Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alten und die Jungen

doch ist Freytag als Persönlichkeit bedeutender, wie Scheffel als Dichter im
engern Sinne. Ferner bildet Scheffel die Überleitung von diesen nominss 8ni
Asneris zur Schule, zu den Münchnern.

Als Gesamtkennzeichen aller dieser Dichter möchte ich zum Schluß noch
hervorheben, daß sie, wenn sie auch dem Geiste der klassischen Periode sämtlich
nicht fern stehen lselbst Hebbel und Ludwig, die an der Praxis der klassischen
Dichter, namentlich Schillers, so viel auszusetzen haben, bedeuten keinen Bruch
mit der Vergangenheit), doch in ihrer Poesie über diese hinausweisen. Und
zwar finde ich das neue dieser Poesie nicht sowohl in dem Realismus, den sie
samt und sonders vertreten -- auch Goethe war ja Realist --, sondern in der
Art, wie sie ihr vom Stammestum beeinflußtes poetisches Temperament bei
der Gestaltung des Lebens jederzeit frisch und frei zu erhalten wissen und
weder der litterarischen Überlieferung noch den rohen Mächten der Wirklichkeit
unterliegen. Das ist echter Dichter Art, und so ist die Auffassung der deut¬
schen Dichtung von 1850 bis 1890 als einer Epigonenpoesie nicht haltbar.
Die klassische Höhe wurde nicht erreicht und konnte nicht erreicht werden, da
Genies wie Goethe, gewaltige Persönlichkeiten wie Schiller, Universalgrößen
wie Herder nicht zweimal in einem Jahrhundert einem Volke zu teil werden,
aber, die selbständigen Naturen fehlten nicht, und einige wenigstens weisen in
die Zukunft. Mit ihnen kamen dann freilich Epigonen auf, und die Zeit¬
genossen fielen diesen zu, aber die Geschichte der Dichtung ist nicht wie die
Kulturgeschichte im allgemeinen Geschichte der Durchschnittserscheinungen, in
ihr entscheiden die selbständigen Geister.

Außer jenen Sieben schufen übrigens in den fünfziger und sechziger Jahren
auch noch zahlreiche mehr oder minder selbständige Talente zweiten und dritten
Ranges. Bei einem, bei Wilhelm Jordan, könnte man sogar zweifelhaft sein,
ob er nicht unter die Großen gehöre, vor allem wegen seiner beiden Lustspiele
"Durchs Ohr" und "Der Liebesleugner," die die besten Versuche des roman¬
tischen Lustspiels sind, die wir Deutschen haben. Auch dem "Demiurgos" und
den "Nibelungen" ist die hohe Bedeutung, als Gewollten wenigstens, nicht
abzusprechen, Jordan ist überhaupt weniger "Spezialist" als die Sieben, an
Stärke des dichterischen Naturells freilich allen untergeordnet. Mit ihm zusammen
kann man die Talente nennen, die gleich ihm aus der politischen Lhrik er¬
wuchsen, Dingelstedt, einen Poeten reicher Ansätze, Prutz, Waldau, Meißner,
Moritz Hartmann, jetzt alle fast vergessen, Gottschall, den fruchtbarsten, viel¬
seitigsten und einflußreichsten, aber auch den unerquicklichsten. Näher als diese
stehen mir Erzähler wie W. H. Riehl, Edmund Höfer, Leopold Kompert und
von den jüngern, aber in dieser Zeit wurzelnden, Adolf Stern, die alle einzelne
Meisterstücke geschaffen haben, ferner die Epiker Scherenberg und Löser, die
Dramatiker Riffel und Lindner und eine Anzahl von Geibel nicht abhängiger
Lyriker wie I. G. Fischer und Hermann Allmers. Bei ihnen allen findet man


Die Alten und die Jungen

doch ist Freytag als Persönlichkeit bedeutender, wie Scheffel als Dichter im
engern Sinne. Ferner bildet Scheffel die Überleitung von diesen nominss 8ni
Asneris zur Schule, zu den Münchnern.

