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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

das eine oder das andre Nichtepigonische. Verhältnismäßig wertvoll ist auch,
wie schon erwähnt, die Unterhaltungslitteratnr dieser Zeit, an der sich un¬
zweifelhaft poetische Talente wie Holtet und Levin Schücking beteiligten, und
in der Hackländer und Gerstücker die am meisten genannten waren -- es war
die letzte Periode, in der die Unterhaltungslitteratur in den Händen der Männer
war. Und selbst die Vühnenlitteratur dieser Tage mit ihrem Venedix an der
Spitze soll man nicht unterschätzen -- mau war, wenn man Bauernfclo, Putlitz
und noch einige feinere Talente hinzuzieht, einem wirklich deutschen Lustspiel
nie so nahe wie damals, gehören doch auch die "Journalisten" und Jordans
Stücke den fünfziger Jahren an.

Genies und große Talente gehen ihren eignen Weg; die Schulen gehen
mit der Zeit. So kommen wir nur zu den Münchnern.


4

Es ist eine in engern Kreisen zur Genüge bekannte Thatsache, daß die
Münchner Dichterschule eigentlich in Berlin entstanden ist, und zwar in
dein Hause des Kunsthistorikers Franz Kugler. dem Emanuel Geibel nahe¬
stand, und wo Fontäne, Friedrich Eggers, Paul Heyse, der Kuglers
Schwiegersohn wurde, und Roquette verkehrten, von einer Anzahl unbedeuten¬
derer Dichter abgesehen. Wenn man will, kann man auch den "Tunnel
über der Spree," die damalige Berliner Dichtergesellschaft, als die ursprüng¬
liche Heimat der Münchner betrachten, obwohl in ihm auch Männer andrer
Art, "ReaktionSpoeten" wie Louis Schneider und Georg Hesekiel saßen. Den
ihnen eigentümlichen verwandtschaftlichen Zug zur bildenden Kunst haben die
Münchner ohne Zweifel aus dein Hause KuglerS mit hinweggenommen, so
sicher er auch seine innere Ursache hat, und er ist dann ans dem Boden der
Jfarstadt immer stärker hervorgetreten; die Schulgewohnheiten, die die Münchner
länger als irgend ein Dichtergeschlecht festgehalten haben, entstammten dem
Tunnel, aus ihm ist das "Krokodil" geschlüpft.

Geistig wurde jedoch die Dichterschule weder in Berlin uoch in München
geboren, da ist ganz Deutschland ihre Heimat. Als ihre geistigen Väter kann
mau außer dem alten Romantiker Eichenoorff, der bekanntlich anch in Berlin
lebte, Emanuel Geibel betrachten, dessen berühmte Gedichtsammlung 1840
hervortrat, und Kinkel, dessen "Otto der Schütz" 1846 erschien, und vielleicht
noch Strachwitz, der der Vorgänger des neuen Sturms und Dranges war.
Auch Dichtungen wie Zedlitzens "Waldfräuleiu" (1843) und die Epen von Viktor
von Strauß wären etwa noch heranzuziehen, um den Geist der neuen Poesie
zu kennzeichnen, die vor allen: als bewußte Opposition zu der liberalen, frei¬
geistigen Tendenzpocsie auftrat und darum teils gläubig, aufdringlich gläubig,
also von der entgegengesetzten Tendenz beseelt, teils tendenziös war und das
l'art, xcmr l'-rrt ans ihre Fahne schrieb. Das erste erfolgreiche Werk der neuen


Grenzboten III 1396 85
Die Alten und die Jungen

das eine oder das andre Nichtepigonische. Verhältnismäßig wertvoll ist auch,
wie schon erwähnt, die Unterhaltungslitteratnr dieser Zeit, an der sich un¬
zweifelhaft poetische Talente wie Holtet und Levin Schücking beteiligten, und
in der Hackländer und Gerstücker die am meisten genannten waren — es war
die letzte Periode, in der die Unterhaltungslitteratur in den Händen der Männer
war. Und selbst die Vühnenlitteratur dieser Tage mit ihrem Venedix an der
Spitze soll man nicht unterschätzen — mau war, wenn man Bauernfclo, Putlitz
und noch einige feinere Talente hinzuzieht, einem wirklich deutschen Lustspiel
nie so nahe wie damals, gehören doch auch die „Journalisten" und Jordans
Stücke den fünfziger Jahren an.

Genies und große Talente gehen ihren eignen Weg; die Schulen gehen
mit der Zeit. So kommen wir nur zu den Münchnern.


4

Es ist eine in engern Kreisen zur Genüge bekannte Thatsache, daß die
Münchner Dichterschule eigentlich in Berlin entstanden ist, und zwar in
dein Hause des Kunsthistorikers Franz Kugler. dem Emanuel Geibel nahe¬
stand, und wo Fontäne, Friedrich Eggers, Paul Heyse, der Kuglers
Schwiegersohn wurde, und Roquette verkehrten, von einer Anzahl unbedeuten¬
derer Dichter abgesehen. Wenn man will, kann man auch den „Tunnel
über der Spree," die damalige Berliner Dichtergesellschaft, als die ursprüng¬
liche Heimat der Münchner betrachten, obwohl in ihm auch Männer andrer
Art, „ReaktionSpoeten" wie Louis Schneider und Georg Hesekiel saßen. Den
ihnen eigentümlichen verwandtschaftlichen Zug zur bildenden Kunst haben die
Münchner ohne Zweifel aus dein Hause KuglerS mit hinweggenommen, so
sicher er auch seine innere Ursache hat, und er ist dann ans dem Boden der
Jfarstadt immer stärker hervorgetreten; die Schulgewohnheiten, die die Münchner
länger als irgend ein Dichtergeschlecht festgehalten haben, entstammten dem
Tunnel, aus ihm ist das „Krokodil" geschlüpft.

