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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Evangelisch-soziale Kongreß

Sinn," brach die ganze Versammlung, von der plötzlichen Kontrastwirknng über¬
wältigt, in ein schallendes Gelächter aus. Hinterher aber ist es manchem
seltsam zu Mute geworden, als man sich fragte, worüber denn eigentlich diese
tausend ernsthaften Männer in so unwiderstehliche Heiterkeit gerieten.

Das Gegenstück zu der ernsten Entschlossenheit der beiden Referate Soden s
und des Eßlinger Stadtpfarrers Planck über die soziale Wirksamkeit des im
Amte stehenden Geistlichen, ihr Recht und ihre Grenzen, war das leidenschaft¬
lich herausgeschleuderte Wort Wagners, er wolle lieber mit Vebel als mit
Stumm auf einem Blatt Papier zusammen stehen. Der Hieb wurde mit
donnerndem Beifall begrüßt. Es wäre aber ganz falsch, anzunehmen, daß
man sich etwa in bloßem Lärmen gefallen hätte; nein, der Grundton der viel-
stündigen Verhandlung war das Bewußtsein, aus ernster Lage heraus Ver¬
hältnissen entgegenzugehen, die keinerlei Anlaß zum Optimismus bieten. Leb¬
hafte Befriedigung rief es hervor, daß Sohm sich entschlossen hatte, zum
Kongreß zu kommen. Man empfand das allgemein gerade in der jetzigen Lage
als einen großen Erfolg. Trotzdem fand Sohm keinen Beifall mit seinem Be¬
streben, Recht und Pflicht sozialpolitischer Bethätigung zwar für die Pastoren
festzuhalten, aber nur für sie als Staatsbürger und nationale Männer, nicht
kraft ihres Amtes. Gerade das letztere war die überwiegende Meinung des
Kongresses, vor allem der Pastoren selbst.

Was das Äußere betrifft, so ist der diesmalige Kongreß stärker besucht
gewesen als alle vorhergehenden. Der Südwesten trat natürlich stark hervor,
doch ist das bei der Entfernung Stuttgarts von der Mitte des Reichs begreiflich.
Von den Vortrügen fielen zwei auf Berlin (v. Soden und Delbrück), einer auf
Württemberg (Picul) und einer auf Marburg (Rathgen). Auch die Kräfte,
die in der Verhandlung zu Worte kamen, zeigten, daß mit Ausnahme des rein
agrarkonservativen Ostens die Bewegung sich über das ganze evangelische
Deutschland ausgebreitet hat.

Ein sehr kühner Vorschlag wurde in der Verhandlung des ersten Tages
über die sozialpolitischen Rechte und Pflichten der Geistlichen gemacht, ein Vor¬
schlag, dessen Bedeutung der großen Mehrzahl der Anwesenden in der Erregung
und Ermüdung der letzten Augenblicke offenbar gar nicht recht zum Bewußt¬
sein gekommen ist. Der preußische Oberkirchenrat war schon in dem Sodenschen
Vortrage mit Nichtachtung und Bitterkeit behandelt worden; nun trat zum
Schluß Göhre auf, verurteilte die Form des bekannten Dezembererlasfes gleich¬
falls in den abfälligsten Ausdrücken und brauchte dann plötzlich die Wendung, er
billige das Schreiben inhaltlich vollkommen, insofern es den Pfarrern die politische
Agitation untersage; daher - denn eine Partei müsse der evangelische Sozia-
lismus unter allen Umständen werden -- rufe er seine Amtsbruder auf, den Talar
auszuziehen, wenn sich keine Laien dazu fanden, auf das landeskirchliche Pfarr¬
amt also zu verzichten und selbst das Werk der sozialpolitischen Parteigründung


Der Evangelisch-soziale Kongreß

Sinn," brach die ganze Versammlung, von der plötzlichen Kontrastwirknng über¬
wältigt, in ein schallendes Gelächter aus. Hinterher aber ist es manchem
seltsam zu Mute geworden, als man sich fragte, worüber denn eigentlich diese
tausend ernsthaften Männer in so unwiderstehliche Heiterkeit gerieten.

Das Gegenstück zu der ernsten Entschlossenheit der beiden Referate Soden s
und des Eßlinger Stadtpfarrers Planck über die soziale Wirksamkeit des im
Amte stehenden Geistlichen, ihr Recht und ihre Grenzen, war das leidenschaft¬
lich herausgeschleuderte Wort Wagners, er wolle lieber mit Vebel als mit
Stumm auf einem Blatt Papier zusammen stehen. Der Hieb wurde mit
donnerndem Beifall begrüßt. Es wäre aber ganz falsch, anzunehmen, daß
man sich etwa in bloßem Lärmen gefallen hätte; nein, der Grundton der viel-
stündigen Verhandlung war das Bewußtsein, aus ernster Lage heraus Ver¬
hältnissen entgegenzugehen, die keinerlei Anlaß zum Optimismus bieten. Leb¬
hafte Befriedigung rief es hervor, daß Sohm sich entschlossen hatte, zum
Kongreß zu kommen. Man empfand das allgemein gerade in der jetzigen Lage
als einen großen Erfolg. Trotzdem fand Sohm keinen Beifall mit seinem Be¬
streben, Recht und Pflicht sozialpolitischer Bethätigung zwar für die Pastoren
festzuhalten, aber nur für sie als Staatsbürger und nationale Männer, nicht
kraft ihres Amtes. Gerade das letztere war die überwiegende Meinung des
Kongresses, vor allem der Pastoren selbst.