Als Gesamtkennzeichen aller dieser Dichter möchte ich zum Schluß noch
hervorheben, daß sie, wenn sie auch dem Geiste der klassischen Periode sämtlich
nicht fern stehen lselbst Hebbel und Ludwig, die an der Praxis der klassischen
Dichter, namentlich Schillers, so viel auszusetzen haben, bedeuten keinen Bruch
mit der Vergangenheit), doch in ihrer Poesie über diese hinausweisen. Und
zwar finde ich das neue dieser Poesie nicht sowohl in dem Realismus, den sie
samt und sonders vertreten — auch Goethe war ja Realist —, sondern in der
Art, wie sie ihr vom Stammestum beeinflußtes poetisches Temperament bei
der Gestaltung des Lebens jederzeit frisch und frei zu erhalten wissen und
weder der litterarischen Überlieferung noch den rohen Mächten der Wirklichkeit
unterliegen. Das ist echter Dichter Art, und so ist die Auffassung der deut¬
schen Dichtung von 1850 bis 1890 als einer Epigonenpoesie nicht haltbar.
Die klassische Höhe wurde nicht erreicht und konnte nicht erreicht werden, da
Genies wie Goethe, gewaltige Persönlichkeiten wie Schiller, Universalgrößen
wie Herder nicht zweimal in einem Jahrhundert einem Volke zu teil werden,
aber, die selbständigen Naturen fehlten nicht, und einige wenigstens weisen in
die Zukunft. Mit ihnen kamen dann freilich Epigonen auf, und die Zeit¬
genossen fielen diesen zu, aber die Geschichte der Dichtung ist nicht wie die
Kulturgeschichte im allgemeinen Geschichte der Durchschnittserscheinungen, in
ihr entscheiden die selbständigen Geister.

