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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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WelterklLrimgsversuche

Mit dem Vorstehenden ist schon der Kern von Spirs Sittenlehre gegeben.
Da das Ziel des menschlichen Strebens die Aufhebung der Individualität ist,
so ist also diese das Gruudböse und der Egoismus die eigentliche Sünde.
Das wäre um an sich nichts andres, als der durch die Positivisten und
verwandte Sekten in Mode gebrachte Altruismus, aber in der Begründung
und Ausführung, die viel Wahres und Beherzigenswertes enthält, ist Spir
originell. Auf eine vollständige Darstellung müssen wir verzichten; wir be¬
schränken uns auf die Bemerkung, daß er die Ansichten Epikurs und der Stoa,
der Utilitarier und Kants zu versöhnen sucht. Ohne Zweifel bestehe die Sitt¬
lichkeit in der Behauptung der höhern Natur des Menschen gegen die niedern
Begierden, andrerseits aber sei ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust gar keine
Sittlichkeit denkbar. "Moralität und Jmmoralität, Recht und Unrecht haben
keinen Sinn ohne Lust und Unlust der fühlenden Wesen. Wenn man sich
hypothetisch eine Gemeinde selbstbewußter Wesen denkt, die keiner Lust und
Unlust fähig, also reine Intelligenzen wären, so wird sofort klar, daß es in
den Verhältnissen dieser Wesen keine Frage nach Moralität, Recht und Un¬
recht geben könnte, aus dem einfachen Grunde, weil für solche Wesen alle
Handlungen vollkommen gleichgiltig sein würden. Eine gute Handlung, durch
die kein fühlendes Wesen etwas gewinnen, keinem weder ein Leid vermindert,
noch eine positive Befriedigung verschafft werden soll, ist ein offenbarer Wider¬
spruch. Und ein Unrecht, durch das kein fühlendes Wesen beeinträchtigt, keinem
ein Leid angethan oder eine berechtigte Befriedigung entzogen wird, kurz über
das sich niemand zu beklagen hat, ist ebenfalls ein offenbarer Widerspruch.
Will man diese Ansicht Militarismus nennen, so muß man gestehen, daß in
diesem Punkte Militarismus und gesunder Menschenverstand von einander gar
nicht zu unterscheiden sind. Denn Gesetze aufzustellen, deren Befolgung nie¬
mandem nützen und deren Übertretung niemandem schaden kann, wäre das
müssigste aller Geschäfte. Auf die Dignität moralischer Gesetze würden sie
vollends keinen Anspruch machen dürfen" (III, 7). Vortrefflich sind die Ab¬
schnitte über das Gewissen, über die Freiheit und die Verantwortlichkeit
und über die Strafe. Auch die Rechtsphilosophie müssen wir für sehr be¬
achtenswert erklären, obgleich wir in einem wesentlichen Punkte nicht mit
Spir übereinstimmen. Recht und Gerechtigkeit identifizirend, läßt er die Ge¬
rechtigkeit in der Selbstsucht wurzeln und außerhalb der Sittlichkeit stehen.
Wir unterscheiden das Recht, das mit der Gerechtigkeit meistens nicht viel zu
schaffen hat, von der Gerechtigkeit und zählen diese zu den sittlichen Ideen.

Die Frage nach dem Sinn und Endzweck des Daseins beantwortet Spir
(IV, 197) mit den Worten: "Wirklichen Sinn und Wert kann das gegen¬
wärtige Leben weder bei dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit noch
bei der naturalistischen Ansicht, daß der Mensch ein bloßes Naturprodukt sei,
haben, sondern bloß durch die Einsicht, daß der Mensch dazu bestimmt ist, in


WelterklLrimgsversuche

Mit dem Vorstehenden ist schon der Kern von Spirs Sittenlehre gegeben.
Da das Ziel des menschlichen Strebens die Aufhebung der Individualität ist,
so ist also diese das Gruudböse und der Egoismus die eigentliche Sünde.
Das wäre um an sich nichts andres, als der durch die Positivisten und
verwandte Sekten in Mode gebrachte Altruismus, aber in der Begründung
und Ausführung, die viel Wahres und Beherzigenswertes enthält, ist Spir
originell. Auf eine vollständige Darstellung müssen wir verzichten; wir be¬
schränken uns auf die Bemerkung, daß er die Ansichten Epikurs und der Stoa,
der Utilitarier und Kants zu versöhnen sucht. Ohne Zweifel bestehe die Sitt¬
lichkeit in der Behauptung der höhern Natur des Menschen gegen die niedern
Begierden, andrerseits aber sei ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust gar keine
Sittlichkeit denkbar. „Moralität und Jmmoralität, Recht und Unrecht haben
keinen Sinn ohne Lust und Unlust der fühlenden Wesen. Wenn man sich
hypothetisch eine Gemeinde selbstbewußter Wesen denkt, die keiner Lust und
Unlust fähig, also reine Intelligenzen wären, so wird sofort klar, daß es in
den Verhältnissen dieser Wesen keine Frage nach Moralität, Recht und Un¬
recht geben könnte, aus dem einfachen Grunde, weil für solche Wesen alle
Handlungen vollkommen gleichgiltig sein würden. Eine gute Handlung, durch
die kein fühlendes Wesen etwas gewinnen, keinem weder ein Leid vermindert,
noch eine positive Befriedigung verschafft werden soll, ist ein offenbarer Wider¬
spruch. Und ein Unrecht, durch das kein fühlendes Wesen beeinträchtigt, keinem
ein Leid angethan oder eine berechtigte Befriedigung entzogen wird, kurz über
das sich niemand zu beklagen hat, ist ebenfalls ein offenbarer Widerspruch.
Will man diese Ansicht Militarismus nennen, so muß man gestehen, daß in
diesem Punkte Militarismus und gesunder Menschenverstand von einander gar
nicht zu unterscheiden sind. Denn Gesetze aufzustellen, deren Befolgung nie¬
mandem nützen und deren Übertretung niemandem schaden kann, wäre das
müssigste aller Geschäfte. Auf die Dignität moralischer Gesetze würden sie
vollends keinen Anspruch machen dürfen" (III, 7). Vortrefflich sind die Ab¬
schnitte über das Gewissen, über die Freiheit und die Verantwortlichkeit
und über die Strafe. Auch die Rechtsphilosophie müssen wir für sehr be¬
achtenswert erklären, obgleich wir in einem wesentlichen Punkte nicht mit
Spir übereinstimmen. Recht und Gerechtigkeit identifizirend, läßt er die Ge¬
rechtigkeit in der Selbstsucht wurzeln und außerhalb der Sittlichkeit stehen.
Wir unterscheiden das Recht, das mit der Gerechtigkeit meistens nicht viel zu
schaffen hat, von der Gerechtigkeit und zählen diese zu den sittlichen Ideen.

Die Frage nach dem Sinn und Endzweck des Daseins beantwortet Spir
(IV, 197) mit den Worten: „Wirklichen Sinn und Wert kann das gegen¬
wärtige Leben weder bei dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit noch
bei der naturalistischen Ansicht, daß der Mensch ein bloßes Naturprodukt sei,
haben, sondern bloß durch die Einsicht, daß der Mensch dazu bestimmt ist, in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/220>, abgerufen am 25.11.2024.