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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Wirkung ja nicht ans seine Zeit angewiesen, Kleist ist heute schon Klassiker
geworden, Hebbel und Ludwig werden es in einigen Jahrzehnten auch sein.

Neben den beiden Genies, die das sechste Jahrzehnt mit Werken wie
"Herodes und Marianne" und dein "Erbförster" einleiteten und mit den
"Nibelungen" und den "Mcckkabäern" die Höhen der deutschen Dichtung er¬
klommen, stand dann eine ganze Reihe vou großen Talenten. Ich übergehe
hier das Schaffen aller ältern Dichter, so sicher auch Werke wie Mörikes "Mozart
auf der Reise mich Prag," Simrocks "Amelungenlied," Halms "Fechter von
Ravenna," Mosers "Sohn des Fürsten" und, um auch ein Unterhaltungswerk
zu nennen, HolteiS "Vagabunden" mit zu der litterarischen Physiognomie der
fünfziger Jahre gehören; ich erwähne nur kurz, daß Heines "Romanzerv" in
die ersten fünfziger Jahre fällt, obwohl ich dieses Gemisch von echter Poesie
und nacktestem Cynismus in dein Gesamtbilde der Litteratur jener Zeit nicht
übersehen wissen möchte, zumal da sich viel Späteres recht wohl daran an¬
knüpfen läßt; ich schweige endlich auch vou Gutzkows großen Zeitromanen, den
"Rittern vom Geist" und dem "Zauberer von Rom," obwohl sie auf Jahr¬
zehnte hinaus maßgebend blieben und manches enthalten, was noch heute nicht
überwunden, d. h. durch bedeutendere Darstellungen derselben Verhältnisse
in den Hintergrund gedrängt ist. Mehr Veranlassung läge vor, Jeremias
Gotthelf, dessen gesammelte Schriften von 1855 bis 1858 erschienen und
nun erst recht gewürdigt wurden, Willibald Alexis, dessen Brandenburger
Romane mit Ausnahme des "Cabanis" (1832) in die vierziger und fünfziger
Jcchre fallen, Auerbach und Stifter, die jetzt auf ihrer Höhe standen, hier aus¬
führlicher zu charakterisiren, aber der Schwerpunkt bei der Beurteilung der
litterarischen Leistungen einer Zeit ist natürlich aus die Dichter und ihre Werke
,',u legen, die erst in ihr hervorgetreten, ihr ganz angehören. So wende ich
mich denn zu den Iwminos novi.

Es sind meiner Ansicht nach sieben Dichter, die, in den fünfziger Jahren
g"r Wirkung gelangt, eine besondre Stellung, eine Stellung für sich allein in
Anspruch nehmen dürfen, keiner Gruppe einzufügen, keiner Schule beizuzählen
sind, und zwar wird dieses Siebengestirn großer poetischer Talente von Reuter,
Freytag, Storni, Groth, Keller, Scheffel, Raabe, oder in besserer Anordnung
"is der nach den Geburtsjahren von Freytag, Reuter, Raabe; Groth, Storm,
Keller, Scheffel gebildet -- das Semikolon zeigt die Auflösung des Sieben¬
gestirns in ein Drei- und ein Viergestirn an, von denen das Dreigestirn die
Prosaiker, das Viergestirn die Poeten umfaßt. Die Prosaiker könnte man auch
Humoristen nennen, doch fehlt es anch den Poeten, namentlich Keller und
Scheffel, nicht an Humor. Sonst haben die Sieben wenig gemein, es sei denn
etwa Freytag und Reuter den von Dickens beeinflußten Realismus und an¬
nähernd den geistigen Gesichtskreis, Storm und Keller die künstlerische Fein¬
heit und gelegentlich die künstlerische Stimmung. Das jüngste Deutschland


Die Alten und die Jungen

Wirkung ja nicht ans seine Zeit angewiesen, Kleist ist heute schon Klassiker
geworden, Hebbel und Ludwig werden es in einigen Jahrzehnten auch sein.

Neben den beiden Genies, die das sechste Jahrzehnt mit Werken wie
„Herodes und Marianne" und dein „Erbförster" einleiteten und mit den
„Nibelungen" und den „Mcckkabäern" die Höhen der deutschen Dichtung er¬
klommen, stand dann eine ganze Reihe vou großen Talenten. Ich übergehe
hier das Schaffen aller ältern Dichter, so sicher auch Werke wie Mörikes „Mozart
auf der Reise mich Prag," Simrocks „Amelungenlied," Halms „Fechter von
Ravenna," Mosers „Sohn des Fürsten" und, um auch ein Unterhaltungswerk
zu nennen, HolteiS „Vagabunden" mit zu der litterarischen Physiognomie der
fünfziger Jahre gehören; ich erwähne nur kurz, daß Heines „Romanzerv" in
die ersten fünfziger Jahre fällt, obwohl ich dieses Gemisch von echter Poesie
und nacktestem Cynismus in dein Gesamtbilde der Litteratur jener Zeit nicht
übersehen wissen möchte, zumal da sich viel Späteres recht wohl daran an¬
knüpfen läßt; ich schweige endlich auch vou Gutzkows großen Zeitromanen, den
„Rittern vom Geist" und dem „Zauberer von Rom," obwohl sie auf Jahr¬
zehnte hinaus maßgebend blieben und manches enthalten, was noch heute nicht
überwunden, d. h. durch bedeutendere Darstellungen derselben Verhältnisse
in den Hintergrund gedrängt ist. Mehr Veranlassung läge vor, Jeremias
Gotthelf, dessen gesammelte Schriften von 1855 bis 1858 erschienen und
nun erst recht gewürdigt wurden, Willibald Alexis, dessen Brandenburger
Romane mit Ausnahme des „Cabanis" (1832) in die vierziger und fünfziger
Jcchre fallen, Auerbach und Stifter, die jetzt auf ihrer Höhe standen, hier aus¬
führlicher zu charakterisiren, aber der Schwerpunkt bei der Beurteilung der
litterarischen Leistungen einer Zeit ist natürlich aus die Dichter und ihre Werke
,',u legen, die erst in ihr hervorgetreten, ihr ganz angehören. So wende ich
mich denn zu den Iwminos novi.

Es sind meiner Ansicht nach sieben Dichter, die, in den fünfziger Jahren
g»r Wirkung gelangt, eine besondre Stellung, eine Stellung für sich allein in
Anspruch nehmen dürfen, keiner Gruppe einzufügen, keiner Schule beizuzählen
sind, und zwar wird dieses Siebengestirn großer poetischer Talente von Reuter,
Freytag, Storni, Groth, Keller, Scheffel, Raabe, oder in besserer Anordnung
"is der nach den Geburtsjahren von Freytag, Reuter, Raabe; Groth, Storm,
Keller, Scheffel gebildet — das Semikolon zeigt die Auflösung des Sieben¬
gestirns in ein Drei- und ein Viergestirn an, von denen das Dreigestirn die
Prosaiker, das Viergestirn die Poeten umfaßt. Die Prosaiker könnte man auch
Humoristen nennen, doch fehlt es anch den Poeten, namentlich Keller und
Scheffel, nicht an Humor. Sonst haben die Sieben wenig gemein, es sei denn
etwa Freytag und Reuter den von Dickens beeinflußten Realismus und an¬
nähernd den geistigen Gesichtskreis, Storm und Keller die künstlerische Fein¬
heit und gelegentlich die künstlerische Stimmung. Das jüngste Deutschland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/275>, abgerufen am 26.11.2024.