren und zu künsteln anfangen, die reinen Kunst-
formen verderben, überall nur den „Effekt" sehen, und um ihn zu erreichen
die raffinirtesten Mittel wählen, dann ist die Decadence da, aber in der Regel
merkt man sie nicht gleich, weder im Leben noch in seinem Spiegelbilde, der
Litteratur. Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß die Decadence in
Deutschland schon vor 1870 begonnen hat und nun schon fast ein Menschen¬
alter hindurch anhält.

Decadence in Deutschland vor 1870? Ich weiß wohl, man liebt es, das
Deutschland vor dem großen Kriege als durchaus tugendhaft und sittenrein
hinzustellen und dadurch den Sieg über das verfaulte Frankreich des zweiten
Kaiserreichs zu erklären; auch leugne ich selbstverständlich nicht, daß die Volks¬
kraft in unserm Vaterlande unversehrter war als jenseits des Rheines. Aber
die Kennzeichen des beginnenden Verfalls sind bei uns vor 1870 so gut zu
erkennen wie in den übrigen europäischen Kulturländern. Die schöne Abend-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/322>, abgerufen am 01.09.2024.