Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alten und die Jungen

schichte sind. Die längste Lebensdauer unter den Werken Freytags darf mein
Wohl den "Journalisten" zusprechen. Soweit die deutschen Lustspiele, etwa
den "Zerbrochuen Krug" ausgenommen, hinter der Komödie im weitesten Sinne,
ja dem Charakterlustspiel in der Art Moliöres zurückbleiben, so hoch erhebt
sich Freytags Werk über die zahllosen Dnrchschnittserzeugnisse und muß bis
auf weiteres mit Lessings "Minna von Barnhelm" als der Typus des vor¬
nehmen deutschen Lustspiels gelten; es wird auch wie dieses Stück später
"historisch" wirken, ja es thut das eigentlich schon jetzt.

Ähnlich wie mit Freytag steht es heute mit Fritz Reuter. Wie der Schlesier,
ist auch der Mecklenburger ein Menschenalter hindurch das Entzücken der weitesten
Kreise gewesen, bis man denn nun erkennt, daß er veraltet, was doch ein
großer Dichter nicht darf. Ich entsinne mich noch recht gut, daß man Reuters
humoristische Hauptschöpfnng, den Inspektor Bräsig, kühn neben den Don
Quixote stellte; inzwischen hat man gefunden, daß er nicht wie dieser in die
Weltlitteratur, ja nicht einmal zu den Schöpfungen gehört, in denen ein ewiger
Menschentypus Gestalt gewonnen hat. Dennoch steckt auch in Reuters Werken
eine ganze Zeit und eine eigne Welt, es steckt mich eine liebenswürdige Per¬
sönlichkeit drin, sodaß noch immer genug Veranlassung bleibt, sich in sie zu ver¬
tiefen, selbst wenn sie einmal wirklich altmodisch geworden sein sollten. Einige
der kleinern Werke Reuters, vor allem "Dorchläuchting," haben ja auch
künstlerische Form und werden sich durch diese erhalten. Wie Freytag sür die
Jugend, so wird Reuter für das Volk noch lange Zeit große Bedeutung haben.
Wem von den Nachlebenden kann man überhaupt eine Bedeutung für das
Volk zugestehen?

Der dritte und jüngste dieser Prosaiker und Humoristen (ich weiß, nebenbei
bemerkt, Reuters "Henne Rute" wohl zu schätzen), Wilhelm Raabe, hat Wohl
die größte Zukunft von allen dreien. Er ist bei weitem die stärkste und
originellste Persönlichkeit unter ihnen (ich wählte absichtlich das Fremdwort),
der ausgesprochenste Humorist, darum vou vornherein auf engere Kreise an¬
gewiesen, aber auch berufen, diese um so länger festzuhalten. Scheinbar ist
seine Darstellung weniger groß und frei als die Reuters oder gar Freytags,
er stellt nicht die Breite, sondern die Enge, nicht das Normale, sondern das
Abnorme dar; überblickt man aber die Gesamtheit seiner Werke, so erkennt
man, daß er im Grunde vielseitiger und, ich möchte sagen, deutscher als die
beiden andern ist, z. B. allen deutschen Stammeseigentümlichteiten gerecht zu
werden vermag, und auch seine besondre, aus dem Herzen stammende Größe
wird auf die Dauer niemand verborgen bleiben. Obwohl er nie Verse ver¬
öffentlicht hat, ist er ganz und gar Dichter. Die Zeit wird freilich eine
Sichtung unter seinen zahlreichen Werken vornehmen, aber einzelnes, wie den
"Horacker," kann man schon jetzt ruhig unter den eisernen Bestand der deutschen
Litteratur aufnehmen.


Die Alten und die Jungen

schichte sind. Die längste Lebensdauer unter den Werken Freytags darf mein
Wohl den „Journalisten" zusprechen. Soweit die deutschen Lustspiele, etwa
den „Zerbrochuen Krug" ausgenommen, hinter der Komödie im weitesten Sinne,
ja dem Charakterlustspiel in der Art Moliöres zurückbleiben, so hoch erhebt
sich Freytags Werk über die zahllosen Dnrchschnittserzeugnisse und muß bis
auf weiteres mit Lessings „Minna von Barnhelm" als der Typus des vor¬
nehmen deutschen Lustspiels gelten; es wird auch wie dieses Stück später
„historisch" wirken, ja es thut das eigentlich schon jetzt.

