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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

hat in seiner kritischen Sünden Maienblüte alle sieben als "episodische Dichter"
und "Spezialistin," in einen Topf geworfen; sie sind natürlich so etwas, wie
es alle Talente bis zu einem bestimmten Grade sind, das hat sie aber nicht
gehindert, Weltbilder von selbständiger Lebensauffassung zu schaffen oder doch
im Engsten das Weiteste zu spiegeln. Mag man Freytag den Dichter der
Bourgeoisie, Reuter einen mecklenburgischen Dorf-Dickens, Raabe den Dichter
alter Nester, Groth einen Dialektlyriker, Storm einen manierirten Kleinmaler,
Keller einen Schweizer Lokalpoeten, Scheffel endlich einen Archaisten nennen,
das alles sind tadelnde Bezeichnungen, die von äußern Dingen hergenommen
sind; wer tieser in die Werke der Dichter eingedrungen ist und die jünger"
"Kollegen" so reden hört, der kann sich eines Lächelns nicht erwehren. Es
hat in Deutschland immer Kritiker gegeben, die nicht begriffen, daß jedes Bild
einen Rahmen haben muß oder voraussetzt, und daß der große Künstler
gerade durch die richtige Fügung des Rahmens oder, wenn man will, Be¬
schneidung des Bildes die richtige Perspektive zu gewinnen weiß, die ferner
die Größe eines Kunstwerks entweder nur nach dem Stoff oder nach dem
philosophischen Wert des Problems beurteilten und thaten, als ob der
Dichter unter einem Alexander oder Napoleon, einem Faust oder Hamlet
eigentlich gar nicht anfangen dürfe. Diese Leute waren und sind es, die sich
jetzt erkühnen, auf die großen Dichter der fünfziger Jahre mit Verachtung
herabzusehen, obwohl sie keinen von ihnen auf seinem eigensten Gebiete bisher
erreicht, geschweige denn übertroffen haben.

Es ist durchaus nicht meine Absicht, Gustav Freytag zu einem der
größten deutschen Dichter zu erheben und ihm eine tiefgehende Wirkung noch
auf Geschlechter hinaus zu prophezeien; ich weiß sehr wohl, daß der Dichter
Freytag von dem Schriftsteller schwer zu trennen ist, und daß seine Werke
sämtlich starke Zeitelemente enthalten, die ihr Veralten nach und nach herbei¬
führen werden. Ja man kann schon jetzt in den Hauptwerken Freytags, in
den "Journalisten" sowohl wie in den beiden Romanen "Soll und Haben"
und der "Verlornen Handschrift" trotz des noch frischen Humors einzelnes nur
durch Vermittlung geschichtlicher Anschauungen vollständig genießen. Das
hindert aber nicht, daß alle drei Werke in sich abgeschlossene Zeit- und Welt¬
bilder bleiben werden, wie sie nur einem starken Talent, einem weitblickenden
Geiste gelingen, daß in ihnen ein so großes Stück echtdeutschen Lebens steckt,
wie vielleicht in keinem neuern Werke gleicher Gattung, und daß sich wenigstens
die deutsche Jugend noch lange Zeit durch das Lesen dieser Werke zum Ver¬
ständnis unsrer Zeit wird hinausarbeiten können. Auch für die "Ahnen" möchte
ich eine bis ins nächste Jahrhundert dauernde Wirkung auf die Jugend in
Anspruch nehmen, wenn mir auch nicht entgeht, daß sie für die deutsche Ge¬
schichte lange nicht das sind, was Scotts Romane für die schottische und
Alexis Romane für die brandenburgische, mittelbar selbst für die deutsche Ge-


Die Alten und die Jungen

hat in seiner kritischen Sünden Maienblüte alle sieben als „episodische Dichter"
und „Spezialistin," in einen Topf geworfen; sie sind natürlich so etwas, wie
es alle Talente bis zu einem bestimmten Grade sind, das hat sie aber nicht
gehindert, Weltbilder von selbständiger Lebensauffassung zu schaffen oder doch
im Engsten das Weiteste zu spiegeln. Mag man Freytag den Dichter der
Bourgeoisie, Reuter einen mecklenburgischen Dorf-Dickens, Raabe den Dichter
alter Nester, Groth einen Dialektlyriker, Storm einen manierirten Kleinmaler,
Keller einen Schweizer Lokalpoeten, Scheffel endlich einen Archaisten nennen,
das alles sind tadelnde Bezeichnungen, die von äußern Dingen hergenommen
sind; wer tieser in die Werke der Dichter eingedrungen ist und die jünger»
„Kollegen" so reden hört, der kann sich eines Lächelns nicht erwehren. Es
hat in Deutschland immer Kritiker gegeben, die nicht begriffen, daß jedes Bild
einen Rahmen haben muß oder voraussetzt, und daß der große Künstler
gerade durch die richtige Fügung des Rahmens oder, wenn man will, Be¬
schneidung des Bildes die richtige Perspektive zu gewinnen weiß, die ferner
die Größe eines Kunstwerks entweder nur nach dem Stoff oder nach dem
philosophischen Wert des Problems beurteilten und thaten, als ob der
Dichter unter einem Alexander oder Napoleon, einem Faust oder Hamlet
eigentlich gar nicht anfangen dürfe. Diese Leute waren und sind es, die sich
jetzt erkühnen, auf die großen Dichter der fünfziger Jahre mit Verachtung
herabzusehen, obwohl sie keinen von ihnen auf seinem eigensten Gebiete bisher
erreicht, geschweige denn übertroffen haben.

