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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Übergangsschicht. Diese Verwandlung ist um so merkwürdiger, da England länger
als Deutschland und Frankreich, bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein, ein reiner
Agrikulturstaat geblieben war, in dem, nebenbei bemerkt, die Gutsbesitzer den nach
Monopolen und Privilegien gierigen Städtern gegenüber, so gut es gehen wollte,
die Handelsfreiheit verteidigten (Ashley, S. 104). Aber es ist klar, daß die Ver¬
nichtung des Bauernstandes die Vorbedingung der industriellen und kolonialen
Größe Englands gewesen ist, weil nur auf diese Weise tu einer Zeit, wo England
noch nicht übervölkert war, die für die gewaltige industrielle Entwicklung erforder¬
liche Arbeiterzahl, die Bemannung der Flotte und der für die Koloniengründung
nötige Auswandrerstrom beschafft werden konnte, und weil die Erzeugnisse der eng¬
lischen Industrie keine Abnehmer finden würden, wenn sie nicht mit Lebensmitteln
bezahlt werden könnten. Will man aber diese Umwälzung für einen Fortschritt er¬
klären und daraus folgern, daß alle Nationen, zunächst Deutschland und Frank¬
reich, denselben Fortschritt machen müßten, so liegt es auf der Hand, daß dieser
Fortschritt unausführbar ist. Denn Voraussetzung eines Industriestaats sind Agrcir-
staaten, die ihm seine Jndustrieerzeugnisse abnehmen und mit Nahrungsmitteln und
Rohstoffen bezahlen; in dem Maße aber, als sich die bisherigen Agrarstaaten selbst
auf Industrie verlegen, wird nicht allein die Entstehung neuer reiner Industrie¬
staaten unmöglich, sondern auch der Fortbestand der auf Handel und Industrie ge¬
gründeten englischen Weltmacht in Frage gestellt. Demnach ist von der heutigen
allgemeinen Überspannung der industriellen Thätigkeit eher eine schreckliche Kata¬
strophe zu befürchten als eine gesunde Fortentwicklung zu hoffen, und es wäre ein
Frevel, sie künstlich und gewaltsam fördern zu wollen.

Nur das erste Kapitel von Ashleys Buch ist den ländlichen Verhältnissen ge¬
widmet. Das zweite behandelt die Kaufmanns- und Handwerkergilden, das dritte
die wirtschaftlichen Theorien und die Gesetzgebung des Mittelalters. Im Litteratur¬
verzeichnis zum zweiten Kapitel ist uns aufgefallen, daß unter den angeführten
deutschen Autoren gerade die drei wichtigsten fehlen: Wilda, Gierke und Karl Hegel;
das dritte enthält eine interessante und eingehende Würdigung der wirtschaftlichen
Grundsätze des Neuen Testaments, der Kirchenväter, der Scholastiker und des kano¬
nischen Rechts und eine gründliche Untersuchung der Berechtigung des Zinses. Im
ersten Kapitel wird natürlich auch der den Grenzbotenlesern bekannte Thorold
Rogers oft angeführt; wir wollen daher bei dieser Gelegenheit mitteilen, daß
soeben bei I. H. W. Dietz in Stuttgart eine gute Übersetzung seiner Lix Lguwriss
ok'VVorlc unä ^VaAss von Max Pannwitz (revidirt von Karl Kautsky) unter dem
Titel: Die Geschichte der englischen Arbeit erschienen ist.


Bon rechter Verdeutschung des Evangeliums, Ein Ausblick an Ende deS Jahr¬
hunderts. Von I^lo, Dr. Georg Schnedermann, a, o, Professor der Theologie an der
Universität Leipzig, Leipzig, A, Dcichert, MttZ

Vor einiger Zeit wurde in einem Artikel der Grenzboten die Besorgnis aus¬
gesprochen, daß aus der übertriebnen Wertschätzung gewisser vielumstrittner Glaubens¬
sätze, die sich in dem Streit um das Apostolikum in streng kirchlichen Kreisen ge¬
zeigt habe, schließlich eine große Verwirrung in dem noch kirchlich gebliebner Volke
entstehen werde. Die Gemeinde müsse "zu einem reinern, tiefern Verständnis, was
wesentlich an unserm Glauben ist, was nicht, zu einer reifern Auffassung von unsrer
Stellung zur Bibel, zu einem geschichtlich klarern Verständnis ihres Inhalts" ge¬
führt werden. Damit aber die kirchlichen Behörden solche Bestrebungen förderten,
müsse diese Forderung von unsrer konservativen, "gläubigen," positiven Geistlichkeit


