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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelisch-joziale Kongreß

in die Hand zu nehmen. Solche Äußerungen waren zwar unter den Evan¬
gelisch-Sozialen im vertraulichen Kreise in der letzten Zeit nichts seltenes mehr,
in der Öffentlichkeit aber hat man dergleichen zum erstenmal auf dem dies¬
jährigen Kongreß gehört. Es ist ja eine Eigentümlichkeit Göhres, daß er
deutlich zu sein liebt und Dinge sagt, die andre Leute nur denken. Wenn
aber der Kaiser und der Oberkirchenrat auf ihrem Huos sgo! beharren, so ist
in der That nicht abzusehen, wohin das ^011 xossuinus der Pastoren auf die
Dauer anders führen soll, als zu der ernsthaften Erwägung der Frage, ob für
sie überhaupt noch eine Möglichkeit vorliegt, im Amte zu bleiben. Das Wort
des Kaisers und der Erlaß des Oberkirchenrath besagen genau dasselbe, das
eine im Telegramm-, der andre im Kanzleistil; man kann daher kaum an¬
nehmen, daß sich der Kongreß von der beschlossenen Eingabe an den Ober¬
kirchenrat im Ernste etwas verspricht. Wir glauben, daß sich die ganze An¬
gelegenheit einem Punkte nähert, wo sür die Pfarrer das einfache "Ent¬
weder--oder" nicht zu umgehen sein wird.

Von den Teilnehmern des Kongresses ist niemand in so leidenschaftlicher
Weise begrüßt, ist niemand so brausender Beifall gezollt worden, wie Nau-
mann, obwohl er sich sehr zurückhielt und nur einmal zu dem Delbrückschen
Vortrag über Arbeitslosigkeit und Recht ans Arbeit das Wort nahm. Dafür
hielt er eine Ansprache auf dem Familienabend in der Liederhalle. Zu Grunde
lag seiner Rede das Wort: "Was nicht zur That wird, das hat keinen Wert,"
und dies war mit einer so schneidenden Deutlichkeit auf die vielstündigen Be¬
richte und Verhandlungen des Kongresses gemünzt, daß der nachdenkliche Beob¬
achter ergriffen sein mußte von der Klarheit, mit der dieser körperlich und geistig
das Mittel so weit überragende Mann die einzige Frage erfaßte, auf die es
hier ankommt: Werden die Tausende, die sich jetzt in dem Hochgefühl gemein¬
samen Wollens und geschlossenen Beisammenseins voll evangelisch-sozialer Kraft
dünken, auch nur einen Teil davon behalten, wenn jeder wieder für sich allein
in Feindesland auf dem Platze steht, den ihm sein Beruf anweist?

Während aber über alles, was sich auf die Frage nach dem Recht der
Geistlichen zu sozialpolitischer Wirksamkeit bezog, laut tönende Übereinstimmung
herrschte, so änderte sich das Bild in gewissem Sinne, als am Nachmittag
des ersten und am zweiten Tage zwei Gegenstünde praktischer Art behandelt
wurden. Zunächst sprach Professor Nathgen über die soziale Bedeutung des
Handels. Der Titel klingt zwar etwas theoretisch, doch liefen Vortrag und
Verhandlung auf die sehr praktische Frage hinaus, wie vom sozialen Stand¬
punkte aus die gegenwärtig vor sich gehende Entsittlichung und Zerreibung des
Kaufmannsstandes zu beurteilen sei, soweit sich dieser mit dem Vertrieb von
Erzeugnissen der Großproduktion an die Verbraucher der Ware befaßt. Der
Gegenstand war um so wichtiger, als sich der Kongreß damit auf ein bisher
von ihm wenig betretnes Gebiet begab: auf das der sogenannten Mittelstands-


Der Lvangelisch-joziale Kongreß

in die Hand zu nehmen. Solche Äußerungen waren zwar unter den Evan¬
gelisch-Sozialen im vertraulichen Kreise in der letzten Zeit nichts seltenes mehr,
in der Öffentlichkeit aber hat man dergleichen zum erstenmal auf dem dies¬
jährigen Kongreß gehört. Es ist ja eine Eigentümlichkeit Göhres, daß er
deutlich zu sein liebt und Dinge sagt, die andre Leute nur denken. Wenn
aber der Kaiser und der Oberkirchenrat auf ihrem Huos sgo! beharren, so ist
in der That nicht abzusehen, wohin das ^011 xossuinus der Pastoren auf die
Dauer anders führen soll, als zu der ernsthaften Erwägung der Frage, ob für
sie überhaupt noch eine Möglichkeit vorliegt, im Amte zu bleiben. Das Wort
des Kaisers und der Erlaß des Oberkirchenrath besagen genau dasselbe, das
eine im Telegramm-, der andre im Kanzleistil; man kann daher kaum an¬
nehmen, daß sich der Kongreß von der beschlossenen Eingabe an den Ober¬
kirchenrat im Ernste etwas verspricht. Wir glauben, daß sich die ganze An¬
gelegenheit einem Punkte nähert, wo sür die Pfarrer das einfache „Ent¬
weder—oder" nicht zu umgehen sein wird.