Außer jenen Sieben schufen übrigens in den fünfziger und sechziger Jahren
auch noch zahlreiche mehr oder minder selbständige Talente zweiten und dritten
Ranges. Bei einem, bei Wilhelm Jordan, könnte man sogar zweifelhaft sein,
ob er nicht unter die Großen gehöre, vor allem wegen seiner beiden Lustspiele
„Durchs Ohr" und „Der Liebesleugner," die die besten Versuche des roman¬
tischen Lustspiels sind, die wir Deutschen haben. Auch dem „Demiurgos" und
den „Nibelungen" ist die hohe Bedeutung, als Gewollten wenigstens, nicht
abzusprechen, Jordan ist überhaupt weniger „Spezialist" als die Sieben, an
Stärke des dichterischen Naturells freilich allen untergeordnet. Mit ihm zusammen
kann man die Talente nennen, die gleich ihm aus der politischen Lhrik er¬
wuchsen, Dingelstedt, einen Poeten reicher Ansätze, Prutz, Waldau, Meißner,
Moritz Hartmann, jetzt alle fast vergessen, Gottschall, den fruchtbarsten, viel¬
seitigsten und einflußreichsten, aber auch den unerquicklichsten. Näher als diese
stehen mir Erzähler wie W. H. Riehl, Edmund Höfer, Leopold Kompert und
von den jüngern, aber in dieser Zeit wurzelnden, Adolf Stern, die alle einzelne
Meisterstücke geschaffen haben, ferner die Epiker Scherenberg und Löser, die
Dramatiker Riffel und Lindner und eine Anzahl von Geibel nicht abhängiger
Lyriker wie I. G. Fischer und Hermann Allmers. Bei ihnen allen findet man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223222"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_835" prev="#ID_834"> doch ist Freytag als Persönlichkeit bedeutender, wie Scheffel als Dichter im<lb/>
engern Sinne. Ferner bildet Scheffel die Überleitung von diesen nominss 8ni<lb/>
Asneris zur Schule, zu den Münchnern.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_836"> Als Gesamtkennzeichen aller dieser Dichter möchte ich zum Schluß noch<lb/>
hervorheben, daß sie, wenn sie auch dem Geiste der klassischen Periode sämtlich<lb/>
nicht fern stehen lselbst Hebbel und Ludwig, die an der Praxis der klassischen<lb/>
Dichter, namentlich Schillers, so viel auszusetzen haben, bedeuten keinen Bruch<lb/>
mit der Vergangenheit), doch in ihrer Poesie über diese hinausweisen. Und<lb/>
zwar finde ich das neue dieser Poesie nicht sowohl in dem Realismus, den sie<lb/>
samt und sonders vertreten &#x2014; auch Goethe war ja Realist &#x2014;, sondern in der<lb/>
Art, wie sie ihr vom Stammestum beeinflußtes poetisches Temperament bei<lb/>
der Gestaltung des Lebens jederzeit frisch und frei zu erhalten wissen und<lb/>
weder der litterarischen Überlieferung noch den rohen Mächten der Wirklichkeit<lb/>
unterliegen. Das ist echter Dichter Art, und so ist die Auffassung der deut¬<lb/>
schen Dichtung von 1850 bis 1890 als einer Epigonenpoesie nicht haltbar.<lb/>
Die klassische Höhe wurde nicht erreicht und konnte nicht erreicht werden, da<lb/>
Genies wie Goethe, gewaltige Persönlichkeiten wie Schiller, Universalgrößen<lb/>
wie Herder nicht zweimal in einem Jahrhundert einem Volke zu teil werden,<lb/>
aber, die selbständigen Naturen fehlten nicht, und einige wenigstens weisen in<lb/>
die Zukunft. Mit ihnen kamen dann freilich Epigonen auf, und die Zeit¬<lb/>
genossen fielen diesen zu, aber die Geschichte der Dichtung ist nicht wie die<lb/>
Kulturgeschichte im allgemeinen Geschichte der Durchschnittserscheinungen, in<lb/>
ihr entscheiden die selbständigen Geister.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_837" next="#ID_838"> Außer jenen Sieben schufen übrigens in den fünfziger und sechziger Jahren<lb/>
auch noch zahlreiche mehr oder minder selbständige Talente zweiten und dritten<lb/>
Ranges. Bei einem, bei Wilhelm Jordan, könnte man sogar zweifelhaft sein,<lb/>
ob er nicht unter die Großen gehöre, vor allem wegen seiner beiden Lustspiele<lb/>
&#x201E;Durchs Ohr" und &#x201E;Der Liebesleugner," die die besten Versuche des roman¬<lb/>
tischen Lustspiels sind, die wir Deutschen haben. Auch dem &#x201E;Demiurgos" und<lb/>
den &#x201E;Nibelungen" ist die hohe Bedeutung, als Gewollten wenigstens, nicht<lb/>
abzusprechen, Jordan ist überhaupt weniger &#x201E;Spezialist" als die Sieben, an<lb/>