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Übergangsschicht. Diese Verwandlung ist um so merkwürdiger, da England länger
als Deutschland und Frankreich, bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein, ein reiner
Agrikulturstaat geblieben war, in dem, nebenbei bemerkt, die Gutsbesitzer den nach
Monopolen und Privilegien gierigen Städtern gegenüber, so gut es gehen wollte,
die Handelsfreiheit verteidigten (Ashley, S. 104). Aber es ist klar, daß die Ver¬
nichtung des Bauernstandes die Vorbedingung der industriellen und kolonialen
Größe Englands gewesen ist, weil nur auf diese Weise tu einer Zeit, wo England
noch nicht übervölkert war, die für die gewaltige industrielle Entwicklung erforder¬
liche Arbeiterzahl, die Bemannung der Flotte und der für die Koloniengründung
nötige Auswandrerstrom beschafft werden konnte, und weil die Erzeugnisse der eng¬
lischen Industrie keine Abnehmer finden würden, wenn sie nicht mit Lebensmitteln
bezahlt werden könnten. Will man aber diese Umwälzung für einen Fortschritt er¬
klären und daraus folgern, daß alle Nationen, zunächst Deutschland und Frank¬
reich, denselben Fortschritt machen müßten, so liegt es auf der Hand, daß dieser
Fortschritt unausführbar ist. Denn Voraussetzung eines Industriestaats sind Agrcir-
staaten, die ihm seine Jndustrieerzeugnisse abnehmen und mit Nahrungsmitteln und
Rohstoffen bezahlen; in dem Maße aber, als sich die bisherigen Agrarstaaten selbst
auf Industrie verlegen, wird nicht allein die Entstehung neuer reiner Industrie¬
staaten unmöglich, sondern auch der Fortbestand der auf Handel und Industrie ge¬
gründeten englischen Weltmacht in Frage gestellt. Demnach ist von der heutigen
allgemeinen Überspannung der industriellen Thätigkeit eher eine schreckliche Kata¬
strophe zu befürchten als eine gesunde Fortentwicklung zu hoffen, und es wäre ein
Frevel, sie künstlich und gewaltsam fördern zu wollen.

Nur das erste Kapitel von Ashleys Buch ist den ländlichen Verhältnissen ge¬
widmet. Das zweite behandelt die Kaufmanns- und Handwerkergilden, das dritte
die wirtschaftlichen Theorien und die Gesetzgebung des Mittelalters. Im Litteratur¬
verzeichnis zum zweiten Kapitel ist uns aufgefallen, daß unter den angeführten
deutschen Autoren gerade die drei wichtigsten fehlen: Wilda, Gierke und Karl Hegel;
das dritte enthält eine interessante und eingehende Würdigung der wirtschaftlichen
Grundsätze des Neuen Testaments, der Kirchenväter, der Scholastiker und des kano¬
nischen Rechts und eine gründliche Untersuchung der Berechtigung des Zinses. Im
ersten Kapitel wird natürlich auch der den Grenzbotenlesern bekannte Thorold
Rogers oft angeführt; wir wollen daher bei dieser Gelegenheit mitteilen, daß
soeben bei I. H. W. Dietz in Stuttgart eine gute Übersetzung seiner Lix Lguwriss
ok'VVorlc unä ^VaAss von Max Pannwitz (revidirt von Karl Kautsky) unter dem
Titel: Die Geschichte der englischen Arbeit erschienen ist.


Bon rechter Verdeutschung des Evangeliums, Ein Ausblick an Ende deS Jahr¬
hunderts. Von I^lo, Dr. Georg Schnedermann, a, o, Professor der Theologie an der
Universität Leipzig, Leipzig, A, Dcichert, MttZ

Vor einiger Zeit wurde in einem Artikel der Grenzboten die Besorgnis aus¬
gesprochen, daß aus der übertriebnen Wertschätzung gewisser vielumstrittner Glaubens¬
sätze, die sich in dem Streit um das Apostolikum in streng kirchlichen Kreisen ge¬
zeigt habe, schließlich eine große Verwirrung in dem noch kirchlich gebliebner Volke
entstehen werde. Die Gemeinde müsse „zu einem reinern, tiefern Verständnis, was
wesentlich an unserm Glauben ist, was nicht, zu einer reifern Auffassung von unsrer
Stellung zur Bibel, zu einem geschichtlich klarern Verständnis ihres Inhalts" ge¬
führt werden. Damit aber die kirchlichen Behörden solche Bestrebungen förderten,
müsse diese Forderung von unsrer konservativen, „gläubigen," positiven Geistlichkeit


