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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelisch-soziale Kongreß

frage. Rathgen selbst beantwortete die Frage dahin, daß der Wunsch einer
besondern Klasse, von dem Gewinn der kaufmännischen Vermittlung zwischen
Erzeuger und Verbraucher zu leben, insofern gänzlich unberechtigt sei, als diese
Vermittlung durch das sich entwickelnde Genossenschaftswesen immer überflüssiger
werde, insofern Erzeuger und Verbraucher zu beiderseitigen Vorteil unmittelbar
mit einander in Verbindung treten könnten. Der dadurch entstehende Ausfall
beim Mittelstande würde durch das Anwachsen eines befriedigend gestellten
kaufmännischen Beamtenstandes gedeckt werden. Diese Anschauung fand sehr
viel Widerspruch, aber es hätte der Natur und den Zielen des Kongresses
nicht entsprochen, wenn es zu einer formellen Ablehnung gekommen wäre; sollte
doch grundsätzlich nur ein Meinungsaustausch stattfinden.

Mit besondrer Freude war es zu begrüßen, daß die nationale Posaune
auf dem Kongreß diesmal einen deutlichen Ton hören ließ. Schon Naumann
hatte es klar und unzweideutig ausgesprochen, daß es sich bei evangelisch-sozial
um eine nationale Sache, um ein Werk zur Größe des Vaterlandes handle,
aber am erhebendsten und befreiendsten wirkte in dieser Beziehung der Del-
brücksche Vortrag. Delbrück trat für das Recht auf Arbeit und zum Zweck
seiner praktischen Verwirklichung für eine Reihe von sozialreformischen Ma߬
regeln ein: Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Zwangssparkassen, Arbeits¬
nachweis. Einen wirklich dauernden Notstand wollte er nicht anerkennen, ein
solcher werde immer nur teils durch den "Saisoncharakter" großer Arbeits¬
zweige, teils durch wirtschaftliche Krisen verursacht. Von verschiednen Seite,:
wurde entgegengehalten, daß die Not der Arbeitslosen mit der wachsenden
Übervölkerung Deutschlands zusammenhänge. Auch Adolf Wagner und der
Freiburger Nationalökonom Weber wiesen energisch darauf hin, daß nationale
Machterweiterung die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sei. Delbrück
berief sich darauf, daß es einerseits auf dem Lande ja an Arbeitskräften fehle,
andrerseits in wirtschaftlich günstigen Zeiten alle Arbeitswilligen stets zu thun
fänden. Aber wie ein zündender Schlag fuhr es durch die Versammlung, als
er alle Bedenken wegen Übervölkerung mit dem Glaubensbekenntnis abthat,
für ihn sei das Wort zum deutschen Volke gesagt: "Seid fruchtbar und mehret
euch und füllet die Erde." Brausender Beifall verschlang den Schluß: "Und
machet sie euch Unterthan!" Mit diesem vollen Akkord klang der Kongreß aus.




Der Lvangelisch-soziale Kongreß

frage. Rathgen selbst beantwortete die Frage dahin, daß der Wunsch einer
besondern Klasse, von dem Gewinn der kaufmännischen Vermittlung zwischen
Erzeuger und Verbraucher zu leben, insofern gänzlich unberechtigt sei, als diese
Vermittlung durch das sich entwickelnde Genossenschaftswesen immer überflüssiger
werde, insofern Erzeuger und Verbraucher zu beiderseitigen Vorteil unmittelbar
mit einander in Verbindung treten könnten. Der dadurch entstehende Ausfall
beim Mittelstande würde durch das Anwachsen eines befriedigend gestellten
kaufmännischen Beamtenstandes gedeckt werden. Diese Anschauung fand sehr
viel Widerspruch, aber es hätte der Natur und den Zielen des Kongresses
nicht entsprochen, wenn es zu einer formellen Ablehnung gekommen wäre; sollte
doch grundsätzlich nur ein Meinungsaustausch stattfinden.