Was das Äußere betrifft, so ist der diesmalige Kongreß stärker besucht
gewesen als alle vorhergehenden. Der Südwesten trat natürlich stark hervor,
doch ist das bei der Entfernung Stuttgarts von der Mitte des Reichs begreiflich.
Von den Vortrügen fielen zwei auf Berlin (v. Soden und Delbrück), einer auf
Württemberg (Picul) und einer auf Marburg (Rathgen). Auch die Kräfte,
die in der Verhandlung zu Worte kamen, zeigten, daß mit Ausnahme des rein
agrarkonservativen Ostens die Bewegung sich über das ganze evangelische
Deutschland ausgebreitet hat.

Ein sehr kühner Vorschlag wurde in der Verhandlung des ersten Tages
über die sozialpolitischen Rechte und Pflichten der Geistlichen gemacht, ein Vor¬
schlag, dessen Bedeutung der großen Mehrzahl der Anwesenden in der Erregung
und Ermüdung der letzten Augenblicke offenbar gar nicht recht zum Bewußt¬
sein gekommen ist. Der preußische Oberkirchenrat war schon in dem Sodenschen
Vortrage mit Nichtachtung und Bitterkeit behandelt worden; nun trat zum
Schluß Göhre auf, verurteilte die Form des bekannten Dezembererlasfes gleich¬
falls in den abfälligsten Ausdrücken und brauchte dann plötzlich die Wendung, er
billige das Schreiben inhaltlich vollkommen, insofern es den Pfarrern die politische
Agitation untersage; daher - denn eine Partei müsse der evangelische Sozia-
lismus unter allen Umständen werden — rufe er seine Amtsbruder auf, den Talar
auszuziehen, wenn sich keine Laien dazu fanden, auf das landeskirchliche Pfarr¬
amt also zu verzichten und selbst das Werk der sozialpolitischen Parteigründung


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[0493] Der Evangelisch-soziale Kongreß Sinn," brach die ganze Versammlung, von der plötzlichen Kontrastwirknng über¬ wältigt, in ein schallendes Gelächter aus. Hinterher aber ist es manchem seltsam zu Mute geworden, als man sich fragte, worüber denn eigentlich diese tausend ernsthaften Männer in so unwiderstehliche Heiterkeit gerieten. Das Gegenstück zu der ernsten Entschlossenheit der beiden Referate Soden s und des Eßlinger Stadtpfarrers Planck über die soziale Wirksamkeit des im Amte stehenden Geistlichen, ihr Recht und ihre Grenzen, war das leidenschaft¬ lich herausgeschleuderte Wort Wagners, er wolle lieber mit Vebel als mit Stumm auf einem Blatt Papier zusammen stehen. Der Hieb wurde mit donnerndem Beifall begrüßt. Es wäre aber ganz falsch, anzunehmen, daß man sich etwa in bloßem Lärmen gefallen hätte; nein, der Grundton der viel- stündigen Verhandlung war das Bewußtsein, aus ernster Lage heraus Ver¬ hältnissen entgegenzugehen, die keinerlei Anlaß zum Optimismus bieten. Leb¬ hafte Befriedigung rief es hervor, daß Sohm sich entschlossen hatte, zum Kongreß zu kommen. Man empfand das allgemein gerade in der jetzigen Lage als einen großen Erfolg. Trotzdem fand Sohm keinen Beifall mit seinem Be¬ streben, Recht und Pflicht sozialpolitischer Bethätigung zwar für die Pastoren festzuhalten, aber nur für sie als Staatsbürger und nationale Männer, nicht kraft ihres Amtes. Gerade das letztere war die überwiegende Meinung des Kongresses, vor allem der Pastoren selbst. Was das Äußere betrifft, so ist der diesmalige Kongreß stärker besucht gewesen als alle vorhergehenden. Der Südwesten trat natürlich stark hervor, doch ist das bei der Entfernung Stuttgarts von der Mitte des Reichs begreiflich. Von den Vortrügen fielen zwei auf Berlin (v. Soden und Delbrück), einer auf Württemberg (Picul) und einer auf Marburg (Rathgen). Auch die Kräfte, die in der Verhandlung zu Worte kamen, zeigten, daß mit Ausnahme des rein agrarkonservativen Ostens die Bewegung sich über das ganze evangelische Deutschland ausgebreitet hat. Ein sehr kühner Vorschlag wurde in der Verhandlung des ersten Tages über die sozialpolitischen Rechte und Pflichten der Geistlichen gemacht, ein Vor¬ schlag, dessen Bedeutung der großen Mehrzahl der Anwesenden in der Erregung und Ermüdung der letzten Augenblicke offenbar gar nicht recht zum Bewußt¬ sein gekommen ist. Der preußische Oberkirchenrat war schon in dem Sodenschen Vortrage mit Nichtachtung und Bitterkeit behandelt worden; nun trat zum Schluß Göhre auf, verurteilte die Form des bekannten Dezembererlasfes gleich¬ falls in den abfälligsten Ausdrücken und brauchte dann plötzlich die Wendung, er billige das Schreiben inhaltlich vollkommen, insofern es den Pfarrern die politische Agitation untersage; daher - denn eine Partei müsse der evangelische Sozia- lismus unter allen Umständen werden — rufe er seine Amtsbruder auf, den Talar auszuziehen, wenn sich keine Laien dazu fanden, auf das landeskirchliche Pfarr¬ amt also zu verzichten und selbst das Werk der sozialpolitischen Parteigründung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/493>, abgerufen am 23.06.2024.