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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit

des Übelstandes zu beseitigen? kann sie eine wesentliche Erhöhung des Lohn¬
satzes bewirken? Für die eifrigen Sozialreformatoren tritt die Frage nach
dem Können der Gesetzgebung sehr zurück. Ihnen ist das Sollen der Ma߬
stab für das Können. Mit Anwendung des Kantschen Pflichtgebots rufen sie
uns zu, daß, wo ein Wille ist, sich auch schon ein Weg finden werde. Und
hierbei kann es ihnen wohl zur Entschuldigung dienen, daß bei uns von sehr
mächtigen Parteien derselbe Grundsatz aufgestellt wird, daß dem entsprechend
Gesetzesvorschlüge gemacht und teilweise auch unter dem Einfluß dieser Parteien
Gesetze erlassen werden. Bekanntlich gilt es zur Zeit als die Haftpflicht
der Gesetzgebung, hohe Getreidepreise herzustellen, und es kommt nicht so
genau darauf an, ob ein Gesetzesvorschlag und wohl auch ein Gesetz etwas
mehr oder weniger unsinnig ist, wenn es nur darnach aussieht, als könnte das
erstrebte Ziel dadurch erreicht werden. Da sind immerhin die Absichten der
Sozialpolitiker ehrenwerter als die der Agrarier; das Bestreben, die Löhne
der sveatörs zu erhöhen, verdient mehr Anerkennung, als die Sorge um die
Lebenshaltung der Großgrundbesitzer und um die Rente ihrer Güter. Dennoch
haben beide Probleme, das, wie man hohe Getreidepreise bei reichlichen Ge¬
treidevorräten, und das, wie man hohe Arbeitslöhne bei starkem Angebot von
Arbeitskräften herstellen kann, eine gewisse Ähnlichkeit mit einander. Diesen
Forderungen liegt Überschätzung der gesetzgeberischen Kraft zu Grunde. Die
Frage nach dem Können der Gesetzgebung läßt sich nicht so, wie es diese
Heißsporne möchten, beiseite schieben- Unter gesetzgeberischer Möglichkeit darf
vernünftigerweise nicht bloß die Fähigkeit verstanden werden, einen Beschluß
zu fassen und ins Werk zu setzen. Sondern es will bei diesen Beschlüssen zu¬
gleich erwogen sein, ob voraussichtlich die Wirkungen den Erwartungen ent¬
sprechen werden, oder ob nicht für das wirtschaftliche Leben schwere Schäden ent¬
stehen und der mit dem Gesetz verbundne Zweck ganz vereitelt werden wird. Nun
denke man sich, daß durch die Gesetzgebung ein Minimallohn festgesetzt werde,
unter dem bei Strafe nicht gearbeitet werden dürfe. Können dann auch die
Arbeitgeber gezwungen werden, zu solchen Löhnen arbeiten zu lassen, gleichviel,
wie es dabei um die Einträglichkeit ihres Geschäfts bestellt ist, und zwar so
viele Arbeitgeber, daß dadurch die Nachfrage nach Arbeit befriedigt wird,
eine Nachfrage, die ja durch die Festsetzung eines möglichst reichlich bemessenen
Minimallohnes für die bisher so schlecht bezahlte Arbeit ins ungeheuere wachsen
müßte? Wie wäre das denn anders zu machen, als daß der Staat die Arbeit¬
geber, die mit Verlust zu arbeiten gezwungen sind, entschädigen müßte? Kurz,
man würde damit in den sozialistischen Staat hineinsteuern.

