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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit

sieht, daß der Begriff der Ausbeutung schwerer zu fassen ist, als die glauben,
die diesen Vorwurf so leicht erheben. Was unter einem auskömmlichen Lohn
zu verstehen ist, läßt sich am wenigsten feststellen in einer Großstadt mit
ihren verwickelten Verhältnissen, ihrer Mannichfaltigkeit der persönlichen Be¬
dürfnisse.

Es kommt mir nicht in den Sinn, Mißbräuche in Schutz nehmen zu
wollen. Das Gesagte bezieht sich auf die Lohnhöhe und nicht auf die Be¬
handlung des Arbeiters oder der Arbeiterin. Beides mag schwer zu trennen
sein; gewiß liegt in der wirtschaftlichen Schwäche des Arbeitsuchenden für den
Arbeitgeber eine starke Versuchung zum Mißbrauch. Und insofern ist es richtig,
in der ungenügenden Lohnhöhe die Quelle dieser Übelstände zu suchen und
hierin Wandel schaffen zu wollen. Wenn aber weit über die sozialistischen
Kreise hinaus die Neigung vorherrscht, schon in dem geringen Lohnsatz an und
für sich ein Unrecht zu sehen und daraufhin Anklagen gegen unsre Gesell¬
schaftsordnung zu schmieden, so wird dabei der Fehler begangen, daß man
beständig von andern das erwartet, wozu doch der Arbeitsuchende selbst der
nächste ist. Nach der Empfindung des verwöhnten Kulturmenschen wird die
Lage derer beurteilt, die oft diese ihre unglückliche Lage mit Gleichmut und
Gelassenheit tragen, und dabei wird übersehen, daß keine änßere Einwirkung
das ersetzen kann, was in dem Innern solcher Menschen fehlt, und dnrch dessen
Mangel sie in diese Lage gekommen sind. Die Parteinahme für die "Kleinen"
und gegen die "Großen" ist verständlich und menschlich berechtigt. Dabei wird
aber meistens in der Weise gefehlt, daß durch Hinlenkung der Aufmerksamkeit
auf einzelne besonders auffällige Beispiele Vorstellungen erweckt werden, die in
ihrer Allgemeinheit nicht zutreffend sind. Es wird nicht beachtet, wie sehr in
der Neuzeit die Fähigkeit der "Kleinen," sich weiter auszuwachsen, zugenommen
hat, nicht beachtet, wie viel größer heute im allgemeinen die Widerstandskraft
des Arbeiterstandes gegen jede Unbill, gegen Ausbeutungssucht des Unter¬
nehmers und die Ungunst wirtschaftlicher Verhältnisse ist, und daß die schlechte
Lage gewisser Arbeitszweige weniger einem wirklichen Mangel an Widerstands¬
kraft zuzuschreiben ist, als dem Verzicht darauf, vou dieser Widerstandskraft
den vollen Gebrauch zu machen, die Lage des Arbeitsmarktes so auszunutzen,
wie es möglich wäre. Als hilfsbedürftig werden ja nicht bloß Familien,
sondern auch ledige Personen im besten Lebensalter bezeichnet, und für sie ist
doch die Möglichkeit, sich selbst zu erhalten, vorhanden. Jede Einwirkung durch
gesetzgeberische Maßregeln, wie auch die, die durch die öffentliche Meinung auf
die Gesinnung und das Verhalten der Arbeitergeber hervorgebracht werden
konnte, bleibt doch nur auf dem Gebiet der kleinen Mittel, kann nicht das
Übel gründlich heilen, das der ungesunde Andrang der Arbeitsuchenden zu ge¬
wissen Arten der Beschäftigung verschuldet hat.

Kann die Gesetzgebung wirksame Mittel ergreifen, um die Hauptursache


Die Pflicht zur Arbeit

sieht, daß der Begriff der Ausbeutung schwerer zu fassen ist, als die glauben,
die diesen Vorwurf so leicht erheben. Was unter einem auskömmlichen Lohn
zu verstehen ist, läßt sich am wenigsten feststellen in einer Großstadt mit
ihren verwickelten Verhältnissen, ihrer Mannichfaltigkeit der persönlichen Be¬
dürfnisse.