Mit besondrer Freude war es zu begrüßen, daß die nationale Posaune
auf dem Kongreß diesmal einen deutlichen Ton hören ließ. Schon Naumann
hatte es klar und unzweideutig ausgesprochen, daß es sich bei evangelisch-sozial
um eine nationale Sache, um ein Werk zur Größe des Vaterlandes handle,
aber am erhebendsten und befreiendsten wirkte in dieser Beziehung der Del-
brücksche Vortrag. Delbrück trat für das Recht auf Arbeit und zum Zweck
seiner praktischen Verwirklichung für eine Reihe von sozialreformischen Ma߬
regeln ein: Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Zwangssparkassen, Arbeits¬
nachweis. Einen wirklich dauernden Notstand wollte er nicht anerkennen, ein
solcher werde immer nur teils durch den „Saisoncharakter" großer Arbeits¬
zweige, teils durch wirtschaftliche Krisen verursacht. Von verschiednen Seite,:
wurde entgegengehalten, daß die Not der Arbeitslosen mit der wachsenden
Übervölkerung Deutschlands zusammenhänge. Auch Adolf Wagner und der
Freiburger Nationalökonom Weber wiesen energisch darauf hin, daß nationale
Machterweiterung die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sei. Delbrück
berief sich darauf, daß es einerseits auf dem Lande ja an Arbeitskräften fehle,
andrerseits in wirtschaftlich günstigen Zeiten alle Arbeitswilligen stets zu thun
fänden. Aber wie ein zündender Schlag fuhr es durch die Versammlung, als
er alle Bedenken wegen Übervölkerung mit dem Glaubensbekenntnis abthat,
für ihn sei das Wort zum deutschen Volke gesagt: „Seid fruchtbar und mehret
euch und füllet die Erde." Brausender Beifall verschlang den Schluß: „Und
machet sie euch Unterthan!" Mit diesem vollen Akkord klang der Kongreß aus.




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[0495] Der Lvangelisch-soziale Kongreß frage. Rathgen selbst beantwortete die Frage dahin, daß der Wunsch einer besondern Klasse, von dem Gewinn der kaufmännischen Vermittlung zwischen Erzeuger und Verbraucher zu leben, insofern gänzlich unberechtigt sei, als diese Vermittlung durch das sich entwickelnde Genossenschaftswesen immer überflüssiger werde, insofern Erzeuger und Verbraucher zu beiderseitigen Vorteil unmittelbar mit einander in Verbindung treten könnten. Der dadurch entstehende Ausfall beim Mittelstande würde durch das Anwachsen eines befriedigend gestellten kaufmännischen Beamtenstandes gedeckt werden. Diese Anschauung fand sehr viel Widerspruch, aber es hätte der Natur und den Zielen des Kongresses nicht entsprochen, wenn es zu einer formellen Ablehnung gekommen wäre; sollte doch grundsätzlich nur ein Meinungsaustausch stattfinden. Mit besondrer Freude war es zu begrüßen, daß die nationale Posaune auf dem Kongreß diesmal einen deutlichen Ton hören ließ. Schon Naumann hatte es klar und unzweideutig ausgesprochen, daß es sich bei evangelisch-sozial um eine nationale Sache, um ein Werk zur Größe des Vaterlandes handle, aber am erhebendsten und befreiendsten wirkte in dieser Beziehung der Del- brücksche Vortrag. Delbrück trat für das Recht auf Arbeit und zum Zweck seiner praktischen Verwirklichung für eine Reihe von sozialreformischen Ma߬ regeln ein: Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Zwangssparkassen, Arbeits¬ nachweis. Einen wirklich dauernden Notstand wollte er nicht anerkennen, ein solcher werde immer nur teils durch den „Saisoncharakter" großer Arbeits¬ zweige, teils durch wirtschaftliche Krisen verursacht. Von verschiednen Seite,: wurde entgegengehalten, daß die Not der Arbeitslosen mit der wachsenden Übervölkerung Deutschlands zusammenhänge. Auch Adolf Wagner und der Freiburger Nationalökonom Weber wiesen energisch darauf hin, daß nationale Machterweiterung die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sei. Delbrück berief sich darauf, daß es einerseits auf dem Lande ja an Arbeitskräften fehle, andrerseits in wirtschaftlich günstigen Zeiten alle Arbeitswilligen stets zu thun fänden. Aber wie ein zündender Schlag fuhr es durch die Versammlung, als er alle Bedenken wegen Übervölkerung mit dem Glaubensbekenntnis abthat, für ihn sei das Wort zum deutschen Volke gesagt: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde." Brausender Beifall verschlang den Schluß: „Und machet sie euch Unterthan!" Mit diesem vollen Akkord klang der Kongreß aus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/495>, abgerufen am 03.07.2024.