Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alten und die Jungen

röte des alten Deutschlands ging eben in den sechziger Jahren zu Ende, die
Folgen des Kapitalismus, den ich übrigens nicht für alles verantwortlich
mache, zeigten sich in der zunehmenden Genußsucht und der materialistischen
Lebensanschauung, die in den Werken der Moleschott, Vogt und Büchner ihre
wissenschaftliche Begründung erhalten hatte und immer tiefer ins Volk ein¬
drang, während sich die Gebildeten mehr und mehr der Philosophie Schopen¬
hauers zuwandten. Alle Schäden, die die übermäßige Ausdehnung der In¬
dustrie und das Anwachsen der Großstädte zur Folge haben, traten damals
zuerst hervor, mit ihnen kam die Sozialdemokratie. Will man die Tugend
der Deutschen vor 1870 dennoch verteidigen, so erinnere ich nur an die damals
noch auf deutschem Boden vorhandnen Spielhöllen, in denen sich die Ver¬
kommenheit ganz Europas zusammenfand, die aber bei uns nicht bloß ge¬
duldet wurden, sondern in breiten Kreisen einen Halt fanden, freilich auch
heftige Opposition, die in Fr. Th. Wischers "Epigrammen aus Baden-Baden"
Wohl ihre klassische Form erhielt. Ungefleckt waren wir auf alle Fälle, und
angesteckt zeigt sich auch die deutsche Litteratur jeuer Zeit, die ich darum als
die der Frühdecadence bezeichne. Bald mit dieser, bald mit jener Zeitströmung
im Bunde, setzt sich dann die Decadence nach dem Kriege fort und erreicht
um 1880 ihren Höhepunkt. Jener Hochdecadence folgt dann in unsern Tagen
die Spätdeccidence. Man wird sehen, daß die folgerechte Anwendung des Be¬
griffs auf die Litteratur des verflossenen Menschenalters manches ins rechte
Licht stellt und erklärt, vor allem die Übersicht erleichtert.

Auch die Decadence hat ihre Wurzeln in früherer Zeit, plötzlich tritt in
der Litteratur nie etwas ans, Übergänge sind immer da. Oder ist Adalbert
Brachvogels "Narciß," der 1857 erschien und den größten Erfolg hatte, nicht
ein echtes Decadencewerk? Hebbel wußte wohl, was er that, als er sich mit
Ekel von dem Stück abwandte. Brachvogel versuchte dann mit dem "Adalbert
vom Babenberge" eine gesündere Bahn einzuschlagen, aber der Erfolg blieb
bezeichnenderweise aus, und so war er bald wieder im alten Bann. Im Hin¬
blick auf seine gesamte Thätigkeit kann man Brachvogel nur einen Decadence-
dichter nennen.

Starke Elemente eines solchen hat auch Friedrich Spielhagen, der um
1860 mit seinen "Problematischen Naturen" hervortrat. Man hebt immer
gern hervor, daß er ein unendlich viel temperamentvollerer Dichter sei als der
Begründer des Zeitromans, Gutzkow, man weist auf seine unzweifelhaft echte,
liberale Begeisterung hin (die dem Dichter später freilich sehr gefährlich wurde,
als sie von der Berliner Fortschrittspartei nicht loskonnte) -- alles recht
schön und gut, ich gebe zu, daß seine Zeitbilder, einige wenigstens, im ganzen
getreu und zum Teil echt poetisch sind; aber das hindert mich nicht, die Deca¬
dence zu erkennen, die sich vor allem darin zeigt, daß die interessanten Helden
der Spielhagenschen Romane im Grunde doch alle Libertiner sind. Spielhagen


Die Alten und die Jungen

röte des alten Deutschlands ging eben in den sechziger Jahren zu Ende, die
Folgen des Kapitalismus, den ich übrigens nicht für alles verantwortlich
mache, zeigten sich in der zunehmenden Genußsucht und der materialistischen
Lebensanschauung, die in den Werken der Moleschott, Vogt und Büchner ihre
wissenschaftliche Begründung erhalten hatte und immer tiefer ins Volk ein¬
drang, während sich die Gebildeten mehr und mehr der Philosophie Schopen¬
hauers zuwandten. Alle Schäden, die die übermäßige Ausdehnung der In¬
dustrie und das Anwachsen der Großstädte zur Folge haben, traten damals
zuerst hervor, mit ihnen kam die Sozialdemokratie. Will man die Tugend
der Deutschen vor 1870 dennoch verteidigen, so erinnere ich nur an die damals
noch auf deutschem Boden vorhandnen Spielhöllen, in denen sich die Ver¬
kommenheit ganz Europas zusammenfand, die aber bei uns nicht bloß ge¬
duldet wurden, sondern in breiten Kreisen einen Halt fanden, freilich auch
heftige Opposition, die in Fr. Th. Wischers „Epigrammen aus Baden-Baden"
Wohl ihre klassische Form erhielt. Ungefleckt waren wir auf alle Fälle, und
angesteckt zeigt sich auch die deutsche Litteratur jeuer Zeit, die ich darum als
die der Frühdecadence bezeichne. Bald mit dieser, bald mit jener Zeitströmung
im Bunde, setzt sich dann die Decadence nach dem Kriege fort und erreicht
um 1880 ihren Höhepunkt. Jener Hochdecadence folgt dann in unsern Tagen
die Spätdeccidence. Man wird sehen, daß die folgerechte Anwendung des Be¬
griffs auf die Litteratur des verflossenen Menschenalters manches ins rechte
Licht stellt und erklärt, vor allem die Übersicht erleichtert.