Die Forderung einer bedeutenden Lohnerhöhung wird öfter mit der Be¬
hauptung begründet, daß die Arbeitgeber recht gut mehr abgeben könnten. Dabei
liegt die Borstellung zu Grunde, daß eine Einkommenregelung möglich sein
müsse, wobei jedem sein beschiednes Teil wird, keiner allzu viel und keiner allzu


Die Pflicht zur Arbeit

des Übelstandes zu beseitigen? kann sie eine wesentliche Erhöhung des Lohn¬
satzes bewirken? Für die eifrigen Sozialreformatoren tritt die Frage nach
dem Können der Gesetzgebung sehr zurück. Ihnen ist das Sollen der Ma߬
stab für das Können. Mit Anwendung des Kantschen Pflichtgebots rufen sie
uns zu, daß, wo ein Wille ist, sich auch schon ein Weg finden werde. Und
hierbei kann es ihnen wohl zur Entschuldigung dienen, daß bei uns von sehr
mächtigen Parteien derselbe Grundsatz aufgestellt wird, daß dem entsprechend
Gesetzesvorschlüge gemacht und teilweise auch unter dem Einfluß dieser Parteien
Gesetze erlassen werden. Bekanntlich gilt es zur Zeit als die Haftpflicht
der Gesetzgebung, hohe Getreidepreise herzustellen, und es kommt nicht so
genau darauf an, ob ein Gesetzesvorschlag und wohl auch ein Gesetz etwas
mehr oder weniger unsinnig ist, wenn es nur darnach aussieht, als könnte das
erstrebte Ziel dadurch erreicht werden. Da sind immerhin die Absichten der
Sozialpolitiker ehrenwerter als die der Agrarier; das Bestreben, die Löhne
der sveatörs zu erhöhen, verdient mehr Anerkennung, als die Sorge um die
Lebenshaltung der Großgrundbesitzer und um die Rente ihrer Güter. Dennoch
haben beide Probleme, das, wie man hohe Getreidepreise bei reichlichen Ge¬
treidevorräten, und das, wie man hohe Arbeitslöhne bei starkem Angebot von
Arbeitskräften herstellen kann, eine gewisse Ähnlichkeit mit einander. Diesen
Forderungen liegt Überschätzung der gesetzgeberischen Kraft zu Grunde. Die
Frage nach dem Können der Gesetzgebung läßt sich nicht so, wie es diese
Heißsporne möchten, beiseite schieben- Unter gesetzgeberischer Möglichkeit darf
vernünftigerweise nicht bloß die Fähigkeit verstanden werden, einen Beschluß
zu fassen und ins Werk zu setzen. Sondern es will bei diesen Beschlüssen zu¬
gleich erwogen sein, ob voraussichtlich die Wirkungen den Erwartungen ent¬
sprechen werden, oder ob nicht für das wirtschaftliche Leben schwere Schäden ent¬
stehen und der mit dem Gesetz verbundne Zweck ganz vereitelt werden wird. Nun
denke man sich, daß durch die Gesetzgebung ein Minimallohn festgesetzt werde,
unter dem bei Strafe nicht gearbeitet werden dürfe. Können dann auch die
Arbeitgeber gezwungen werden, zu solchen Löhnen arbeiten zu lassen, gleichviel,
wie es dabei um die Einträglichkeit ihres Geschäfts bestellt ist, und zwar so
viele Arbeitgeber, daß dadurch die Nachfrage nach Arbeit befriedigt wird,
eine Nachfrage, die ja durch die Festsetzung eines möglichst reichlich bemessenen
Minimallohnes für die bisher so schlecht bezahlte Arbeit ins ungeheuere wachsen
müßte? Wie wäre das denn anders zu machen, als daß der Staat die Arbeit¬
geber, die mit Verlust zu arbeiten gezwungen sind, entschädigen müßte? Kurz,
man würde damit in den sozialistischen Staat hineinsteuern.