Geistig wurde jedoch die Dichterschule weder in Berlin uoch in München
geboren, da ist ganz Deutschland ihre Heimat. Als ihre geistigen Väter kann
mau außer dem alten Romantiker Eichenoorff, der bekanntlich anch in Berlin
lebte, Emanuel Geibel betrachten, dessen berühmte Gedichtsammlung 1840
hervortrat, und Kinkel, dessen „Otto der Schütz" 1846 erschien, und vielleicht
noch Strachwitz, der der Vorgänger des neuen Sturms und Dranges war.
Auch Dichtungen wie Zedlitzens „Waldfräuleiu" (1843) und die Epen von Viktor
von Strauß wären etwa noch heranzuziehen, um den Geist der neuen Poesie
zu kennzeichnen, die vor allen: als bewußte Opposition zu der liberalen, frei¬
geistigen Tendenzpocsie auftrat und darum teils gläubig, aufdringlich gläubig,
also von der entgegengesetzten Tendenz beseelt, teils tendenziös war und das
l'art, xcmr l'-rrt ans ihre Fahne schrieb. Das erste erfolgreiche Werk der neuen


Grenzboten III 1396 85
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[0281] Die Alten und die Jungen das eine oder das andre Nichtepigonische. Verhältnismäßig wertvoll ist auch, wie schon erwähnt, die Unterhaltungslitteratnr dieser Zeit, an der sich un¬ zweifelhaft poetische Talente wie Holtet und Levin Schücking beteiligten, und in der Hackländer und Gerstücker die am meisten genannten waren — es war die letzte Periode, in der die Unterhaltungslitteratur in den Händen der Männer war. Und selbst die Vühnenlitteratur dieser Tage mit ihrem Venedix an der Spitze soll man nicht unterschätzen — mau war, wenn man Bauernfclo, Putlitz und noch einige feinere Talente hinzuzieht, einem wirklich deutschen Lustspiel nie so nahe wie damals, gehören doch auch die „Journalisten" und Jordans Stücke den fünfziger Jahren an. Genies und große Talente gehen ihren eignen Weg; die Schulen gehen mit der Zeit. So kommen wir nur zu den Münchnern. 4 Es ist eine in engern Kreisen zur Genüge bekannte Thatsache, daß die Münchner Dichterschule eigentlich in Berlin entstanden ist, und zwar in dein Hause des Kunsthistorikers Franz Kugler. dem Emanuel Geibel nahe¬ stand, und wo Fontäne, Friedrich Eggers, Paul Heyse, der Kuglers Schwiegersohn wurde, und Roquette verkehrten, von einer Anzahl unbedeuten¬ derer Dichter abgesehen. Wenn man will, kann man auch den „Tunnel über der Spree," die damalige Berliner Dichtergesellschaft, als die ursprüng¬ liche Heimat der Münchner betrachten, obwohl in ihm auch Männer andrer Art, „ReaktionSpoeten" wie Louis Schneider und Georg Hesekiel saßen. Den ihnen eigentümlichen verwandtschaftlichen Zug zur bildenden Kunst haben die Münchner ohne Zweifel aus dein Hause KuglerS mit hinweggenommen, so sicher er auch seine innere Ursache hat, und er ist dann ans dem Boden der Jfarstadt immer stärker hervorgetreten; die Schulgewohnheiten, die die Münchner länger als irgend ein Dichtergeschlecht festgehalten haben, entstammten dem Tunnel, aus ihm ist das „Krokodil" geschlüpft. Geistig wurde jedoch die Dichterschule weder in Berlin uoch in München geboren, da ist ganz Deutschland ihre Heimat. Als ihre geistigen Väter kann mau außer dem alten Romantiker Eichenoorff, der bekanntlich anch in Berlin lebte, Emanuel Geibel betrachten, dessen berühmte Gedichtsammlung 1840 hervortrat, und Kinkel, dessen „Otto der Schütz" 1846 erschien, und vielleicht noch Strachwitz, der der Vorgänger des neuen Sturms und Dranges war. Auch Dichtungen wie Zedlitzens „Waldfräuleiu" (1843) und die Epen von Viktor von Strauß wären etwa noch heranzuziehen, um den Geist der neuen Poesie zu kennzeichnen, die vor allen: als bewußte Opposition zu der liberalen, frei¬ geistigen Tendenzpocsie auftrat und darum teils gläubig, aufdringlich gläubig, also von der entgegengesetzten Tendenz beseelt, teils tendenziös war und das l'art, xcmr l'-rrt ans ihre Fahne schrieb. Das erste erfolgreiche Werk der neuen Grenzboten III 1396 85

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/281>, abgerufen am 26.11.2024.