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[0246] Litteratur Übergangsschicht. Diese Verwandlung ist um so merkwürdiger, da England länger als Deutschland und Frankreich, bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein, ein reiner Agrikulturstaat geblieben war, in dem, nebenbei bemerkt, die Gutsbesitzer den nach Monopolen und Privilegien gierigen Städtern gegenüber, so gut es gehen wollte, die Handelsfreiheit verteidigten (Ashley, S. 104). Aber es ist klar, daß die Ver¬ nichtung des Bauernstandes die Vorbedingung der industriellen und kolonialen Größe Englands gewesen ist, weil nur auf diese Weise tu einer Zeit, wo England noch nicht übervölkert war, die für die gewaltige industrielle Entwicklung erforder¬ liche Arbeiterzahl, die Bemannung der Flotte und der für die Koloniengründung nötige Auswandrerstrom beschafft werden konnte, und weil die Erzeugnisse der eng¬ lischen Industrie keine Abnehmer finden würden, wenn sie nicht mit Lebensmitteln bezahlt werden könnten. Will man aber diese Umwälzung für einen Fortschritt er¬ klären und daraus folgern, daß alle Nationen, zunächst Deutschland und Frank¬ reich, denselben Fortschritt machen müßten, so liegt es auf der Hand, daß dieser Fortschritt unausführbar ist. Denn Voraussetzung eines Industriestaats sind Agrcir- staaten, die ihm seine Jndustrieerzeugnisse abnehmen und mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen bezahlen; in dem Maße aber, als sich die bisherigen Agrarstaaten selbst auf Industrie verlegen, wird nicht allein die Entstehung neuer reiner Industrie¬ staaten unmöglich, sondern auch der Fortbestand der auf Handel und Industrie ge¬ gründeten englischen Weltmacht in Frage gestellt. Demnach ist von der heutigen allgemeinen Überspannung der industriellen Thätigkeit eher eine schreckliche Kata¬ strophe zu befürchten als eine gesunde Fortentwicklung zu hoffen, und es wäre ein Frevel, sie künstlich und gewaltsam fördern zu wollen. Nur das erste Kapitel von Ashleys Buch ist den ländlichen Verhältnissen ge¬ widmet. Das zweite behandelt die Kaufmanns- und Handwerkergilden, das dritte die wirtschaftlichen Theorien und die Gesetzgebung des Mittelalters. Im Litteratur¬ verzeichnis zum zweiten Kapitel ist uns aufgefallen, daß unter den angeführten deutschen Autoren gerade die drei wichtigsten fehlen: Wilda, Gierke und Karl Hegel; das dritte enthält eine interessante und eingehende Würdigung der wirtschaftlichen Grundsätze des Neuen Testaments, der Kirchenväter, der Scholastiker und des kano¬ nischen Rechts und eine gründliche Untersuchung der Berechtigung des Zinses. Im ersten Kapitel wird natürlich auch der den Grenzbotenlesern bekannte Thorold Rogers oft angeführt; wir wollen daher bei dieser Gelegenheit mitteilen, daß soeben bei I. H. W. Dietz in Stuttgart eine gute Übersetzung seiner Lix Lguwriss ok'VVorlc unä ^VaAss von Max Pannwitz (revidirt von Karl Kautsky) unter dem Titel: Die Geschichte der englischen Arbeit erschienen ist. Bon rechter Verdeutschung des Evangeliums, Ein Ausblick an Ende deS Jahr¬ hunderts. Von I^lo, Dr. Georg Schnedermann, a, o, Professor der Theologie an der Universität Leipzig, Leipzig, A, Dcichert, MttZ Vor einiger Zeit wurde in einem Artikel der Grenzboten die Besorgnis aus¬ gesprochen, daß aus der übertriebnen Wertschätzung gewisser vielumstrittner Glaubens¬ sätze, die sich in dem Streit um das Apostolikum in streng kirchlichen Kreisen ge¬ zeigt habe, schließlich eine große Verwirrung in dem noch kirchlich gebliebner Volke entstehen werde. Die Gemeinde müsse „zu einem reinern, tiefern Verständnis, was wesentlich an unserm Glauben ist, was nicht, zu einer reifern Auffassung von unsrer Stellung zur Bibel, zu einem geschichtlich klarern Verständnis ihres Inhalts" ge¬ führt werden. Damit aber die kirchlichen Behörden solche Bestrebungen förderten, müsse diese Forderung von unsrer konservativen, „gläubigen," positiven Geistlichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/246>, abgerufen am 25.11.2024.