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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterversichcrung

leitenden Kreisen blind wäre gegen die Gefahr des Mißbrauchs jener Be¬
handlung der verunglückten Arbeiter in reinen Arbeitgeberanstalten. Die
Arbeiter haben ein gutes Recht, vor dieser Gefahr geschützt zu werde",
aber nicht durch die Rädelsführer der Sozialdemokratie, sondern durch den
über allen sich widerstreitenden Interessen stehenden Staat. Auch darauf sei
hier hingewiesen, was der Vorsitzende des Schiedsgerichts für die badische
landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, Regierungsrat Wiener, etwa vor einem
Jahre in der Zeitschrift für die badische Verwaltung und Verwaltungs¬
rechtspflege in einem Aufsatz "Zur Reform der Unfallversicherung" treffend
mit folgenden Worten gekennzeichnet hat: "Daß man auch in den Kreisen der
Großindustrie von dem Organismus der Berufsgenossenschaften nicht mehr
durchaus befriedigt ist, wird zwar öffentlich -- namentlich in den Versamm¬
lungen der Geschäftsleiter -- nicht zugegeben, aber in vertraulichen Mittei¬
lungen nicht in Abrede gestellt. Die Illusion, daß die Genossenschaft von ein¬
sichtigen und opferwilligen Fnchgenossen selbst verwaltet werden könne, hat man
längst abgelegt. Die immer größer werdende Geschäftslast hat mit wenigen
anerkennenswerten Ausnahmen selbst die besten allmählich zurückgeschreckt, und
die natürliche Entwicklung hat dazu geführt, daß berufsmäßige Geschäfts¬
führer die Verwaltung der Berufsgenossenschaften und ihrer Sektionen, nicht
selten die von mehreren Berufsgenossenschaften gleichzeitig, besorgen." Es ist
ganz falsch, die Selbstverwaltung so ohne weiteres als Gegensatz hinzustellen
zu der viel verschrieenen Büreaukratie. Sie erzeugt unter Umständen eine eigne
Bureaukratie, eine Schreiberwirtschnft schlimmster Art, ohne die doch unbe¬
streitbaren Bürgschaften eines vom Staate vorgebildeten und ihm verantwort¬
lichen Beamtentums. Es ist zwar im Gegensatze zu den Ausführungen Wieners
anzuerkennen, daß sich gerade in neuerer Zeit eine Menge sehr befähigter und
eifriger reicher Geschäftsleute um die ehrenamtliche Leitung von Berufsge-
nossenschaften beworben hat, anch Herren aus jüdischen Kreisen. Aber selbst
von einem Standpunkte aus, der den landläufigen Antisemitismus zurückweist,
wird man die Besorgnis mancher begreiflich finden, daß bei der Übernahme
der großen Arbeitslast der Vorstandschaft einer Berufsgenossenschaft vielfach das
ehrgeizige Streben nach einer äußerlich hervorragenden und gewissermaßen
herrschenden Stellung die Triebfeder ist, und daß dann anch leicht die Verwaltungs¬
thätigkeit zu einer vielleicht sehr fleißigen und geschickten, aber doch mehr dem
äußerlichen persönlichen Erfolg dienenden Wirtschaft wird, als zu einem wirklich
aufopferungsvollen Dienst für den großen sozialen Zweck der Arbeiterversichc¬
rung. Vielleicht ist es schon in einem gewissen Grade auf die Wirkung dieses
sozusagen kaufmännischen Privatehrgeizes zurückzuführen, daß sich die Vor¬
stände der Verufsgeuossenschaften trotz aller Mühe, die sie zuweilen von ihrem
Amte haben, bisher gegen die gebotne Zusammenfassung der drei Zweige der
Arbeiterversichcrung und die damit verbundne Störung ihrer Herrschaftsstellung


Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterversichcrung

leitenden Kreisen blind wäre gegen die Gefahr des Mißbrauchs jener Be¬
handlung der verunglückten Arbeiter in reinen Arbeitgeberanstalten. Die
Arbeiter haben ein gutes Recht, vor dieser Gefahr geschützt zu werde»,
aber nicht durch die Rädelsführer der Sozialdemokratie, sondern durch den
über allen sich widerstreitenden Interessen stehenden Staat. Auch darauf sei
hier hingewiesen, was der Vorsitzende des Schiedsgerichts für die badische
landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, Regierungsrat Wiener, etwa vor einem
Jahre in der Zeitschrift für die badische Verwaltung und Verwaltungs¬
rechtspflege in einem Aufsatz „Zur Reform der Unfallversicherung" treffend
mit folgenden Worten gekennzeichnet hat: „Daß man auch in den Kreisen der
Großindustrie von dem Organismus der Berufsgenossenschaften nicht mehr
durchaus befriedigt ist, wird zwar öffentlich — namentlich in den Versamm¬
lungen der Geschäftsleiter — nicht zugegeben, aber in vertraulichen Mittei¬
lungen nicht in Abrede gestellt. Die Illusion, daß die Genossenschaft von ein¬
sichtigen und opferwilligen Fnchgenossen selbst verwaltet werden könne, hat man
längst abgelegt. Die immer größer werdende Geschäftslast hat mit wenigen
anerkennenswerten Ausnahmen selbst die besten allmählich zurückgeschreckt, und
die natürliche Entwicklung hat dazu geführt, daß berufsmäßige Geschäfts¬
führer die Verwaltung der Berufsgenossenschaften und ihrer Sektionen, nicht
selten die von mehreren Berufsgenossenschaften gleichzeitig, besorgen." Es ist
ganz falsch, die Selbstverwaltung so ohne weiteres als Gegensatz hinzustellen
zu der viel verschrieenen Büreaukratie. Sie erzeugt unter Umständen eine eigne
Bureaukratie, eine Schreiberwirtschnft schlimmster Art, ohne die doch unbe¬
streitbaren Bürgschaften eines vom Staate vorgebildeten und ihm verantwort¬
lichen Beamtentums. Es ist zwar im Gegensatze zu den Ausführungen Wieners
anzuerkennen, daß sich gerade in neuerer Zeit eine Menge sehr befähigter und
eifriger reicher Geschäftsleute um die ehrenamtliche Leitung von Berufsge-
nossenschaften beworben hat, anch Herren aus jüdischen Kreisen. Aber selbst
von einem Standpunkte aus, der den landläufigen Antisemitismus zurückweist,
wird man die Besorgnis mancher begreiflich finden, daß bei der Übernahme
der großen Arbeitslast der Vorstandschaft einer Berufsgenossenschaft vielfach das
ehrgeizige Streben nach einer äußerlich hervorragenden und gewissermaßen
herrschenden Stellung die Triebfeder ist, und daß dann anch leicht die Verwaltungs¬
thätigkeit zu einer vielleicht sehr fleißigen und geschickten, aber doch mehr dem
äußerlichen persönlichen Erfolg dienenden Wirtschaft wird, als zu einem wirklich
aufopferungsvollen Dienst für den großen sozialen Zweck der Arbeiterversichc¬
rung. Vielleicht ist es schon in einem gewissen Grade auf die Wirkung dieses
sozusagen kaufmännischen Privatehrgeizes zurückzuführen, daß sich die Vor¬
stände der Verufsgeuossenschaften trotz aller Mühe, die sie zuweilen von ihrem
Amte haben, bisher gegen die gebotne Zusammenfassung der drei Zweige der
Arbeiterversichcrung und die damit verbundne Störung ihrer Herrschaftsstellung


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[0253] Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterversichcrung leitenden Kreisen blind wäre gegen die Gefahr des Mißbrauchs jener Be¬ handlung der verunglückten Arbeiter in reinen Arbeitgeberanstalten. Die Arbeiter haben ein gutes Recht, vor dieser Gefahr geschützt zu werde», aber nicht durch die Rädelsführer der Sozialdemokratie, sondern durch den über allen sich widerstreitenden Interessen stehenden Staat. Auch darauf sei hier hingewiesen, was der Vorsitzende des Schiedsgerichts für die badische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, Regierungsrat Wiener, etwa vor einem Jahre in der Zeitschrift für die badische Verwaltung und Verwaltungs¬ rechtspflege in einem Aufsatz „Zur Reform der Unfallversicherung" treffend mit folgenden Worten gekennzeichnet hat: „Daß man auch in den Kreisen der Großindustrie von dem Organismus der Berufsgenossenschaften nicht mehr durchaus befriedigt ist, wird zwar öffentlich — namentlich in den Versamm¬ lungen der Geschäftsleiter — nicht zugegeben, aber in vertraulichen Mittei¬ lungen nicht in Abrede gestellt. Die Illusion, daß die Genossenschaft von ein¬ sichtigen und opferwilligen Fnchgenossen selbst verwaltet werden könne, hat man längst abgelegt. Die immer größer werdende Geschäftslast hat mit wenigen anerkennenswerten Ausnahmen selbst die besten allmählich zurückgeschreckt, und die natürliche Entwicklung hat dazu geführt, daß berufsmäßige Geschäfts¬ führer die Verwaltung der Berufsgenossenschaften und ihrer Sektionen, nicht selten die von mehreren Berufsgenossenschaften gleichzeitig, besorgen." Es ist ganz falsch, die Selbstverwaltung so ohne weiteres als Gegensatz hinzustellen zu der viel verschrieenen Büreaukratie. Sie erzeugt unter Umständen eine eigne Bureaukratie, eine Schreiberwirtschnft schlimmster Art, ohne die doch unbe¬ streitbaren Bürgschaften eines vom Staate vorgebildeten und ihm verantwort¬ lichen Beamtentums. Es ist zwar im Gegensatze zu den Ausführungen Wieners anzuerkennen, daß sich gerade in neuerer Zeit eine Menge sehr befähigter und eifriger reicher Geschäftsleute um die ehrenamtliche Leitung von Berufsge- nossenschaften beworben hat, anch Herren aus jüdischen Kreisen. Aber selbst von einem Standpunkte aus, der den landläufigen Antisemitismus zurückweist, wird man die Besorgnis mancher begreiflich finden, daß bei der Übernahme der großen Arbeitslast der Vorstandschaft einer Berufsgenossenschaft vielfach das ehrgeizige Streben nach einer äußerlich hervorragenden und gewissermaßen herrschenden Stellung die Triebfeder ist, und daß dann anch leicht die Verwaltungs¬ thätigkeit zu einer vielleicht sehr fleißigen und geschickten, aber doch mehr dem äußerlichen persönlichen Erfolg dienenden Wirtschaft wird, als zu einem wirklich aufopferungsvollen Dienst für den großen sozialen Zweck der Arbeiterversichc¬ rung. Vielleicht ist es schon in einem gewissen Grade auf die Wirkung dieses sozusagen kaufmännischen Privatehrgeizes zurückzuführen, daß sich die Vor¬ stände der Verufsgeuossenschaften trotz aller Mühe, die sie zuweilen von ihrem Amte haben, bisher gegen die gebotne Zusammenfassung der drei Zweige der Arbeiterversichcrung und die damit verbundne Störung ihrer Herrschaftsstellung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/253>, abgerufen am 25.11.2024.