Ähnlich wie mit Freytag steht es heute mit Fritz Reuter. Wie der Schlesier,
ist auch der Mecklenburger ein Menschenalter hindurch das Entzücken der weitesten
Kreise gewesen, bis man denn nun erkennt, daß er veraltet, was doch ein
großer Dichter nicht darf. Ich entsinne mich noch recht gut, daß man Reuters
humoristische Hauptschöpfnng, den Inspektor Bräsig, kühn neben den Don
Quixote stellte; inzwischen hat man gefunden, daß er nicht wie dieser in die
Weltlitteratur, ja nicht einmal zu den Schöpfungen gehört, in denen ein ewiger
Menschentypus Gestalt gewonnen hat. Dennoch steckt auch in Reuters Werken
eine ganze Zeit und eine eigne Welt, es steckt mich eine liebenswürdige Per¬
sönlichkeit drin, sodaß noch immer genug Veranlassung bleibt, sich in sie zu ver¬
tiefen, selbst wenn sie einmal wirklich altmodisch geworden sein sollten. Einige
der kleinern Werke Reuters, vor allem „Dorchläuchting," haben ja auch
künstlerische Form und werden sich durch diese erhalten. Wie Freytag sür die
Jugend, so wird Reuter für das Volk noch lange Zeit große Bedeutung haben.
Wem von den Nachlebenden kann man überhaupt eine Bedeutung für das
Volk zugestehen?