Es kommt mir nicht in den Sinn, Mißbräuche in Schutz nehmen zu
wollen. Das Gesagte bezieht sich auf die Lohnhöhe und nicht auf die Be¬
handlung des Arbeiters oder der Arbeiterin. Beides mag schwer zu trennen
sein; gewiß liegt in der wirtschaftlichen Schwäche des Arbeitsuchenden für den
Arbeitgeber eine starke Versuchung zum Mißbrauch. Und insofern ist es richtig,
in der ungenügenden Lohnhöhe die Quelle dieser Übelstände zu suchen und
hierin Wandel schaffen zu wollen. Wenn aber weit über die sozialistischen
Kreise hinaus die Neigung vorherrscht, schon in dem geringen Lohnsatz an und
für sich ein Unrecht zu sehen und daraufhin Anklagen gegen unsre Gesell¬
schaftsordnung zu schmieden, so wird dabei der Fehler begangen, daß man
beständig von andern das erwartet, wozu doch der Arbeitsuchende selbst der
nächste ist. Nach der Empfindung des verwöhnten Kulturmenschen wird die
Lage derer beurteilt, die oft diese ihre unglückliche Lage mit Gleichmut und
Gelassenheit tragen, und dabei wird übersehen, daß keine änßere Einwirkung
das ersetzen kann, was in dem Innern solcher Menschen fehlt, und dnrch dessen
Mangel sie in diese Lage gekommen sind. Die Parteinahme für die „Kleinen"
und gegen die „Großen" ist verständlich und menschlich berechtigt. Dabei wird
aber meistens in der Weise gefehlt, daß durch Hinlenkung der Aufmerksamkeit
auf einzelne besonders auffällige Beispiele Vorstellungen erweckt werden, die in
ihrer Allgemeinheit nicht zutreffend sind. Es wird nicht beachtet, wie sehr in
der Neuzeit die Fähigkeit der „Kleinen," sich weiter auszuwachsen, zugenommen
hat, nicht beachtet, wie viel größer heute im allgemeinen die Widerstandskraft
des Arbeiterstandes gegen jede Unbill, gegen Ausbeutungssucht des Unter¬
nehmers und die Ungunst wirtschaftlicher Verhältnisse ist, und daß die schlechte
Lage gewisser Arbeitszweige weniger einem wirklichen Mangel an Widerstands¬
kraft zuzuschreiben ist, als dem Verzicht darauf, vou dieser Widerstandskraft
den vollen Gebrauch zu machen, die Lage des Arbeitsmarktes so auszunutzen,
wie es möglich wäre. Als hilfsbedürftig werden ja nicht bloß Familien,
sondern auch ledige Personen im besten Lebensalter bezeichnet, und für sie ist
doch die Möglichkeit, sich selbst zu erhalten, vorhanden. Jede Einwirkung durch
gesetzgeberische Maßregeln, wie auch die, die durch die öffentliche Meinung auf
die Gesinnung und das Verhalten der Arbeitergeber hervorgebracht werden
konnte, bleibt doch nur auf dem Gebiet der kleinen Mittel, kann nicht das
Übel gründlich heilen, das der ungesunde Andrang der Arbeitsuchenden zu ge¬
wissen Arten der Beschäftigung verschuldet hat.

Kann die Gesetzgebung wirksame Mittel ergreifen, um die Hauptursache


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[0451] Die Pflicht zur Arbeit sieht, daß der Begriff der Ausbeutung schwerer zu fassen ist, als die glauben, die diesen Vorwurf so leicht erheben. Was unter einem auskömmlichen Lohn zu verstehen ist, läßt sich am wenigsten feststellen in einer Großstadt mit ihren verwickelten Verhältnissen, ihrer Mannichfaltigkeit der persönlichen Be¬ dürfnisse. Es kommt mir nicht in den Sinn, Mißbräuche in Schutz nehmen zu wollen. Das Gesagte bezieht sich auf die Lohnhöhe und nicht auf die Be¬ handlung des Arbeiters oder der Arbeiterin. Beides mag schwer zu trennen sein; gewiß liegt in der wirtschaftlichen Schwäche des Arbeitsuchenden für den Arbeitgeber eine starke Versuchung zum Mißbrauch. Und insofern ist es richtig, in der ungenügenden Lohnhöhe die Quelle dieser Übelstände zu suchen und hierin Wandel schaffen zu wollen. Wenn aber weit über die sozialistischen Kreise hinaus die Neigung vorherrscht, schon in dem geringen Lohnsatz an und für sich ein Unrecht zu sehen und daraufhin Anklagen gegen unsre Gesell¬ schaftsordnung zu schmieden, so wird dabei der Fehler begangen, daß man beständig von andern das erwartet, wozu doch der Arbeitsuchende selbst der nächste ist. Nach der Empfindung des verwöhnten Kulturmenschen wird die Lage derer beurteilt, die oft diese ihre unglückliche Lage mit Gleichmut und Gelassenheit tragen, und dabei wird übersehen, daß keine änßere Einwirkung das ersetzen kann, was in dem Innern solcher Menschen fehlt, und dnrch dessen Mangel sie in diese Lage gekommen sind. Die Parteinahme für die „Kleinen" und gegen die „Großen" ist verständlich und menschlich berechtigt. Dabei wird aber meistens in der Weise gefehlt, daß durch Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einzelne besonders auffällige Beispiele Vorstellungen erweckt werden, die in ihrer Allgemeinheit nicht zutreffend sind. Es wird nicht beachtet, wie sehr in der Neuzeit die Fähigkeit der „Kleinen," sich weiter auszuwachsen, zugenommen hat, nicht beachtet, wie viel größer heute im allgemeinen die Widerstandskraft des Arbeiterstandes gegen jede Unbill, gegen Ausbeutungssucht des Unter¬ nehmers und die Ungunst wirtschaftlicher Verhältnisse ist, und daß die schlechte Lage gewisser Arbeitszweige weniger einem wirklichen Mangel an Widerstands¬ kraft zuzuschreiben ist, als dem Verzicht darauf, vou dieser Widerstandskraft den vollen Gebrauch zu machen, die Lage des Arbeitsmarktes so auszunutzen, wie es möglich wäre. Als hilfsbedürftig werden ja nicht bloß Familien, sondern auch ledige Personen im besten Lebensalter bezeichnet, und für sie ist doch die Möglichkeit, sich selbst zu erhalten, vorhanden. Jede Einwirkung durch gesetzgeberische Maßregeln, wie auch die, die durch die öffentliche Meinung auf die Gesinnung und das Verhalten der Arbeitergeber hervorgebracht werden konnte, bleibt doch nur auf dem Gebiet der kleinen Mittel, kann nicht das Übel gründlich heilen, das der ungesunde Andrang der Arbeitsuchenden zu ge¬ wissen Arten der Beschäftigung verschuldet hat. Kann die Gesetzgebung wirksame Mittel ergreifen, um die Hauptursache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/451>, abgerufen am 22.07.2024.