Auch die Decadence hat ihre Wurzeln in früherer Zeit, plötzlich tritt in
der Litteratur nie etwas ans, Übergänge sind immer da. Oder ist Adalbert
Brachvogels „Narciß," der 1857 erschien und den größten Erfolg hatte, nicht
ein echtes Decadencewerk? Hebbel wußte wohl, was er that, als er sich mit
Ekel von dem Stück abwandte. Brachvogel versuchte dann mit dem „Adalbert
vom Babenberge" eine gesündere Bahn einzuschlagen, aber der Erfolg blieb
bezeichnenderweise aus, und so war er bald wieder im alten Bann. Im Hin¬
blick auf seine gesamte Thätigkeit kann man Brachvogel nur einen Decadence-
dichter nennen.

Starke Elemente eines solchen hat auch Friedrich Spielhagen, der um
1860 mit seinen „Problematischen Naturen" hervortrat. Man hebt immer
gern hervor, daß er ein unendlich viel temperamentvollerer Dichter sei als der
Begründer des Zeitromans, Gutzkow, man weist auf seine unzweifelhaft echte,
liberale Begeisterung hin (die dem Dichter später freilich sehr gefährlich wurde,
als sie von der Berliner Fortschrittspartei nicht loskonnte) — alles recht
schön und gut, ich gebe zu, daß seine Zeitbilder, einige wenigstens, im ganzen
getreu und zum Teil echt poetisch sind; aber das hindert mich nicht, die Deca¬
dence zu erkennen, die sich vor allem darin zeigt, daß die interessanten Helden
der Spielhagenschen Romane im Grunde doch alle Libertiner sind. Spielhagen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223265"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_934" prev="#ID_933"> röte des alten Deutschlands ging eben in den sechziger Jahren zu Ende, die<lb/>
Folgen des Kapitalismus, den ich übrigens nicht für alles verantwortlich<lb/>
mache, zeigten sich in der zunehmenden Genußsucht und der materialistischen<lb/>
Lebensanschauung, die in den Werken der Moleschott, Vogt und Büchner ihre<lb/>
wissenschaftliche Begründung erhalten hatte und immer tiefer ins Volk ein¬<lb/>
drang, während sich die Gebildeten mehr und mehr der Philosophie Schopen¬<lb/>
hauers zuwandten.  Alle Schäden, die die übermäßige Ausdehnung der In¬<lb/>
dustrie und das Anwachsen der Großstädte zur Folge haben, traten damals<lb/>
zuerst hervor, mit ihnen kam die Sozialdemokratie.  Will man die Tugend<lb/>
der Deutschen vor 1870 dennoch verteidigen, so erinnere ich nur an die damals<lb/>
noch auf deutschem Boden vorhandnen Spielhöllen, in denen sich die Ver¬<lb/>
kommenheit ganz Europas zusammenfand, die aber bei uns nicht bloß ge¬<lb/>
duldet wurden, sondern in breiten Kreisen einen Halt fanden, freilich auch<lb/>
heftige Opposition, die in Fr. Th. Wischers &#x201E;Epigrammen aus Baden-Baden"<lb/>
Wohl ihre klassische Form erhielt.  Ungefleckt waren wir auf alle Fälle, und<lb/>
angesteckt zeigt sich auch die deutsche Litteratur jeuer Zeit, die ich darum als<lb/>
die der Frühdecadence bezeichne. Bald mit dieser, bald mit jener Zeitströmung<lb/>
im Bunde, setzt sich dann die Decadence nach dem Kriege fort und erreicht<lb/>
um 1880 ihren Höhepunkt. Jener Hochdecadence folgt dann in unsern Tagen<lb/>
die Spätdeccidence. Man wird sehen, daß die folgerechte Anwendung des Be¬<lb/>
griffs auf die Litteratur des verflossenen Menschenalters manches ins rechte<lb/>
Licht stellt und erklärt, vor allem die Übersicht erleichtert.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_935"> Auch die Decadence hat ihre Wurzeln in früherer Zeit, plötzlich tritt in<lb/>
der Litteratur nie etwas ans, Übergänge sind immer da. Oder ist Adalbert<lb/>
Brachvogels &#x201E;Narciß," der 1857 erschien und den größten Erfolg hatte, nicht<lb/>
ein echtes Decadencewerk? Hebbel wußte wohl, was er that, als er sich mit<lb/>
Ekel von dem Stück abwandte. Brachvogel versuchte dann mit dem &#x201E;Adalbert<lb/>
vom Babenberge" eine gesündere Bahn einzuschlagen, aber der Erfolg blieb<lb/>
bezeichnenderweise aus, und so war er bald wieder im alten Bann. Im Hin¬<lb/>
blick auf seine gesamte Thätigkeit kann man Brachvogel nur einen Decadence-<lb/>
dichter nennen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_936" next="#ID_937"> Starke Elemente eines solchen hat auch Friedrich Spielhagen, der um<lb/>
