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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Lrnst Curtius

gabuugen für die Erörterung politischer Dinge. Aber zweifellos ist, daß, wer,
wie Grote und Duncker, über einen fünffachen Raum verfügt, wer ausführlich
die Berichte der Alten ausschreiben und dann die eignen Bemerkungen anschließen
kann, daß der einen gewaltigen Vorsprung hat vor dem, der, wie Curtius.
alles das konzentriren muß. Im ersten Falle ergiebt schon die Umständlichkeit
der Erzählung einen äußerlichen Ersatz für die verlangte gründliche Einsicht,
für das "politische" Urteil; im zweiten wird die notwendige Kürze öfter, als
es in Wirklichkeit der Fall ist, zu einer dem Anschein nach unrichtigen
Formulirung führen. Damit soll nicht bestritten werden, daß Grote und Duncker,
die bekanntlich Politiker waren, auch mehr Verständnis sür die politischen
Grundlagen einer Geschichtschreibung hatten, als Curtius. War denn nun
aber mit diesem Standpunkte für die griechische Geschichte viel auszurichten?
Es ist doch viel Selbsttäuschung dabei, wenn jetzt die jünger" Forscher durch die
ganz entstellte, lückenhafte, späte Überlieferung hindurch so klar auf den Grund
der "alten Geschichte" hinabzusehen meinen, daß sie sogar die wirtschaftlichen
Verhältnisse des antiken Lebens mit der Sicherheit eines modernen National-
ökonomen ergründen wollen. Solche Darstellungen machen manchmal den
Eindruck größter Anschaulichkeit und -- Sicherheit. Und dabei sind die Einzelnen
nicht einmal über den Sinn der wichtigsten Maßregeln Solons unter einander
einig oder darüber, was denn z. V. eigentlich Plinius mit den Worten: licki-
tuiMg, U-z-Jenen, xgMävrc! habe sagen wollen. Also das "Neue" ist hier viel¬
fach sicher nicht das Richtige, und es ist im Grunde dasselbe Konstruireu, das
man an Curtius in der attischen Topographie tadelte, und das er hier in der
politischen Geschichtschreibung nicht mitmachen wollte oder -- konnte, werden
die andern sagen. Bei ihm ging doch dieses Verhalten zuletzt auf die sehr ver¬
stündige Anschauung zurück, daß das Wichtigste und sür uns Anziehendste an
dem Hellenenvolke nicht diese zahlreichen kleinen Kriege und politischen Kämpfe
sind, wonach Griechenland am Ende kaum ein größeres Interesse beanspruchen
könnte, als die Schweizer Kantone zur Zeit Zwinglis oder der Sonderbund¬
kämpfe, oder höchstens als die italienischen Stadtrepublikeu im spätern Mittel¬
alter. Die weltgeschichtliche Bedeutung Griechenlands liegt eben in dem ganzen
geistigen Ertrag seines einstigen Lebens, in der hohen, durch Wort und Bild
verbreiteten Kultur, und diese steht darum bei Curtius gebührend im Vorder¬
grunde der Darstellung. Dem entspricht der ruhige Fluß der Betrachtung,
die manchem Beurteilern farblos erschien, und die daraus sich ergebende Sprache.
Diese pulsirt nicht so stark wie in Mommsens Schilderungen, sie ist mehr
anschauend und betrachtend, der Sache angemessen und in ihrer Wirkung auf
den Leser angenehm und edel. Diese Gabe des Ausdrucks, für die seine Fest¬
reden und Gelegenheitsschriften berühmt waren, hat sich Curtius bis in sein
hohes Alter bewahrt. Noch eine seiner letzten Reden zu Kaisers Geburtstag:
Architektur und Plastik (1892), ist ein Muster von seiner klaren, treffenden,


Grenzboten III 1396 2!Z
Lrnst Curtius

gabuugen für die Erörterung politischer Dinge. Aber zweifellos ist, daß, wer,
wie Grote und Duncker, über einen fünffachen Raum verfügt, wer ausführlich
die Berichte der Alten ausschreiben und dann die eignen Bemerkungen anschließen
kann, daß der einen gewaltigen Vorsprung hat vor dem, der, wie Curtius.
alles das konzentriren muß. Im ersten Falle ergiebt schon die Umständlichkeit
der Erzählung einen äußerlichen Ersatz für die verlangte gründliche Einsicht,
für das „politische" Urteil; im zweiten wird die notwendige Kürze öfter, als
es in Wirklichkeit der Fall ist, zu einer dem Anschein nach unrichtigen
Formulirung führen. Damit soll nicht bestritten werden, daß Grote und Duncker,
die bekanntlich Politiker waren, auch mehr Verständnis sür die politischen
Grundlagen einer Geschichtschreibung hatten, als Curtius. War denn nun
aber mit diesem Standpunkte für die griechische Geschichte viel auszurichten?
Es ist doch viel Selbsttäuschung dabei, wenn jetzt die jünger» Forscher durch die
ganz entstellte, lückenhafte, späte Überlieferung hindurch so klar auf den Grund
der „alten Geschichte" hinabzusehen meinen, daß sie sogar die wirtschaftlichen
Verhältnisse des antiken Lebens mit der Sicherheit eines modernen National-
ökonomen ergründen wollen. Solche Darstellungen machen manchmal den
Eindruck größter Anschaulichkeit und — Sicherheit. Und dabei sind die Einzelnen
nicht einmal über den Sinn der wichtigsten Maßregeln Solons unter einander
einig oder darüber, was denn z. V. eigentlich Plinius mit den Worten: licki-
tuiMg, U-z-Jenen, xgMävrc! habe sagen wollen. Also das „Neue" ist hier viel¬
fach sicher nicht das Richtige, und es ist im Grunde dasselbe Konstruireu, das
man an Curtius in der attischen Topographie tadelte, und das er hier in der
politischen Geschichtschreibung nicht mitmachen wollte oder — konnte, werden
die andern sagen. Bei ihm ging doch dieses Verhalten zuletzt auf die sehr ver¬
stündige Anschauung zurück, daß das Wichtigste und sür uns Anziehendste an
dem Hellenenvolke nicht diese zahlreichen kleinen Kriege und politischen Kämpfe
sind, wonach Griechenland am Ende kaum ein größeres Interesse beanspruchen
könnte, als die Schweizer Kantone zur Zeit Zwinglis oder der Sonderbund¬
kämpfe, oder höchstens als die italienischen Stadtrepublikeu im spätern Mittel¬
alter. Die weltgeschichtliche Bedeutung Griechenlands liegt eben in dem ganzen
geistigen Ertrag seines einstigen Lebens, in der hohen, durch Wort und Bild
verbreiteten Kultur, und diese steht darum bei Curtius gebührend im Vorder¬
grunde der Darstellung. Dem entspricht der ruhige Fluß der Betrachtung,
die manchem Beurteilern farblos erschien, und die daraus sich ergebende Sprache.
Diese pulsirt nicht so stark wie in Mommsens Schilderungen, sie ist mehr
anschauend und betrachtend, der Sache angemessen und in ihrer Wirkung auf
den Leser angenehm und edel. Diese Gabe des Ausdrucks, für die seine Fest¬
reden und Gelegenheitsschriften berühmt waren, hat sich Curtius bis in sein
hohes Alter bewahrt. Noch eine seiner letzten Reden zu Kaisers Geburtstag:
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/185>, abgerufen am 01.09.2024.