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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit

zur Unterhaltung einer Familie hat. Man kommt auf diese Art geradeswegs
zum Ideal vom Schlaraffenland.

Und wie thöricht ist die Vorstellung, daß ein Leben reizlos sei, für das
das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur obersten Richtschnur gemacht
wird. Nein, es ist nicht reizlos und unbefriedigend, selbst heute in dieser Welt
mit ihrem gesteigerten Bedürfnis nach Genuß nicht, in dieser Stadt mit ihren
mannichfachen Verlockungen zu Geldausgaben. Ich will hier etwas erzählen
nicht von der fröhlichen Armut, sondern von der fröhlichen Arbeit, die von
sich die Armut fernzuhalten weiß. Ich kenne hier in Berlin eine Familie,
deren Mitglieder nach und nach aus einem mitteldeutschen Bauerndvrfe hierher
gezogen sind. Es sind die Kinder eines dortigen Häuslers, die hier teils in
dienender Stellung, teils im Handwerksbetrieb beschäftigt sind. Sie sprechen
sich, sowohl die jungen Männer als die Mädchen, sehr befriedigt über die
hiesigen Arbeitsverhältnisse aus. Der von ihnen angestellte Vergleich mit den
Verhältnissen der Heimat fällt für Berlin günstig aus; sie haben durch den
"H^rzug nach Berlin ihre Lage verbessert. Sie finden leicht Stellung; sie
können sich gut kleiden und noch etwas erübrigen. Sie brauche" sich nicht
jede Freude und jeden harmlosen Genuß zu versagen. Sie finden auch Ge¬
legenheit zur Verehelichung unter verhältnismüßig nicht ungünstigen Umständen.
Diese jungen Leute sind tüchtige und brauchbare Arbeitskräfte. Sie stammen
aus einer Familie, die in der Heimat dem besitzenden Bauernstande gleich¬
berechtigt dasteht. Sie wissen daher nichts von Klassenhaß, noch auch von
der Vorstellung, daß es ein bejammernswertes Los sei, um des Lebensunter¬
halts willen arbeiten zu müssen. Diese ihre Gesinnung und diese ihre Denkart
sichern ihnen das Fortkommen. Es ist leicht begreiflich, daß solchen Arbeits¬
kräften der Vorzug gegeben wird, und ein Arbeitender solcher Art erhält
denn auch leicht eine bessere Stellung, eben weil sein Wert geschätzt wird.
Gewiß wird von Arbeitgebern viel gesündigt. Aber es ist nicht zu bestreuen,
daß auch die Gesinnung der arbeitenden Klassen heute vielfach das Dienst¬
verhältnis erschwert. In vielen Häusern wird die Trennung der Stände
schmerzlich als ein Übelstand empfunden, und man würde bereit sein, dem
Dienenden eine angenehmere, der Gleichberechtigung nahekommende Stellung
zu gewähren, wenn er sich dazu eignete. Wo sich Bescheidenheit und Ar¬
beitswilligkeit verbinden mit einer Erziehung, die über den Stand des Arbeiters
erhebt, da verbürgen diese Eigenschaften das Fortkommen. Verdient denn die
Anschauung gestützt zu werden, daß die bessere Erziehung, weil sie die Arbeiter¬
auswahl beschränkt, geradezu ein Hemmnis des Fortkommens sei? Und doch,
wie viele, die ihrer Bildungsstufe nach nicht über den oben geschilderten jungen
Leuten stehen, halten dieses Vorurteil fest und werden darin bestärkt- Das
Mädchen, das einen nnauskömmlichen Lohn bezieht, so heißt es, ist gezwungen,
sich der Prostitution in die Arme zu werfen, und der hartherzige Arbeitgeber,


Grenzboten II 1396 57
Die Pflicht zur Arbeit

zur Unterhaltung einer Familie hat. Man kommt auf diese Art geradeswegs
zum Ideal vom Schlaraffenland.

