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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit

der sie für kleinen Lohn beschäftigt, wird angeklagt, daß er das verschulde.
Damit wird also die Vorstellung in Schutz genommen, daß das Eingehen eines
Dienstverhältnisses, was sofort der materiellen Not ein Ende machen würde,
eine größere Schande sei als die Preisgebung der Mädchenehre.

Daß es anders sein sollte, als es ist, dieses Verlangen ist die Triebfeder
jedes Fortschritts und jeder Besserung; nicht dieses Verlangen an sich ist ver¬
kehrt. Und wenn ich gefragt werde, ob ich die Besserungsmöglichkeit leugnete
und keine Reformen wolle, so antworte ich, daß auch ich Reformen will, aber
es sind unscheinbare Reformen, von denen nicht so viel Aufhebens und
Lärmens gemacht wird, wie von denen, die die Reformer xar sxoöllcmvö ver¬
langen. Das ist eben das Eigentümliche an der Sache, daß die, die sich selbst
zu helfen und sich selbst ein befriedigendes Los zu schaffen wissen, meist
nicht viel Redens und Rühmens davon machen, oft gar nicht nach irgend
welchen eingelernten schönen Grundsätzen handeln, sondern sozusagen instinktiv,
weil sie merken, daß sie dabei am besten fahren. Soll Vesferung aus den
Kräften der Menschen selbst kommen, so ist eben nichts weiter erforderlich, als
daß der rechte Wille und die rechte Einsicht vorhanden sei, daß alle oder doch
möglichst viele das thun, was einige, was die Besten und Tüchtigsten thun.
Das ist nicht in Hast zu erreichen, ist vielmehr die Sache einer langsamen
Volkserziehung, und wahrscheinlich liegt es überhaupt nicht in unserm Bolks-
charcikter, daß wir in Organisation der Selbsthilfe und Erziehung der untern
Klassen zur Selbsthilfe genau britischen Vorbild sollten folgen können. Wenn
doch wenigstens die Möglichkeit der Selbsthilfe zugegeben, der Wert des Bei¬
spiels im kleinen anerkannt würde. Hier ist es, wo sich die Ansichten
scheiden. Ich freue mich über jedes Zeichen einer verständigen Gesinnung,
nämlich wenn ich sehe, daß sich die Menschen in ihre Lage zu finden wissen,
daß sie nicht über ihren Stand hinauswollen, nicht den äußern Schein einer
Stellung festzuhalten suchen, die einzunehmen sie ihrem Einkommen nach nicht
imstande sind. Aber was ich verständig nenne, mag wohl den sozialreforma-
torischen Eiferern als ein Zurückgebliebensein an sozialpolitischer Einsicht er¬
scheinen, als ein Mangel an der Gesinnung, die man heute zur Erzwingung
sozialpolitischer Reformen zu brauchen glaubt. Es ist ja so viel wirkungs¬
voller, wenn in die Welt hinausgerufen wird, daß es unerträglich sei und
besser werden müsse, als wenn ein klein wenig in bescheidnen Umfang zum
Besserwerden Hand angelegt wird.

Es ist in der Stadt wie auf dem Lande. Wenn ein Hofbesitzer wegen
Uberschuldung den angestammten Sitz verlassen muß, so wird dieses traurige
Schicksal zum Anlaß genommen, daran Betrachtungen über die Not der Zeit
zu knüpfen, während das stille Schaffen des Nachbars, der sich trotz der Not
zu erhalten weiß, nicht beachtet wird. So auch mögen sich in der Stadt
zwei Familien unter gleichen äußern Verhältnissen höchst ungleich benehmen,


Die Pflicht zur Arbeit

der sie für kleinen Lohn beschäftigt, wird angeklagt, daß er das verschulde.
Damit wird also die Vorstellung in Schutz genommen, daß das Eingehen eines
Dienstverhältnisses, was sofort der materiellen Not ein Ende machen würde,
eine größere Schande sei als die Preisgebung der Mädchenehre.

Daß es anders sein sollte, als es ist, dieses Verlangen ist die Triebfeder
jedes Fortschritts und jeder Besserung; nicht dieses Verlangen an sich ist ver¬
kehrt. Und wenn ich gefragt werde, ob ich die Besserungsmöglichkeit leugnete
und keine Reformen wolle, so antworte ich, daß auch ich Reformen will, aber
es sind unscheinbare Reformen, von denen nicht so viel Aufhebens und
Lärmens gemacht wird, wie von denen, die die Reformer xar sxoöllcmvö ver¬
langen. Das ist eben das Eigentümliche an der Sache, daß die, die sich selbst
zu helfen und sich selbst ein befriedigendes Los zu schaffen wissen, meist
nicht viel Redens und Rühmens davon machen, oft gar nicht nach irgend
welchen eingelernten schönen Grundsätzen handeln, sondern sozusagen instinktiv,
weil sie merken, daß sie dabei am besten fahren. Soll Vesferung aus den
Kräften der Menschen selbst kommen, so ist eben nichts weiter erforderlich, als
daß der rechte Wille und die rechte Einsicht vorhanden sei, daß alle oder doch
möglichst viele das thun, was einige, was die Besten und Tüchtigsten thun.
Das ist nicht in Hast zu erreichen, ist vielmehr die Sache einer langsamen
Volkserziehung, und wahrscheinlich liegt es überhaupt nicht in unserm Bolks-
charcikter, daß wir in Organisation der Selbsthilfe und Erziehung der untern
Klassen zur Selbsthilfe genau britischen Vorbild sollten folgen können. Wenn
doch wenigstens die Möglichkeit der Selbsthilfe zugegeben, der Wert des Bei¬
spiels im kleinen anerkannt würde. Hier ist es, wo sich die Ansichten
scheiden. Ich freue mich über jedes Zeichen einer verständigen Gesinnung,
nämlich wenn ich sehe, daß sich die Menschen in ihre Lage zu finden wissen,
daß sie nicht über ihren Stand hinauswollen, nicht den äußern Schein einer
Stellung festzuhalten suchen, die einzunehmen sie ihrem Einkommen nach nicht
imstande sind. Aber was ich verständig nenne, mag wohl den sozialreforma-
torischen Eiferern als ein Zurückgebliebensein an sozialpolitischer Einsicht er¬
scheinen, als ein Mangel an der Gesinnung, die man heute zur Erzwingung
sozialpolitischer Reformen zu brauchen glaubt. Es ist ja so viel wirkungs¬
voller, wenn in die Welt hinausgerufen wird, daß es unerträglich sei und
besser werden müsse, als wenn ein klein wenig in bescheidnen Umfang zum
Besserwerden Hand angelegt wird.