Die Forderung einer bedeutenden Lohnerhöhung wird öfter mit der Be¬
hauptung begründet, daß die Arbeitgeber recht gut mehr abgeben könnten. Dabei
liegt die Borstellung zu Grunde, daß eine Einkommenregelung möglich sein
müsse, wobei jedem sein beschiednes Teil wird, keiner allzu viel und keiner allzu


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[0452] Die Pflicht zur Arbeit des Übelstandes zu beseitigen? kann sie eine wesentliche Erhöhung des Lohn¬ satzes bewirken? Für die eifrigen Sozialreformatoren tritt die Frage nach dem Können der Gesetzgebung sehr zurück. Ihnen ist das Sollen der Ma߬ stab für das Können. Mit Anwendung des Kantschen Pflichtgebots rufen sie uns zu, daß, wo ein Wille ist, sich auch schon ein Weg finden werde. Und hierbei kann es ihnen wohl zur Entschuldigung dienen, daß bei uns von sehr mächtigen Parteien derselbe Grundsatz aufgestellt wird, daß dem entsprechend Gesetzesvorschlüge gemacht und teilweise auch unter dem Einfluß dieser Parteien Gesetze erlassen werden. Bekanntlich gilt es zur Zeit als die Haftpflicht der Gesetzgebung, hohe Getreidepreise herzustellen, und es kommt nicht so genau darauf an, ob ein Gesetzesvorschlag und wohl auch ein Gesetz etwas mehr oder weniger unsinnig ist, wenn es nur darnach aussieht, als könnte das erstrebte Ziel dadurch erreicht werden. Da sind immerhin die Absichten der Sozialpolitiker ehrenwerter als die der Agrarier; das Bestreben, die Löhne der sveatörs zu erhöhen, verdient mehr Anerkennung, als die Sorge um die Lebenshaltung der Großgrundbesitzer und um die Rente ihrer Güter. Dennoch haben beide Probleme, das, wie man hohe Getreidepreise bei reichlichen Ge¬ treidevorräten, und das, wie man hohe Arbeitslöhne bei starkem Angebot von Arbeitskräften herstellen kann, eine gewisse Ähnlichkeit mit einander. Diesen Forderungen liegt Überschätzung der gesetzgeberischen Kraft zu Grunde. Die Frage nach dem Können der Gesetzgebung läßt sich nicht so, wie es diese Heißsporne möchten, beiseite schieben- Unter gesetzgeberischer Möglichkeit darf vernünftigerweise nicht bloß die Fähigkeit verstanden werden, einen Beschluß zu fassen und ins Werk zu setzen. Sondern es will bei diesen Beschlüssen zu¬ gleich erwogen sein, ob voraussichtlich die Wirkungen den Erwartungen ent¬ sprechen werden, oder ob nicht für das wirtschaftliche Leben schwere Schäden ent¬ stehen und der mit dem Gesetz verbundne Zweck ganz vereitelt werden wird. Nun denke man sich, daß durch die Gesetzgebung ein Minimallohn festgesetzt werde, unter dem bei Strafe nicht gearbeitet werden dürfe. Können dann auch die Arbeitgeber gezwungen werden, zu solchen Löhnen arbeiten zu lassen, gleichviel, wie es dabei um die Einträglichkeit ihres Geschäfts bestellt ist, und zwar so viele Arbeitgeber, daß dadurch die Nachfrage nach Arbeit befriedigt wird, eine Nachfrage, die ja durch die Festsetzung eines möglichst reichlich bemessenen Minimallohnes für die bisher so schlecht bezahlte Arbeit ins ungeheuere wachsen müßte? Wie wäre das denn anders zu machen, als daß der Staat die Arbeit¬ geber, die mit Verlust zu arbeiten gezwungen sind, entschädigen müßte? Kurz, man würde damit in den sozialistischen Staat hineinsteuern. Die Forderung einer bedeutenden Lohnerhöhung wird öfter mit der Be¬ hauptung begründet, daß die Arbeitgeber recht gut mehr abgeben könnten. Dabei liegt die Borstellung zu Grunde, daß eine Einkommenregelung möglich sein müsse, wobei jedem sein beschiednes Teil wird, keiner allzu viel und keiner allzu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/452>, abgerufen am 22.07.2024.