Es ist durchaus nicht meine Absicht, Gustav Freytag zu einem der
größten deutschen Dichter zu erheben und ihm eine tiefgehende Wirkung noch
auf Geschlechter hinaus zu prophezeien; ich weiß sehr wohl, daß der Dichter
Freytag von dem Schriftsteller schwer zu trennen ist, und daß seine Werke
sämtlich starke Zeitelemente enthalten, die ihr Veralten nach und nach herbei¬
führen werden. Ja man kann schon jetzt in den Hauptwerken Freytags, in
den „Journalisten" sowohl wie in den beiden Romanen „Soll und Haben"
und der „Verlornen Handschrift" trotz des noch frischen Humors einzelnes nur
durch Vermittlung geschichtlicher Anschauungen vollständig genießen. Das
hindert aber nicht, daß alle drei Werke in sich abgeschlossene Zeit- und Welt¬
bilder bleiben werden, wie sie nur einem starken Talent, einem weitblickenden
Geiste gelingen, daß in ihnen ein so großes Stück echtdeutschen Lebens steckt,
wie vielleicht in keinem neuern Werke gleicher Gattung, und daß sich wenigstens
die deutsche Jugend noch lange Zeit durch das Lesen dieser Werke zum Ver¬
ständnis unsrer Zeit wird hinausarbeiten können. Auch für die „Ahnen" möchte
ich eine bis ins nächste Jahrhundert dauernde Wirkung auf die Jugend in
Anspruch nehmen, wenn mir auch nicht entgeht, daß sie für die deutsche Ge¬
schichte lange nicht das sind, was Scotts Romane für die schottische und
Alexis Romane für die brandenburgische, mittelbar selbst für die deutsche Ge-


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[0276] Die Alten und die Jungen hat in seiner kritischen Sünden Maienblüte alle sieben als „episodische Dichter" und „Spezialistin," in einen Topf geworfen; sie sind natürlich so etwas, wie es alle Talente bis zu einem bestimmten Grade sind, das hat sie aber nicht gehindert, Weltbilder von selbständiger Lebensauffassung zu schaffen oder doch im Engsten das Weiteste zu spiegeln. Mag man Freytag den Dichter der Bourgeoisie, Reuter einen mecklenburgischen Dorf-Dickens, Raabe den Dichter alter Nester, Groth einen Dialektlyriker, Storm einen manierirten Kleinmaler, Keller einen Schweizer Lokalpoeten, Scheffel endlich einen Archaisten nennen, das alles sind tadelnde Bezeichnungen, die von äußern Dingen hergenommen sind; wer tieser in die Werke der Dichter eingedrungen ist und die jünger» „Kollegen" so reden hört, der kann sich eines Lächelns nicht erwehren. Es hat in Deutschland immer Kritiker gegeben, die nicht begriffen, daß jedes Bild einen Rahmen haben muß oder voraussetzt, und daß der große Künstler gerade durch die richtige Fügung des Rahmens oder, wenn man will, Be¬ schneidung des Bildes die richtige Perspektive zu gewinnen weiß, die ferner die Größe eines Kunstwerks entweder nur nach dem Stoff oder nach dem philosophischen Wert des Problems beurteilten und thaten, als ob der Dichter unter einem Alexander oder Napoleon, einem Faust oder Hamlet eigentlich gar nicht anfangen dürfe. Diese Leute waren und sind es, die sich jetzt erkühnen, auf die großen Dichter der fünfziger Jahre mit Verachtung herabzusehen, obwohl sie keinen von ihnen auf seinem eigensten Gebiete bisher erreicht, geschweige denn übertroffen haben. Es ist durchaus nicht meine Absicht, Gustav Freytag zu einem der größten deutschen Dichter zu erheben und ihm eine tiefgehende Wirkung noch auf Geschlechter hinaus zu prophezeien; ich weiß sehr wohl, daß der Dichter Freytag von dem Schriftsteller schwer zu trennen ist, und daß seine Werke sämtlich starke Zeitelemente enthalten, die ihr Veralten nach und nach herbei¬ führen werden. Ja man kann schon jetzt in den Hauptwerken Freytags, in den „Journalisten" sowohl wie in den beiden Romanen „Soll und Haben" und der „Verlornen Handschrift" trotz des noch frischen Humors einzelnes nur durch Vermittlung geschichtlicher Anschauungen vollständig genießen. Das hindert aber nicht, daß alle drei Werke in sich abgeschlossene Zeit- und Welt¬ bilder bleiben werden, wie sie nur einem starken Talent, einem weitblickenden Geiste gelingen, daß in ihnen ein so großes Stück echtdeutschen Lebens steckt, wie vielleicht in keinem neuern Werke gleicher Gattung, und daß sich wenigstens die deutsche Jugend noch lange Zeit durch das Lesen dieser Werke zum Ver¬ ständnis unsrer Zeit wird hinausarbeiten können. Auch für die „Ahnen" möchte ich eine bis ins nächste Jahrhundert dauernde Wirkung auf die Jugend in Anspruch nehmen, wenn mir auch nicht entgeht, daß sie für die deutsche Ge¬ schichte lange nicht das sind, was Scotts Romane für die schottische und Alexis Romane für die brandenburgische, mittelbar selbst für die deutsche Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/276>, abgerufen am 26.11.2024.