Stärke des dichterischen Naturells freilich allen untergeordnet. Mit ihm zusammen<lb/>
kann man die Talente nennen, die gleich ihm aus der politischen Lhrik er¬<lb/>
wuchsen, Dingelstedt, einen Poeten reicher Ansätze, Prutz, Waldau, Meißner,<lb/>
Moritz Hartmann, jetzt alle fast vergessen, Gottschall, den fruchtbarsten, viel¬<lb/>
seitigsten und einflußreichsten, aber auch den unerquicklichsten. Näher als diese<lb/>
stehen mir Erzähler wie W. H. Riehl, Edmund Höfer, Leopold Kompert und<lb/>
von den jüngern, aber in dieser Zeit wurzelnden, Adolf Stern, die alle einzelne<lb/>
Meisterstücke geschaffen haben, ferner die Epiker Scherenberg und Löser, die<lb/>
Dramatiker Riffel und Lindner und eine Anzahl von Geibel nicht abhängiger<lb/>
Lyriker wie I. G. Fischer und Hermann Allmers. Bei ihnen allen findet man</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0280] Die Alten und die Jungen doch ist Freytag als Persönlichkeit bedeutender, wie Scheffel als Dichter im engern Sinne. Ferner bildet Scheffel die Überleitung von diesen nominss 8ni Asneris zur Schule, zu den Münchnern. Als Gesamtkennzeichen aller dieser Dichter möchte ich zum Schluß noch hervorheben, daß sie, wenn sie auch dem Geiste der klassischen Periode sämtlich nicht fern stehen lselbst Hebbel und Ludwig, die an der Praxis der klassischen Dichter, namentlich Schillers, so viel auszusetzen haben, bedeuten keinen Bruch mit der Vergangenheit), doch in ihrer Poesie über diese hinausweisen. Und zwar finde ich das neue dieser Poesie nicht sowohl in dem Realismus, den sie samt und sonders vertreten — auch Goethe war ja Realist —, sondern in der Art, wie sie ihr vom Stammestum beeinflußtes poetisches Temperament bei der Gestaltung des Lebens jederzeit frisch und frei zu erhalten wissen und weder der litterarischen Überlieferung noch den rohen Mächten der Wirklichkeit unterliegen. Das ist echter Dichter Art, und so ist die Auffassung der deut¬ schen Dichtung von 1850 bis 1890 als einer Epigonenpoesie nicht haltbar. Die klassische Höhe wurde nicht erreicht und konnte nicht erreicht werden, da Genies wie Goethe, gewaltige Persönlichkeiten wie Schiller, Universalgrößen wie Herder nicht zweimal in einem Jahrhundert einem Volke zu teil werden, aber, die selbständigen Naturen fehlten nicht, und einige wenigstens weisen in die Zukunft. Mit ihnen kamen dann freilich Epigonen auf, und die Zeit¬ genossen fielen diesen zu, aber die Geschichte der Dichtung ist nicht wie die Kulturgeschichte im allgemeinen Geschichte der Durchschnittserscheinungen, in ihr entscheiden die selbständigen Geister. Außer jenen Sieben schufen übrigens in den fünfziger und sechziger Jahren auch noch zahlreiche mehr oder minder selbständige Talente zweiten und dritten Ranges. Bei einem, bei Wilhelm Jordan, könnte man sogar zweifelhaft sein, ob er nicht unter die Großen gehöre, vor allem wegen seiner beiden Lustspiele „Durchs Ohr" und „Der Liebesleugner," die die besten Versuche des roman¬ tischen Lustspiels sind, die wir Deutschen haben. Auch dem „Demiurgos" und den „Nibelungen" ist die hohe Bedeutung, als Gewollten wenigstens, nicht abzusprechen, Jordan ist überhaupt weniger „Spezialist" als die Sieben, an Stärke des dichterischen Naturells freilich allen untergeordnet. Mit ihm zusammen kann man die Talente nennen, die gleich ihm aus der politischen Lhrik er¬ wuchsen, Dingelstedt, einen Poeten reicher Ansätze, Prutz, Waldau, Meißner, Moritz Hartmann, jetzt alle fast vergessen, Gottschall, den fruchtbarsten, viel¬ seitigsten und einflußreichsten, aber auch den unerquicklichsten. Näher als diese stehen mir Erzähler wie W. H. Riehl, Edmund Höfer, Leopold Kompert und von den jüngern, aber in dieser Zeit wurzelnden, Adolf Stern, die alle einzelne Meisterstücke geschaffen haben, ferner die Epiker Scherenberg und Löser, die Dramatiker Riffel und Lindner und eine Anzahl von Geibel nicht abhängiger Lyriker wie I. G. Fischer und Hermann Allmers. Bei ihnen allen findet man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/280
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/280>, abgerufen am 01.09.2024.