Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Welterklärungsversuche dieser Welt des abnormen Daseins das Göttliche zur Geltung zu bringen, Es ist Spir so gegangen, wie vielen andern bedeutenden Philosophen: Welterklärungsversuche dieser Welt des abnormen Daseins das Göttliche zur Geltung zu bringen, Es ist Spir so gegangen, wie vielen andern bedeutenden Philosophen: <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223163"/> <fw type="header" place="top"> Welterklärungsversuche</fw><lb/> <p xml:id="ID_660" prev="#ID_659"> dieser Welt des abnormen Daseins das Göttliche zur Geltung zu bringen,<lb/> und daß die Menschen selbst zwar vergänglich sind, aber ihr Dasein und Wirken<lb/> dennoch unvergängliche Folgen haben wird, auch wenn der ganze Erdball einst<lb/> in Stücke gehen sollte." Auf keinen Fall habe der Mensch einem außer ihm<lb/> liegenden Zweck, als Werkzeug einer höhern Macht, zu dienen, daher habe er<lb/> auch von keiner solchen Macht Leitung und Unterstützung zu erwarten, sondern<lb/> er sei ganz auf sich selbst angewiesen. Der Wunsch, sein bedeutungsloses Ich<lb/> in alle Ewigkeit zu erhalten, sei ein ganz unverständiger Egoismus; die wahre<lb/> Unsterblichkeit bestehe darin, daß alle Menschen, die für das Göttliche gewonnen<lb/> würden, eine unvergängliche Einheit ausmachten. Das Göttliche gehe nicht<lb/> unter, was in der Welt dem Ideal gewonnen sei, bleibe als unvergänglicher<lb/> Gewinn. Spir hofft trotz des bisher dieser Hoffnung nicht besonders günstigen<lb/> Verlaufs der Geschichte auf eine sittliche Erneuerung der Menschheit; sollte<lb/> die freilich nicht möglich sein, „dann, meint er III, 284, braucht die Mensch¬<lb/> heit gar nicht weiter fortzuvegetiren, ihr Dasein hat dann weder einen Zweck<lb/> noch einen Wert."</p><lb/> <p xml:id="ID_661" next="#ID_662"> Es ist Spir so gegangen, wie vielen andern bedeutenden Philosophen:<lb/> durch radikale Anwendung seines Scharfsinns ist er ins Absurde geraten. Den<lb/> Sinn des Kritizismus, den er bis auf seine allerletzten Folgerungen durch¬<lb/> geführt hat, verkennt er. Indem die Naturphilosophie die Entdeckung machte,<lb/> daß die Eigenschaften der Körper nichts andres sind als unsre eignen Sinnes¬<lb/> wahrnehmungen, wurde sie genötigt, kleinste Teile der Körperwelt anzunehmen^<lb/> die durch ihre Bewegungen, Gruppirungen und Umgruppirungen unsre Sinnes¬<lb/> wahrnehmungen hervorbringen oder, wenn wir die Seele für das eigentlich<lb/> hervorbringende ansehen, dieser zur Hervorbringung den Anstoß geben. Diese<lb/> atomistische Hypothese nun hat die moderne Naturwissenschaft, zunächst die<lb/> Chemie, dann die mechanische Wärmelehre, die Optik und die Elektrotechnik<lb/> möglich gemacht. Das ist die eine Wirkung jener Kritik des menschlichen Er¬<lb/> kenntnisvermögens, die Locke und Hume eingeleitet, Kant, Herbart, Schopen¬<lb/> hauer und Spir vollendet haben. Das heißt, Spirs Leistung besteht nur<lb/> darin, daß er die äußersten theoretischen Folgerungen gezogen hat, nachdem<lb/> der praktische Zweck des Kritizismus, die Begründung der modernen Chemie<lb/> und Physik durch Lavoisier, Dalton, Berzelius, Robert Mayer, Helmholtz,<lb/> Dubois-Reymond längst erfüllt war. Die zweite Wirkung des Kritizismus<lb/> besteht darin, daß die verständigen unter den Philosophen die Unbegreiflichkeit<lb/> der Welt klar erkennen und sich mit ihren Erklärungsversuchen auf die Ab¬<lb/> leitung der Erscheinungen von einander beschränken, an die Ergründung des<lb/> Geheimnisses des Daseins aber ihre Kräfte nicht mehr verschwenden; wenn die<lb/> Menschheit in Zukunft nicht mehr die Narrheit begeht, sich zur Verteidigung<lb/> oder Verbreitung solcher Erklärungsversuche in Kriege zu stürzen, so hat sie<lb/> das zu einem guten Teil dem Kritizismus zu danken. Wenn nun Spir den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0221]
