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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterversichermig

meist ablehnend Verhalten haben. Das muß endlich einmal offen ausgesprochen
werden, gerade weil man es anzuerkennen hat, daß in der Frage der Gesamt-
arbciterversichcrung und ihrer Reform rechtskundige Theoretiker und Praktiker
jüdischer Herkunft sich große Verdienste erworben haben, und zwar auch in dem
bisher sehr undankbaren Kampfe gegen die Unantastbarkeit der berufsgenossen¬
schaftlichen Selbstverwaltung.

Daß in den Unfallberufsgenossenschaften insofern schlecht gewirtschaftet
werde, daß man die Verwaltungskosten unnötig und übermäßig hoch anschwellen
lasse, haben wir niemals recht geglaubt. Die an der Spitze stehenden Geschäfts¬
leute sind doch wohl zu geschäftserfahren und zu klug, als daß Sir durch eine
schlechte Wirtschaft in dieser Richtung ihren Ruhm gefährden sollten. Die
hohen Verwaltungskosten haben ebenso wie die ganze schlechte Wirtschaft in
der Organisation selbst, in der Organisation der Unfallversicherung wie in
der der Gesamtarbeiterversicherung, ihren Grund.

Wie diese mangelhafte Organisation beschaffen ist, das schildert wieder
besonders gut Regierungsrat Wiener in dem angeführten Aufsatze. Man
habe, schreibt er, eine Organisation zu stände gebracht, die an Unübersichtlich¬
keit nichts zu wünschen übrig lasse. Die land- und forstwirtschaftlichen Be¬
triebe feien in 48 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die industriellen
und gewerblichen Betriebe in 64 Fachberufsgenossenschaften eingeteilt, dazu
kämen noch 13 Versicherungsanstalten der Baugciverksberufsgcnossenschaftcn
für die Versicherung der Negiebauteu und 343 Ausführungsbehördeu sür die
Reichs-, Staats- und Kommunalbetriebe. Die Bezirke dieser Organe der Unfall¬
versicherung fielen nur ausnahmsweise mit denen der Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherungsanstalten und vollends mit denen der Organe der Krankenkassen zu¬
sammen. Manche Berufsgenossenschaften umfaßten das ganze Reich, andre nur
einen Teil, die meisten seien in Sektionen gegliedert, einzelne entbehrten
der Sektionsbilduug. Und trotz dieser großen Zahl von "Versicherungsträgern"
sei es doch nicht gelungen, alle sachlich zusammengehörigen Berufszweige jeweilig
in eine Berufsgenossenschaft zu vereinigen. Wie sollten sich die untern Ver-
waltungs- und Polizeibehörden, und vollends die Unternehmer und die Ar¬
beiter in diesem Wirrwarr von Versicherungsorgaueu zurecht finden? Sei es
da zu verwundern, daß die den untern Verwaltungsbehörden eingereichten Be¬
triebsanmeldungen und ebenso die an die Ortspolizeibehörden erstatteten Unfall¬
anzeigen mitunter Wochen- ja monatelang umherirrten, bis sie an die richtige
Adresse gelangten? Angesichts dieser Zustünde tritt Wiener entschieden dafür
ein, daß mit dem berufsgenossenschaftlichen Prinzip gebrochen und für eine
territoriale Organisation Raum geschaffen werde und daß die bisher getrennten
Apparate der drei Zweige der gesamten Arbeiterversicherung angemessen zu¬
sammengefaßt werden. Es ist hier nicht unsre Absicht, auf die Einzelheiten der
Vorschläge für diese zusammenfassende Reform, wie sie auch von dem ver-


Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterversichermig

meist ablehnend Verhalten haben. Das muß endlich einmal offen ausgesprochen
werden, gerade weil man es anzuerkennen hat, daß in der Frage der Gesamt-
arbciterversichcrung und ihrer Reform rechtskundige Theoretiker und Praktiker
jüdischer Herkunft sich große Verdienste erworben haben, und zwar auch in dem
bisher sehr undankbaren Kampfe gegen die Unantastbarkeit der berufsgenossen¬
schaftlichen Selbstverwaltung.

Daß in den Unfallberufsgenossenschaften insofern schlecht gewirtschaftet
werde, daß man die Verwaltungskosten unnötig und übermäßig hoch anschwellen
lasse, haben wir niemals recht geglaubt. Die an der Spitze stehenden Geschäfts¬
leute sind doch wohl zu geschäftserfahren und zu klug, als daß Sir durch eine
schlechte Wirtschaft in dieser Richtung ihren Ruhm gefährden sollten. Die
hohen Verwaltungskosten haben ebenso wie die ganze schlechte Wirtschaft in
der Organisation selbst, in der Organisation der Unfallversicherung wie in
der der Gesamtarbeiterversicherung, ihren Grund.