1860 mit seinen &#x201E;Problematischen Naturen" hervortrat. Man hebt immer<lb/>
gern hervor, daß er ein unendlich viel temperamentvollerer Dichter sei als der<lb/>
Begründer des Zeitromans, Gutzkow, man weist auf seine unzweifelhaft echte,<lb/>
liberale Begeisterung hin (die dem Dichter später freilich sehr gefährlich wurde,<lb/>
als sie von der Berliner Fortschrittspartei nicht loskonnte) &#x2014; alles recht<lb/>
schön und gut, ich gebe zu, daß seine Zeitbilder, einige wenigstens, im ganzen<lb/>
getreu und zum Teil echt poetisch sind; aber das hindert mich nicht, die Deca¬<lb/>
dence zu erkennen, die sich vor allem darin zeigt, daß die interessanten Helden<lb/>
der Spielhagenschen Romane im Grunde doch alle Libertiner sind. Spielhagen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0323] Die Alten und die Jungen röte des alten Deutschlands ging eben in den sechziger Jahren zu Ende, die Folgen des Kapitalismus, den ich übrigens nicht für alles verantwortlich mache, zeigten sich in der zunehmenden Genußsucht und der materialistischen Lebensanschauung, die in den Werken der Moleschott, Vogt und Büchner ihre wissenschaftliche Begründung erhalten hatte und immer tiefer ins Volk ein¬ drang, während sich die Gebildeten mehr und mehr der Philosophie Schopen¬ hauers zuwandten. Alle Schäden, die die übermäßige Ausdehnung der In¬ dustrie und das Anwachsen der Großstädte zur Folge haben, traten damals zuerst hervor, mit ihnen kam die Sozialdemokratie. Will man die Tugend der Deutschen vor 1870 dennoch verteidigen, so erinnere ich nur an die damals noch auf deutschem Boden vorhandnen Spielhöllen, in denen sich die Ver¬ kommenheit ganz Europas zusammenfand, die aber bei uns nicht bloß ge¬ duldet wurden, sondern in breiten Kreisen einen Halt fanden, freilich auch heftige Opposition, die in Fr. Th. Wischers „Epigrammen aus Baden-Baden" Wohl ihre klassische Form erhielt. Ungefleckt waren wir auf alle Fälle, und angesteckt zeigt sich auch die deutsche Litteratur jeuer Zeit, die ich darum als die der Frühdecadence bezeichne. Bald mit dieser, bald mit jener Zeitströmung im Bunde, setzt sich dann die Decadence nach dem Kriege fort und erreicht um 1880 ihren Höhepunkt. Jener Hochdecadence folgt dann in unsern Tagen die Spätdeccidence. Man wird sehen, daß die folgerechte Anwendung des Be¬ griffs auf die Litteratur des verflossenen Menschenalters manches ins rechte Licht stellt und erklärt, vor allem die Übersicht erleichtert. Auch die Decadence hat ihre Wurzeln in früherer Zeit, plötzlich tritt in der Litteratur nie etwas ans, Übergänge sind immer da. Oder ist Adalbert Brachvogels „Narciß," der 1857 erschien und den größten Erfolg hatte, nicht ein echtes Decadencewerk? Hebbel wußte wohl, was er that, als er sich mit Ekel von dem Stück abwandte. Brachvogel versuchte dann mit dem „Adalbert vom Babenberge" eine gesündere Bahn einzuschlagen, aber der Erfolg blieb bezeichnenderweise aus, und so war er bald wieder im alten Bann. Im Hin¬ blick auf seine gesamte Thätigkeit kann man Brachvogel nur einen Decadence- dichter nennen. Starke Elemente eines solchen hat auch Friedrich Spielhagen, der um 1860 mit seinen „Problematischen Naturen" hervortrat. Man hebt immer gern hervor, daß er ein unendlich viel temperamentvollerer Dichter sei als der Begründer des Zeitromans, Gutzkow, man weist auf seine unzweifelhaft echte, liberale Begeisterung hin (die dem Dichter später freilich sehr gefährlich wurde, als sie von der Berliner Fortschrittspartei nicht loskonnte) — alles recht schön und gut, ich gebe zu, daß seine Zeitbilder, einige wenigstens, im ganzen getreu und zum Teil echt poetisch sind; aber das hindert mich nicht, die Deca¬ dence zu erkennen, die sich vor allem darin zeigt, daß die interessanten Helden der Spielhagenschen Romane im Grunde doch alle Libertiner sind. Spielhagen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/323
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/323>, abgerufen am 25.11.2024.