Es ist in der Stadt wie auf dem Lande. Wenn ein Hofbesitzer wegen
Uberschuldung den angestammten Sitz verlassen muß, so wird dieses traurige
Schicksal zum Anlaß genommen, daran Betrachtungen über die Not der Zeit
zu knüpfen, während das stille Schaffen des Nachbars, der sich trotz der Not
zu erhalten weiß, nicht beachtet wird. So auch mögen sich in der Stadt
zwei Familien unter gleichen äußern Verhältnissen höchst ungleich benehmen,


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[0458] Die Pflicht zur Arbeit der sie für kleinen Lohn beschäftigt, wird angeklagt, daß er das verschulde. Damit wird also die Vorstellung in Schutz genommen, daß das Eingehen eines Dienstverhältnisses, was sofort der materiellen Not ein Ende machen würde, eine größere Schande sei als die Preisgebung der Mädchenehre. Daß es anders sein sollte, als es ist, dieses Verlangen ist die Triebfeder jedes Fortschritts und jeder Besserung; nicht dieses Verlangen an sich ist ver¬ kehrt. Und wenn ich gefragt werde, ob ich die Besserungsmöglichkeit leugnete und keine Reformen wolle, so antworte ich, daß auch ich Reformen will, aber es sind unscheinbare Reformen, von denen nicht so viel Aufhebens und Lärmens gemacht wird, wie von denen, die die Reformer xar sxoöllcmvö ver¬ langen. Das ist eben das Eigentümliche an der Sache, daß die, die sich selbst zu helfen und sich selbst ein befriedigendes Los zu schaffen wissen, meist nicht viel Redens und Rühmens davon machen, oft gar nicht nach irgend welchen eingelernten schönen Grundsätzen handeln, sondern sozusagen instinktiv, weil sie merken, daß sie dabei am besten fahren. Soll Vesferung aus den Kräften der Menschen selbst kommen, so ist eben nichts weiter erforderlich, als daß der rechte Wille und die rechte Einsicht vorhanden sei, daß alle oder doch möglichst viele das thun, was einige, was die Besten und Tüchtigsten thun. Das ist nicht in Hast zu erreichen, ist vielmehr die Sache einer langsamen Volkserziehung, und wahrscheinlich liegt es überhaupt nicht in unserm Bolks- charcikter, daß wir in Organisation der Selbsthilfe und Erziehung der untern Klassen zur Selbsthilfe genau britischen Vorbild sollten folgen können. Wenn doch wenigstens die Möglichkeit der Selbsthilfe zugegeben, der Wert des Bei¬ spiels im kleinen anerkannt würde. Hier ist es, wo sich die Ansichten scheiden. Ich freue mich über jedes Zeichen einer verständigen Gesinnung, nämlich wenn ich sehe, daß sich die Menschen in ihre Lage zu finden wissen, daß sie nicht über ihren Stand hinauswollen, nicht den äußern Schein einer Stellung festzuhalten suchen, die einzunehmen sie ihrem Einkommen nach nicht imstande sind. Aber was ich verständig nenne, mag wohl den sozialreforma- torischen Eiferern als ein Zurückgebliebensein an sozialpolitischer Einsicht er¬ scheinen, als ein Mangel an der Gesinnung, die man heute zur Erzwingung sozialpolitischer Reformen zu brauchen glaubt. Es ist ja so viel wirkungs¬ voller, wenn in die Welt hinausgerufen wird, daß es unerträglich sei und besser werden müsse, als wenn ein klein wenig in bescheidnen Umfang zum Besserwerden Hand angelegt wird. Es ist in der Stadt wie auf dem Lande. Wenn ein Hofbesitzer wegen Uberschuldung den angestammten Sitz verlassen muß, so wird dieses traurige Schicksal zum Anlaß genommen, daran Betrachtungen über die Not der Zeit zu knüpfen, während das stille Schaffen des Nachbars, der sich trotz der Not zu erhalten weiß, nicht beachtet wird. So auch mögen sich in der Stadt zwei Familien unter gleichen äußern Verhältnissen höchst ungleich benehmen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/458>, abgerufen am 22.07.2024.