Welterklärungsversuche
dieser Welt des abnormen Daseins das Göttliche zur Geltung zu bringen,
und daß die Menschen selbst zwar vergänglich sind, aber ihr Dasein und Wirken
dennoch unvergängliche Folgen haben wird, auch wenn der ganze Erdball einst
in Stücke gehen sollte." Auf keinen Fall habe der Mensch einem außer ihm
liegenden Zweck, als Werkzeug einer höhern Macht, zu dienen, daher habe er
auch von keiner solchen Macht Leitung und Unterstützung zu erwarten, sondern
er sei ganz auf sich selbst angewiesen. Der Wunsch, sein bedeutungsloses Ich
in alle Ewigkeit zu erhalten, sei ein ganz unverständiger Egoismus; die wahre
Unsterblichkeit bestehe darin, daß alle Menschen, die für das Göttliche gewonnen
würden, eine unvergängliche Einheit ausmachten. Das Göttliche gehe nicht
unter, was in der Welt dem Ideal gewonnen sei, bleibe als unvergänglicher
Gewinn. Spir hofft trotz des bisher dieser Hoffnung nicht besonders günstigen
Verlaufs der Geschichte auf eine sittliche Erneuerung der Menschheit; sollte
die freilich nicht möglich sein, „dann, meint er III, 284, braucht die Mensch¬
heit gar nicht weiter fortzuvegetiren, ihr Dasein hat dann weder einen Zweck
noch einen Wert."
Es ist Spir so gegangen, wie vielen andern bedeutenden Philosophen:
durch radikale Anwendung seines Scharfsinns ist er ins Absurde geraten. Den
Sinn des Kritizismus, den er bis auf seine allerletzten Folgerungen durch¬
geführt hat, verkennt er. Indem die Naturphilosophie die Entdeckung machte,
daß die Eigenschaften der Körper nichts andres sind als unsre eignen Sinnes¬
wahrnehmungen, wurde sie genötigt, kleinste Teile der Körperwelt anzunehmen^
die durch ihre Bewegungen, Gruppirungen und Umgruppirungen unsre Sinnes¬
wahrnehmungen hervorbringen oder, wenn wir die Seele für das eigentlich
hervorbringende ansehen, dieser zur Hervorbringung den Anstoß geben. Diese
atomistische Hypothese nun hat die moderne Naturwissenschaft, zunächst die
Chemie, dann die mechanische Wärmelehre, die Optik und die Elektrotechnik
möglich gemacht. Das ist die eine Wirkung jener Kritik des menschlichen Er¬
kenntnisvermögens, die Locke und Hume eingeleitet, Kant, Herbart, Schopen¬
hauer und Spir vollendet haben. Das heißt, Spirs Leistung besteht nur
darin, daß er die äußersten theoretischen Folgerungen gezogen hat, nachdem
der praktische Zweck des Kritizismus, die Begründung der modernen Chemie
und Physik durch Lavoisier, Dalton, Berzelius, Robert Mayer, Helmholtz,
Dubois-Reymond längst erfüllt war. Die zweite Wirkung des Kritizismus
besteht darin, daß die verständigen unter den Philosophen die Unbegreiflichkeit
der Welt klar erkennen und sich mit ihren Erklärungsversuchen auf die Ab¬
leitung der Erscheinungen von einander beschränken, an die Ergründung des
Geheimnisses des Daseins aber ihre Kräfte nicht mehr verschwenden; wenn die
Menschheit in Zukunft nicht mehr die Narrheit begeht, sich zur Verteidigung
oder Verbreitung solcher Erklärungsversuche in Kriege zu stürzen, so hat sie
das zu einem guten Teil dem Kritizismus zu danken. Wenn nun Spir den
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