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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Höchste erstrebten. Nehmen wir z. B. unsre klassische Periode, so wäre es doch
sicher falsch, die ganze Zeit vom Erscheinen des "Götz" (1773) bis zu dem
des zweiten Teiles des "Faust" nach Goethes Tod als eine, einzige Blüte-
Periode deutscher Dichtung aufzufassen; wohl aber kann man die siebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts, in denen Klopstocks "Messias" vollendet wurde,
seine Oden, Lessings beste Dramen, Goethes Jugendwerke, Bürgers erste Ge¬
dichte und die besten Werke der andern Hainbund- und Sturm- und Drang¬
dichter hervortraten, und das Jahrzehnt des Zusammenwirkens Goethes mit
Schiller, das auch die erste Blüte der Romantik zeitigte, trotz der Unver¬
schämtheiten Friedrich Schlegels und einiger romantischen Weiber gegen Schiller,
trotz Kotzebue und Cramer und Spieß als Höhen unsrer Dichtung ansehen.
Zehn, fünfzehn Jahre allseitiger bedeutender Produktion sagen schon in einer
Litteratur etwas, ebenso wie sie als Glanzperiode eines Reiches etwas sagen,
und so darf man sich denn nicht wundern, daß der Aufschwung, den die
deutsche Dichtung im Anfang der fünfziger Jahre genommen hatte, um die
Mitte der sechziger Jahre zu Ende ging. Da waren Hebbel und Ludwig bereits
gestorben, Gottfried Keller als Stadtschreiber von Zürich vorläufig verstummt,
und nach einigen Jahren stob der Münchner Kreis infolge der Ereignisse von
1866 auseinander. Doch blieb etwas wie ein Jungmünchen bestehen, und
gerade in diesem kam, obwohl die alte klassische Tradition erhalten blieb, etwas
neues zur Erscheinung, das man als Decadence bezeichnen muß.

Das ehrliche deutsche Wort für Decadence ist Verfall, und ich würde
es gern gebrauchen, wenn es eben nicht zu ehrlich wäre und den "interessanten"
Geruch des Faulen, stickigen, Parfümirten entbehrte. Eine treffliche Cha¬
rakteristik des Decadenten, des Versallzeitlers hat Wilhelm Weigand gegeben:
"Der moderne Mensch, der an der Vergangenheit leidet, empfindet seine eigne
Entwicklung gar zu oft als Krankheit, und außerdem besitzt er in den meisten
Fällen auch noch den Stolz des Leidenden, der sein Übel als Auszeichnung
betrachtet und die geistigen Mittel, die ihm vielleicht über die schlechteste Zeit
des Unbehagens hinweggeholfen haben, als Heilmittel anpreist, nicht immer
in bescheidner Weise. Überall, wohin ein solcher Leidender seine Blicke richtet,
sieht er die Dinge in ewigem Fluß, in ewigem Werden. Die historische Kritik
hat seinen Glauben an die Ewigkeit jeuer Denkmäler, denen ganze Geschlechter
gesteigerte Verehrung weihten, zerstört oder geschwächt. Im Besitz der viel¬
gepriesenen historischen Bildung sieht er sie plötzlich als einfache Dokumente
ihrer Zeit vor seinen Angen stehen, während er mit allen Kräften der Seele
darnach strebt, seinem eignen Leben Ausdruck oder die Weihe der Schönheit zu
verleihen. Seine verehrende Bewunderung der hohen Denkmäler einer kräf¬
tigen Vergangenheit schwindet um so sicherer, je rascher die schaffenden Kräfte,
Gemüt und Phantasie in ihm erkalten, um dem zersetzenden Geiste die Herr¬
schaft zu lassen. So wird er denn allmählich geneigt sein, jene schillernden


Grenzboten III 1896 40
Die Alten und die Jungen

Höchste erstrebten. Nehmen wir z. B. unsre klassische Periode, so wäre es doch
sicher falsch, die ganze Zeit vom Erscheinen des „Götz" (1773) bis zu dem
des zweiten Teiles des „Faust" nach Goethes Tod als eine, einzige Blüte-
Periode deutscher Dichtung aufzufassen; wohl aber kann man die siebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts, in denen Klopstocks „Messias" vollendet wurde,
seine Oden, Lessings beste Dramen, Goethes Jugendwerke, Bürgers erste Ge¬
dichte und die besten Werke der andern Hainbund- und Sturm- und Drang¬
dichter hervortraten, und das Jahrzehnt des Zusammenwirkens Goethes mit
Schiller, das auch die erste Blüte der Romantik zeitigte, trotz der Unver¬
schämtheiten Friedrich Schlegels und einiger romantischen Weiber gegen Schiller,
trotz Kotzebue und Cramer und Spieß als Höhen unsrer Dichtung ansehen.
Zehn, fünfzehn Jahre allseitiger bedeutender Produktion sagen schon in einer
Litteratur etwas, ebenso wie sie als Glanzperiode eines Reiches etwas sagen,
und so darf man sich denn nicht wundern, daß der Aufschwung, den die
deutsche Dichtung im Anfang der fünfziger Jahre genommen hatte, um die
Mitte der sechziger Jahre zu Ende ging. Da waren Hebbel und Ludwig bereits
gestorben, Gottfried Keller als Stadtschreiber von Zürich vorläufig verstummt,
und nach einigen Jahren stob der Münchner Kreis infolge der Ereignisse von
1866 auseinander. Doch blieb etwas wie ein Jungmünchen bestehen, und
gerade in diesem kam, obwohl die alte klassische Tradition erhalten blieb, etwas
neues zur Erscheinung, das man als Decadence bezeichnen muß.