Von den Teilnehmern des Kongresses ist niemand in so leidenschaftlicher
Weise begrüßt, ist niemand so brausender Beifall gezollt worden, wie Nau-
mann, obwohl er sich sehr zurückhielt und nur einmal zu dem Delbrückschen
Vortrag über Arbeitslosigkeit und Recht ans Arbeit das Wort nahm. Dafür
hielt er eine Ansprache auf dem Familienabend in der Liederhalle. Zu Grunde
lag seiner Rede das Wort: „Was nicht zur That wird, das hat keinen Wert,"
und dies war mit einer so schneidenden Deutlichkeit auf die vielstündigen Be¬
richte und Verhandlungen des Kongresses gemünzt, daß der nachdenkliche Beob¬
achter ergriffen sein mußte von der Klarheit, mit der dieser körperlich und geistig
das Mittel so weit überragende Mann die einzige Frage erfaßte, auf die es
hier ankommt: Werden die Tausende, die sich jetzt in dem Hochgefühl gemein¬
samen Wollens und geschlossenen Beisammenseins voll evangelisch-sozialer Kraft
dünken, auch nur einen Teil davon behalten, wenn jeder wieder für sich allein
in Feindesland auf dem Platze steht, den ihm sein Beruf anweist?

Während aber über alles, was sich auf die Frage nach dem Recht der
Geistlichen zu sozialpolitischer Wirksamkeit bezog, laut tönende Übereinstimmung
herrschte, so änderte sich das Bild in gewissem Sinne, als am Nachmittag
des ersten und am zweiten Tage zwei Gegenstünde praktischer Art behandelt
wurden. Zunächst sprach Professor Nathgen über die soziale Bedeutung des
Handels. Der Titel klingt zwar etwas theoretisch, doch liefen Vortrag und
Verhandlung auf die sehr praktische Frage hinaus, wie vom sozialen Stand¬
punkte aus die gegenwärtig vor sich gehende Entsittlichung und Zerreibung des
Kaufmannsstandes zu beurteilen sei, soweit sich dieser mit dem Vertrieb von
Erzeugnissen der Großproduktion an die Verbraucher der Ware befaßt. Der
Gegenstand war um so wichtiger, als sich der Kongreß damit auf ein bisher
von ihm wenig betretnes Gebiet begab: auf das der sogenannten Mittelstands-


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[0494] Der Lvangelisch-joziale Kongreß in die Hand zu nehmen. Solche Äußerungen waren zwar unter den Evan¬ gelisch-Sozialen im vertraulichen Kreise in der letzten Zeit nichts seltenes mehr, in der Öffentlichkeit aber hat man dergleichen zum erstenmal auf dem dies¬ jährigen Kongreß gehört. Es ist ja eine Eigentümlichkeit Göhres, daß er deutlich zu sein liebt und Dinge sagt, die andre Leute nur denken. Wenn aber der Kaiser und der Oberkirchenrat auf ihrem Huos sgo! beharren, so ist in der That nicht abzusehen, wohin das ^011 xossuinus der Pastoren auf die Dauer anders führen soll, als zu der ernsthaften Erwägung der Frage, ob für sie überhaupt noch eine Möglichkeit vorliegt, im Amte zu bleiben. Das Wort des Kaisers und der Erlaß des Oberkirchenrath besagen genau dasselbe, das eine im Telegramm-, der andre im Kanzleistil; man kann daher kaum an¬ nehmen, daß sich der Kongreß von der beschlossenen Eingabe an den Ober¬ kirchenrat im Ernste etwas verspricht. Wir glauben, daß sich die ganze An¬ gelegenheit einem Punkte nähert, wo sür die Pfarrer das einfache „Ent¬ weder—oder" nicht zu umgehen sein wird. Von den Teilnehmern des Kongresses ist niemand in so leidenschaftlicher Weise begrüßt, ist niemand so brausender Beifall gezollt worden, wie Nau- mann, obwohl er sich sehr zurückhielt und nur einmal zu dem Delbrückschen Vortrag über Arbeitslosigkeit und Recht ans Arbeit das Wort nahm. Dafür hielt er eine Ansprache auf dem Familienabend in der Liederhalle. Zu Grunde lag seiner Rede das Wort: „Was nicht zur That wird, das hat keinen Wert," und dies war mit einer so schneidenden Deutlichkeit auf die vielstündigen Be¬ richte und Verhandlungen des Kongresses gemünzt, daß der nachdenkliche Beob¬ achter ergriffen sein mußte von der Klarheit, mit der dieser körperlich und geistig das Mittel so weit überragende Mann die einzige Frage erfaßte, auf die es hier ankommt: Werden die Tausende, die sich jetzt in dem Hochgefühl gemein¬ samen Wollens und geschlossenen Beisammenseins voll evangelisch-sozialer Kraft dünken, auch nur einen Teil davon behalten, wenn jeder wieder für sich allein in Feindesland auf dem Platze steht, den ihm sein Beruf anweist? Während aber über alles, was sich auf die Frage nach dem Recht der Geistlichen zu sozialpolitischer Wirksamkeit bezog, laut tönende Übereinstimmung herrschte, so änderte sich das Bild in gewissem Sinne, als am Nachmittag des ersten und am zweiten Tage zwei Gegenstünde praktischer Art behandelt wurden. Zunächst sprach Professor Nathgen über die soziale Bedeutung des Handels. Der Titel klingt zwar etwas theoretisch, doch liefen Vortrag und Verhandlung auf die sehr praktische Frage hinaus, wie vom sozialen Stand¬ punkte aus die gegenwärtig vor sich gehende Entsittlichung und Zerreibung des Kaufmannsstandes zu beurteilen sei, soweit sich dieser mit dem Vertrieb von Erzeugnissen der Großproduktion an die Verbraucher der Ware befaßt. Der Gegenstand war um so wichtiger, als sich der Kongreß damit auf ein bisher von ihm wenig betretnes Gebiet begab: auf das der sogenannten Mittelstands-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/494>, abgerufen am 22.07.2024.