Der dritte und jüngste dieser Prosaiker und Humoristen (ich weiß, nebenbei
bemerkt, Reuters „Henne Rute" wohl zu schätzen), Wilhelm Raabe, hat Wohl
die größte Zukunft von allen dreien. Er ist bei weitem die stärkste und
originellste Persönlichkeit unter ihnen (ich wählte absichtlich das Fremdwort),
der ausgesprochenste Humorist, darum vou vornherein auf engere Kreise an¬
gewiesen, aber auch berufen, diese um so länger festzuhalten. Scheinbar ist
seine Darstellung weniger groß und frei als die Reuters oder gar Freytags,
er stellt nicht die Breite, sondern die Enge, nicht das Normale, sondern das
Abnorme dar; überblickt man aber die Gesamtheit seiner Werke, so erkennt
man, daß er im Grunde vielseitiger und, ich möchte sagen, deutscher als die
beiden andern ist, z. B. allen deutschen Stammeseigentümlichteiten gerecht zu
werden vermag, und auch seine besondre, aus dem Herzen stammende Größe
wird auf die Dauer niemand verborgen bleiben. Obwohl er nie Verse ver¬
öffentlicht hat, ist er ganz und gar Dichter. Die Zeit wird freilich eine
Sichtung unter seinen zahlreichen Werken vornehmen, aber einzelnes, wie den
„Horacker," kann man schon jetzt ruhig unter den eisernen Bestand der deutschen
Litteratur aufnehmen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223219"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_827" prev="#ID_826"> schichte sind. Die längste Lebensdauer unter den Werken Freytags darf mein<lb/>
Wohl den &#x201E;Journalisten" zusprechen. Soweit die deutschen Lustspiele, etwa<lb/>
den &#x201E;Zerbrochuen Krug" ausgenommen, hinter der Komödie im weitesten Sinne,<lb/>
ja dem Charakterlustspiel in der Art Moliöres zurückbleiben, so hoch erhebt<lb/>
sich Freytags Werk über die zahllosen Dnrchschnittserzeugnisse und muß bis<lb/>
auf weiteres mit Lessings &#x201E;Minna von Barnhelm" als der Typus des vor¬<lb/>
nehmen deutschen Lustspiels gelten; es wird auch wie dieses Stück später<lb/>
&#x201E;historisch" wirken, ja es thut das eigentlich schon jetzt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_828"> Ähnlich wie mit Freytag steht es heute mit Fritz Reuter. Wie der Schlesier,<lb/>
ist auch der Mecklenburger ein Menschenalter hindurch das Entzücken der weitesten<lb/>
Kreise gewesen, bis man denn nun erkennt, daß er veraltet, was doch ein<lb/>
großer Dichter nicht darf. Ich entsinne mich noch recht gut, daß man Reuters<lb/>
humoristische Hauptschöpfnng, den Inspektor Bräsig, kühn neben den Don<lb/>
Quixote stellte; inzwischen hat man gefunden, daß er nicht wie dieser in die<lb/>
Weltlitteratur, ja nicht einmal zu den Schöpfungen gehört, in denen ein ewiger<lb/>
Menschentypus Gestalt gewonnen hat. Dennoch steckt auch in Reuters Werken<lb/>
eine ganze Zeit und eine eigne Welt, es steckt mich eine liebenswürdige Per¬<lb/>
sönlichkeit drin, sodaß noch immer genug Veranlassung bleibt, sich in sie zu ver¬<lb/>
tiefen, selbst wenn sie einmal wirklich altmodisch geworden sein sollten. Einige<lb/>
der kleinern Werke Reuters, vor allem &#x201E;Dorchläuchting," haben ja auch<lb/>
künstlerische Form und werden sich durch diese erhalten. Wie Freytag sür die<lb/>
Jugend, so wird Reuter für das Volk noch lange Zeit große Bedeutung haben.<lb/>
Wem von den Nachlebenden kann man überhaupt eine Bedeutung für das<lb/>
Volk zugestehen?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_829"> Der dritte und jüngste dieser Prosaiker und Humoristen (ich weiß, nebenbei<lb/>
bemerkt, Reuters &#x201E;Henne Rute" wohl zu schätzen), Wilhelm Raabe, hat Wohl<lb/>
die größte Zukunft von allen dreien. Er ist bei weitem die stärkste und<lb/>
originellste Persönlichkeit unter ihnen (ich wählte absichtlich das Fremdwort),<lb/>
der ausgesprochenste Humorist, darum vou vornherein auf engere Kreise an¬<lb/>
gewiesen, aber auch berufen, diese um so länger festzuhalten. Scheinbar ist<lb/>
seine Darstellung weniger groß und frei als die Reuters oder gar Freytags,<lb/>
er stellt nicht die Breite, sondern die Enge, nicht das Normale, sondern das<lb/>
Abnorme dar; überblickt man aber die Gesamtheit seiner Werke, so erkennt<lb/>
man, daß er im Grunde vielseitiger und, ich möchte sagen, deutscher als die<lb/>
beiden andern ist, z. B. allen deutschen Stammeseigentümlichteiten gerecht zu<lb/>
werden vermag, und auch seine besondre, aus dem Herzen stammende Größe<lb/>
wird auf die Dauer niemand verborgen bleiben. Obwohl er nie Verse ver¬<lb/>
öffentlicht hat, ist er ganz und gar Dichter. Die Zeit wird freilich eine<lb/>
Sichtung unter seinen zahlreichen Werken vornehmen, aber einzelnes, wie den<lb/>
&#x201E;Horacker," kann man schon jetzt ruhig unter den eisernen Bestand der deutschen<lb/>
Litteratur aufnehmen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Die Alten und die Jungen schichte sind. Die längste Lebensdauer unter den Werken Freytags darf mein Wohl den „Journalisten" zusprechen. Soweit die deutschen Lustspiele, etwa den „Zerbrochuen Krug" ausgenommen, hinter der Komödie im weitesten Sinne, ja dem Charakterlustspiel in der Art Moliöres zurückbleiben, so hoch erhebt sich Freytags Werk über die zahllosen Dnrchschnittserzeugnisse und muß bis auf weiteres mit Lessings „Minna von Barnhelm" als der Typus des vor¬ nehmen deutschen Lustspiels gelten; es wird auch wie dieses Stück später „historisch" wirken, ja es thut das eigentlich schon jetzt. Ähnlich wie mit Freytag steht es heute mit Fritz Reuter. Wie der Schlesier, ist auch der Mecklenburger ein Menschenalter hindurch das Entzücken der weitesten Kreise gewesen, bis man denn nun erkennt, daß er veraltet, was doch ein großer Dichter nicht darf. Ich entsinne mich noch recht gut, daß man Reuters humoristische Hauptschöpfnng, den Inspektor Bräsig, kühn neben den Don Quixote stellte; inzwischen hat man gefunden, daß er nicht wie dieser in die Weltlitteratur, ja nicht einmal zu den Schöpfungen gehört, in denen ein ewiger Menschentypus Gestalt gewonnen hat. Dennoch steckt auch in Reuters Werken eine ganze Zeit und eine eigne Welt, es steckt mich eine liebenswürdige Per¬ sönlichkeit drin, sodaß noch immer genug Veranlassung bleibt, sich in sie zu ver¬ tiefen, selbst wenn sie einmal wirklich altmodisch geworden sein sollten. Einige der kleinern Werke Reuters, vor allem „Dorchläuchting," haben ja auch künstlerische Form und werden sich durch diese erhalten. Wie Freytag sür die Jugend, so wird Reuter für das Volk noch lange Zeit große Bedeutung haben. Wem von den Nachlebenden kann man überhaupt eine Bedeutung für das Volk zugestehen? Der dritte und jüngste dieser Prosaiker und Humoristen (ich weiß, nebenbei bemerkt, Reuters „Henne Rute" wohl zu schätzen), Wilhelm Raabe, hat Wohl die größte Zukunft von allen dreien. Er ist bei weitem die stärkste und originellste Persönlichkeit unter ihnen (ich wählte absichtlich das Fremdwort), der ausgesprochenste Humorist, darum vou vornherein auf engere Kreise an¬ gewiesen, aber auch berufen, diese um so länger festzuhalten. Scheinbar ist seine Darstellung weniger groß und frei als die Reuters oder gar Freytags, er stellt nicht die Breite, sondern die Enge, nicht das Normale, sondern das Abnorme dar; überblickt man aber die Gesamtheit seiner Werke, so erkennt man, daß er im Grunde vielseitiger und, ich möchte sagen, deutscher als die beiden andern ist, z. B. allen deutschen Stammeseigentümlichteiten gerecht zu werden vermag, und auch seine besondre, aus dem Herzen stammende Größe wird auf die Dauer niemand verborgen bleiben. Obwohl er nie Verse ver¬ öffentlicht hat, ist er ganz und gar Dichter. Die Zeit wird freilich eine Sichtung unter seinen zahlreichen Werken vornehmen, aber einzelnes, wie den „Horacker," kann man schon jetzt ruhig unter den eisernen Bestand der deutschen Litteratur aufnehmen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/277>, abgerufen am 26.11.2024.