Das ehrliche deutsche Wort für Decadence ist Verfall, und ich würde
es gern gebrauchen, wenn es eben nicht zu ehrlich wäre und den „interessanten"
Geruch des Faulen, stickigen, Parfümirten entbehrte. Eine treffliche Cha¬
rakteristik des Decadenten, des Versallzeitlers hat Wilhelm Weigand gegeben:
„Der moderne Mensch, der an der Vergangenheit leidet, empfindet seine eigne
Entwicklung gar zu oft als Krankheit, und außerdem besitzt er in den meisten
Fällen auch noch den Stolz des Leidenden, der sein Übel als Auszeichnung
betrachtet und die geistigen Mittel, die ihm vielleicht über die schlechteste Zeit
des Unbehagens hinweggeholfen haben, als Heilmittel anpreist, nicht immer
in bescheidner Weise. Überall, wohin ein solcher Leidender seine Blicke richtet,
sieht er die Dinge in ewigem Fluß, in ewigem Werden. Die historische Kritik
hat seinen Glauben an die Ewigkeit jeuer Denkmäler, denen ganze Geschlechter
gesteigerte Verehrung weihten, zerstört oder geschwächt. Im Besitz der viel¬
gepriesenen historischen Bildung sieht er sie plötzlich als einfache Dokumente
ihrer Zeit vor seinen Angen stehen, während er mit allen Kräften der Seele
darnach strebt, seinem eignen Leben Ausdruck oder die Weihe der Schönheit zu
verleihen. Seine verehrende Bewunderung der hohen Denkmäler einer kräf¬
tigen Vergangenheit schwindet um so sicherer, je rascher die schaffenden Kräfte,
Gemüt und Phantasie in ihm erkalten, um dem zersetzenden Geiste die Herr¬
schaft zu lassen. So wird er denn allmählich geneigt sein, jene schillernden


Grenzboten III 1896 40
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[0321] Die Alten und die Jungen Höchste erstrebten. Nehmen wir z. B. unsre klassische Periode, so wäre es doch sicher falsch, die ganze Zeit vom Erscheinen des „Götz" (1773) bis zu dem des zweiten Teiles des „Faust" nach Goethes Tod als eine, einzige Blüte- Periode deutscher Dichtung aufzufassen; wohl aber kann man die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in denen Klopstocks „Messias" vollendet wurde, seine Oden, Lessings beste Dramen, Goethes Jugendwerke, Bürgers erste Ge¬ dichte und die besten Werke der andern Hainbund- und Sturm- und Drang¬ dichter hervortraten, und das Jahrzehnt des Zusammenwirkens Goethes mit Schiller, das auch die erste Blüte der Romantik zeitigte, trotz der Unver¬ schämtheiten Friedrich Schlegels und einiger romantischen Weiber gegen Schiller, trotz Kotzebue und Cramer und Spieß als Höhen unsrer Dichtung ansehen. Zehn, fünfzehn Jahre allseitiger bedeutender Produktion sagen schon in einer Litteratur etwas, ebenso wie sie als Glanzperiode eines Reiches etwas sagen, und so darf man sich denn nicht wundern, daß der Aufschwung, den die deutsche Dichtung im Anfang der fünfziger Jahre genommen hatte, um die Mitte der sechziger Jahre zu Ende ging. Da waren Hebbel und Ludwig bereits gestorben, Gottfried Keller als Stadtschreiber von Zürich vorläufig verstummt, und nach einigen Jahren stob der Münchner Kreis infolge der Ereignisse von 1866 auseinander. Doch blieb etwas wie ein Jungmünchen bestehen, und gerade in diesem kam, obwohl die alte klassische Tradition erhalten blieb, etwas neues zur Erscheinung, das man als Decadence bezeichnen muß. Das ehrliche deutsche Wort für Decadence ist Verfall, und ich würde es gern gebrauchen, wenn es eben nicht zu ehrlich wäre und den „interessanten" Geruch des Faulen, stickigen, Parfümirten entbehrte. Eine treffliche Cha¬ rakteristik des Decadenten, des Versallzeitlers hat Wilhelm Weigand gegeben: „Der moderne Mensch, der an der Vergangenheit leidet, empfindet seine eigne Entwicklung gar zu oft als Krankheit, und außerdem besitzt er in den meisten Fällen auch noch den Stolz des Leidenden, der sein Übel als Auszeichnung betrachtet und die geistigen Mittel, die ihm vielleicht über die schlechteste Zeit des Unbehagens hinweggeholfen haben, als Heilmittel anpreist, nicht immer in bescheidner Weise. Überall, wohin ein solcher Leidender seine Blicke richtet, sieht er die Dinge in ewigem Fluß, in ewigem Werden. Die historische Kritik hat seinen Glauben an die Ewigkeit jeuer Denkmäler, denen ganze Geschlechter gesteigerte Verehrung weihten, zerstört oder geschwächt. Im Besitz der viel¬ gepriesenen historischen Bildung sieht er sie plötzlich als einfache Dokumente ihrer Zeit vor seinen Angen stehen, während er mit allen Kräften der Seele darnach strebt, seinem eignen Leben Ausdruck oder die Weihe der Schönheit zu verleihen. Seine verehrende Bewunderung der hohen Denkmäler einer kräf¬ tigen Vergangenheit schwindet um so sicherer, je rascher die schaffenden Kräfte, Gemüt und Phantasie in ihm erkalten, um dem zersetzenden Geiste die Herr¬ schaft zu lassen. So wird er denn allmählich geneigt sein, jene schillernden Grenzboten III 1896 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/321>, abgerufen am 01.09.2024.