Und wie thöricht ist die Vorstellung, daß ein Leben reizlos sei, für das
das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur obersten Richtschnur gemacht
wird. Nein, es ist nicht reizlos und unbefriedigend, selbst heute in dieser Welt
mit ihrem gesteigerten Bedürfnis nach Genuß nicht, in dieser Stadt mit ihren
mannichfachen Verlockungen zu Geldausgaben. Ich will hier etwas erzählen
nicht von der fröhlichen Armut, sondern von der fröhlichen Arbeit, die von
sich die Armut fernzuhalten weiß. Ich kenne hier in Berlin eine Familie,
deren Mitglieder nach und nach aus einem mitteldeutschen Bauerndvrfe hierher
gezogen sind. Es sind die Kinder eines dortigen Häuslers, die hier teils in
dienender Stellung, teils im Handwerksbetrieb beschäftigt sind. Sie sprechen
sich, sowohl die jungen Männer als die Mädchen, sehr befriedigt über die
hiesigen Arbeitsverhältnisse aus. Der von ihnen angestellte Vergleich mit den
Verhältnissen der Heimat fällt für Berlin günstig aus; sie haben durch den
"H^rzug nach Berlin ihre Lage verbessert. Sie finden leicht Stellung; sie
können sich gut kleiden und noch etwas erübrigen. Sie brauche« sich nicht
jede Freude und jeden harmlosen Genuß zu versagen. Sie finden auch Ge¬
legenheit zur Verehelichung unter verhältnismüßig nicht ungünstigen Umständen.
Diese jungen Leute sind tüchtige und brauchbare Arbeitskräfte. Sie stammen
aus einer Familie, die in der Heimat dem besitzenden Bauernstande gleich¬
berechtigt dasteht. Sie wissen daher nichts von Klassenhaß, noch auch von
der Vorstellung, daß es ein bejammernswertes Los sei, um des Lebensunter¬
halts willen arbeiten zu müssen. Diese ihre Gesinnung und diese ihre Denkart
sichern ihnen das Fortkommen. Es ist leicht begreiflich, daß solchen Arbeits¬
kräften der Vorzug gegeben wird, und ein Arbeitender solcher Art erhält
denn auch leicht eine bessere Stellung, eben weil sein Wert geschätzt wird.
Gewiß wird von Arbeitgebern viel gesündigt. Aber es ist nicht zu bestreuen,
daß auch die Gesinnung der arbeitenden Klassen heute vielfach das Dienst¬
verhältnis erschwert. In vielen Häusern wird die Trennung der Stände
schmerzlich als ein Übelstand empfunden, und man würde bereit sein, dem
Dienenden eine angenehmere, der Gleichberechtigung nahekommende Stellung
zu gewähren, wenn er sich dazu eignete. Wo sich Bescheidenheit und Ar¬
beitswilligkeit verbinden mit einer Erziehung, die über den Stand des Arbeiters
erhebt, da verbürgen diese Eigenschaften das Fortkommen. Verdient denn die
Anschauung gestützt zu werden, daß die bessere Erziehung, weil sie die Arbeiter¬
auswahl beschränkt, geradezu ein Hemmnis des Fortkommens sei? Und doch,
wie viele, die ihrer Bildungsstufe nach nicht über den oben geschilderten jungen
Leuten stehen, halten dieses Vorurteil fest und werden darin bestärkt- Das
Mädchen, das einen nnauskömmlichen Lohn bezieht, so heißt es, ist gezwungen,
sich der Prostitution in die Arme zu werfen, und der hartherzige Arbeitgeber,


Grenzboten II 1396 57
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[0457] Die Pflicht zur Arbeit zur Unterhaltung einer Familie hat. Man kommt auf diese Art geradeswegs zum Ideal vom Schlaraffenland. Und wie thöricht ist die Vorstellung, daß ein Leben reizlos sei, für das das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur obersten Richtschnur gemacht wird. Nein, es ist nicht reizlos und unbefriedigend, selbst heute in dieser Welt mit ihrem gesteigerten Bedürfnis nach Genuß nicht, in dieser Stadt mit ihren mannichfachen Verlockungen zu Geldausgaben. Ich will hier etwas erzählen nicht von der fröhlichen Armut, sondern von der fröhlichen Arbeit, die von sich die Armut fernzuhalten weiß. Ich kenne hier in Berlin eine Familie, deren Mitglieder nach und nach aus einem mitteldeutschen Bauerndvrfe hierher gezogen sind. Es sind die Kinder eines dortigen Häuslers, die hier teils in dienender Stellung, teils im Handwerksbetrieb beschäftigt sind. Sie sprechen sich, sowohl die jungen Männer als die Mädchen, sehr befriedigt über die hiesigen Arbeitsverhältnisse aus. Der von ihnen angestellte Vergleich mit den Verhältnissen der Heimat fällt für Berlin günstig aus; sie haben durch den "H^rzug nach Berlin ihre Lage verbessert. Sie finden leicht Stellung; sie können sich gut kleiden und noch etwas erübrigen. Sie brauche« sich nicht jede Freude und jeden harmlosen Genuß zu versagen. Sie finden auch Ge¬ legenheit zur Verehelichung unter verhältnismüßig nicht ungünstigen Umständen. Diese jungen Leute sind tüchtige und brauchbare Arbeitskräfte. Sie stammen aus einer Familie, die in der Heimat dem besitzenden Bauernstande gleich¬ berechtigt dasteht. Sie wissen daher nichts von Klassenhaß, noch auch von der Vorstellung, daß es ein bejammernswertes Los sei, um des Lebensunter¬ halts willen arbeiten zu müssen. Diese ihre Gesinnung und diese ihre Denkart sichern ihnen das Fortkommen. Es ist leicht begreiflich, daß solchen Arbeits¬ kräften der Vorzug gegeben wird, und ein Arbeitender solcher Art erhält denn auch leicht eine bessere Stellung, eben weil sein Wert geschätzt wird. Gewiß wird von Arbeitgebern viel gesündigt. Aber es ist nicht zu bestreuen, daß auch die Gesinnung der arbeitenden Klassen heute vielfach das Dienst¬ verhältnis erschwert. In vielen Häusern wird die Trennung der Stände schmerzlich als ein Übelstand empfunden, und man würde bereit sein, dem Dienenden eine angenehmere, der Gleichberechtigung nahekommende Stellung zu gewähren, wenn er sich dazu eignete. Wo sich Bescheidenheit und Ar¬ beitswilligkeit verbinden mit einer Erziehung, die über den Stand des Arbeiters erhebt, da verbürgen diese Eigenschaften das Fortkommen. Verdient denn die Anschauung gestützt zu werden, daß die bessere Erziehung, weil sie die Arbeiter¬ auswahl beschränkt, geradezu ein Hemmnis des Fortkommens sei? Und doch, wie viele, die ihrer Bildungsstufe nach nicht über den oben geschilderten jungen Leuten stehen, halten dieses Vorurteil fest und werden darin bestärkt- Das Mädchen, das einen nnauskömmlichen Lohn bezieht, so heißt es, ist gezwungen, sich der Prostitution in die Arme zu werfen, und der hartherzige Arbeitgeber, Grenzboten II 1396 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/457>, abgerufen am 22.07.2024.