Wie diese mangelhafte Organisation beschaffen ist, das schildert wieder
besonders gut Regierungsrat Wiener in dem angeführten Aufsatze. Man
habe, schreibt er, eine Organisation zu stände gebracht, die an Unübersichtlich¬
keit nichts zu wünschen übrig lasse. Die land- und forstwirtschaftlichen Be¬
triebe feien in 48 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die industriellen
und gewerblichen Betriebe in 64 Fachberufsgenossenschaften eingeteilt, dazu
kämen noch 13 Versicherungsanstalten der Baugciverksberufsgcnossenschaftcn
für die Versicherung der Negiebauteu und 343 Ausführungsbehördeu sür die
Reichs-, Staats- und Kommunalbetriebe. Die Bezirke dieser Organe der Unfall¬
versicherung fielen nur ausnahmsweise mit denen der Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherungsanstalten und vollends mit denen der Organe der Krankenkassen zu¬
sammen. Manche Berufsgenossenschaften umfaßten das ganze Reich, andre nur
einen Teil, die meisten seien in Sektionen gegliedert, einzelne entbehrten
der Sektionsbilduug. Und trotz dieser großen Zahl von „Versicherungsträgern"
sei es doch nicht gelungen, alle sachlich zusammengehörigen Berufszweige jeweilig
in eine Berufsgenossenschaft zu vereinigen. Wie sollten sich die untern Ver-
waltungs- und Polizeibehörden, und vollends die Unternehmer und die Ar¬
beiter in diesem Wirrwarr von Versicherungsorgaueu zurecht finden? Sei es
da zu verwundern, daß die den untern Verwaltungsbehörden eingereichten Be¬
triebsanmeldungen und ebenso die an die Ortspolizeibehörden erstatteten Unfall¬
anzeigen mitunter Wochen- ja monatelang umherirrten, bis sie an die richtige
Adresse gelangten? Angesichts dieser Zustünde tritt Wiener entschieden dafür
ein, daß mit dem berufsgenossenschaftlichen Prinzip gebrochen und für eine
territoriale Organisation Raum geschaffen werde und daß die bisher getrennten
Apparate der drei Zweige der gesamten Arbeiterversicherung angemessen zu¬
sammengefaßt werden. Es ist hier nicht unsre Absicht, auf die Einzelheiten der
Vorschläge für diese zusammenfassende Reform, wie sie auch von dem ver-


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[0254] Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterversichermig meist ablehnend Verhalten haben. Das muß endlich einmal offen ausgesprochen werden, gerade weil man es anzuerkennen hat, daß in der Frage der Gesamt- arbciterversichcrung und ihrer Reform rechtskundige Theoretiker und Praktiker jüdischer Herkunft sich große Verdienste erworben haben, und zwar auch in dem bisher sehr undankbaren Kampfe gegen die Unantastbarkeit der berufsgenossen¬ schaftlichen Selbstverwaltung. Daß in den Unfallberufsgenossenschaften insofern schlecht gewirtschaftet werde, daß man die Verwaltungskosten unnötig und übermäßig hoch anschwellen lasse, haben wir niemals recht geglaubt. Die an der Spitze stehenden Geschäfts¬ leute sind doch wohl zu geschäftserfahren und zu klug, als daß Sir durch eine schlechte Wirtschaft in dieser Richtung ihren Ruhm gefährden sollten. Die hohen Verwaltungskosten haben ebenso wie die ganze schlechte Wirtschaft in der Organisation selbst, in der Organisation der Unfallversicherung wie in der der Gesamtarbeiterversicherung, ihren Grund. Wie diese mangelhafte Organisation beschaffen ist, das schildert wieder besonders gut Regierungsrat Wiener in dem angeführten Aufsatze. Man habe, schreibt er, eine Organisation zu stände gebracht, die an Unübersichtlich¬ keit nichts zu wünschen übrig lasse. Die land- und forstwirtschaftlichen Be¬ triebe feien in 48 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die industriellen und gewerblichen Betriebe in 64 Fachberufsgenossenschaften eingeteilt, dazu kämen noch 13 Versicherungsanstalten der Baugciverksberufsgcnossenschaftcn für die Versicherung der Negiebauteu und 343 Ausführungsbehördeu sür die Reichs-, Staats- und Kommunalbetriebe. Die Bezirke dieser Organe der Unfall¬ versicherung fielen nur ausnahmsweise mit denen der Jnvaliditäts- und Alters¬ versicherungsanstalten und vollends mit denen der Organe der Krankenkassen zu¬ sammen. Manche Berufsgenossenschaften umfaßten das ganze Reich, andre nur einen Teil, die meisten seien in Sektionen gegliedert, einzelne entbehrten der Sektionsbilduug. Und trotz dieser großen Zahl von „Versicherungsträgern" sei es doch nicht gelungen, alle sachlich zusammengehörigen Berufszweige jeweilig in eine Berufsgenossenschaft zu vereinigen. Wie sollten sich die untern Ver- waltungs- und Polizeibehörden, und vollends die Unternehmer und die Ar¬ beiter in diesem Wirrwarr von Versicherungsorgaueu zurecht finden? Sei es da zu verwundern, daß die den untern Verwaltungsbehörden eingereichten Be¬ triebsanmeldungen und ebenso die an die Ortspolizeibehörden erstatteten Unfall¬ anzeigen mitunter Wochen- ja monatelang umherirrten, bis sie an die richtige Adresse gelangten? Angesichts dieser Zustünde tritt Wiener entschieden dafür ein, daß mit dem berufsgenossenschaftlichen Prinzip gebrochen und für eine territoriale Organisation Raum geschaffen werde und daß die bisher getrennten Apparate der drei Zweige der gesamten Arbeiterversicherung angemessen zu¬ sammengefaßt werden. Es ist hier nicht unsre Absicht, auf die Einzelheiten der Vorschläge für diese zusammenfassende Reform, wie sie auch von dem ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/254>, abgerufen am 25.11.2024.