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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

des Senats gemordet worden, schreibt Plechanow, ob er auch leiblich gestorben
ist, ist aus dem Buche nicht zu ersehen.

Der wesentliche Unterschied der europäischen Kultur von dem Zustande
der asiatischen Despotien, zu denen Rußland bis auf den heutigen Tag gehört,
besteht darin, daß in Europa, vom alten Hellas anzufangen, die Kultur immer
vom ganzen Volke getragen worden ist, abgerechnet solche Perioden, wie sie
jedes europäische Volk von Zeit zu Zeit durchmacht, wo entweder eine zu
rasche Volksvermehrung oder ein zu rascher Fortschritt der Erkenntnis in den
obern Schichten den untern das Nachkommen schwer macht. Im allgemeinen
aber sind die Ideen, die wichtigsten Kenntnisse und die Vildungsmittel immer
das Gemeingut aller: alle nehmen lebhaften Anteil an den öffentlichen Ange¬
legenheiten; werden einer niedern Schicht politische Rechte vorenthalten, so
sucht sie solche zu erringen, und nie erstirbt auch in den untersten Schichten
das Streben, emporzukommen und an den geistigen und materiellen Gütern
der obern teilzunehmen. So hat bei uus das Leben immer ausgesehen, und
dieses immerwährende Emporstreben und diese Kämpfe bilden den Hauptinhalt
der Weltgeschichte. Im Osten, in Rußland wenigstens, ist es nicht so; das
geistige Leben bleibt auf die obersten Schichten der Bevölkerung beschränkt, die
ungeheure träge Masse wird von Ideen wenig bewegt, versteht nicht, was in
den Köpfen der Studirten vorgeht und nimmt daher auch an deren politischen
Bestrebungen keinen Anteil, sondern empört sich nur zuweilen gegen augen¬
blicklich empfundnen Druck, ohne klare politische Ziele im Auge zu haben und
diese planmäßig zu verfolgen. Eben deswegen müssen die revolutionären Be¬
strebungen der studirten Russen meteorartig vorübergehen; sie können die Masse
nicht ergreifen und können nicht zu Parteibildungen führen, in denen das
g"nze Volk thätig wird, wie bei uns. Man wird dasselbe von allen andern
geistigen Bestrebungen sagen dürfen; wenn von Leistungen der russischen Kunst
und Wissenschaft die Rede ist, darf man nie vergessen, daß diese vereinzelten
Leistungen noch lange kein Beweis für die höhere Kultur Rußlands sind; so
zahlreich sie sein mögen, ihre Gesamtzahl verschwindet gegenüber einer Seelen-
ncchl von hundert Millionen. "Weder die russischen Sozialisten, schreibt
Plechanow, mit ihrer Unzahl von Fraktionen und Richtungen, noch die legale
russische Kritik und Publizistik haben einen einzigen Schritt vorwärts gethan,
seitdem Tscheruischewskys litterarische Thätigkeit aufgehört hat." Und Tscherni-
schewskh selbst dachte sehr gering von dem Bildungsstande und von den
Fähigkeiten seiner Landsleute. "Er stellte die russische Litteratur zu niedrig,
um einen hervorragenden Platz in derselben als ehrenvoll zu betrachten." Man
uuiß lachen, wenn die Slawophilen die Russen als ein junges, "frisches"
Volk dem "abgelebten" Westen gegenüberstellen. Gerade die Frische ist es, die
ihnen fehlt. Wirken doch alle russischen Romane durch die Schlappheit und
Kraftlosigkeit der darin auftretenden Personen niederdrückend, lähmend, pein-


Grenzbotm II 1396 20
Der russische Sozialismus

des Senats gemordet worden, schreibt Plechanow, ob er auch leiblich gestorben
ist, ist aus dem Buche nicht zu ersehen.

Der wesentliche Unterschied der europäischen Kultur von dem Zustande
der asiatischen Despotien, zu denen Rußland bis auf den heutigen Tag gehört,
besteht darin, daß in Europa, vom alten Hellas anzufangen, die Kultur immer
vom ganzen Volke getragen worden ist, abgerechnet solche Perioden, wie sie
jedes europäische Volk von Zeit zu Zeit durchmacht, wo entweder eine zu
rasche Volksvermehrung oder ein zu rascher Fortschritt der Erkenntnis in den
obern Schichten den untern das Nachkommen schwer macht. Im allgemeinen
aber sind die Ideen, die wichtigsten Kenntnisse und die Vildungsmittel immer
das Gemeingut aller: alle nehmen lebhaften Anteil an den öffentlichen Ange¬
legenheiten; werden einer niedern Schicht politische Rechte vorenthalten, so
sucht sie solche zu erringen, und nie erstirbt auch in den untersten Schichten
das Streben, emporzukommen und an den geistigen und materiellen Gütern
der obern teilzunehmen. So hat bei uus das Leben immer ausgesehen, und
dieses immerwährende Emporstreben und diese Kämpfe bilden den Hauptinhalt
der Weltgeschichte. Im Osten, in Rußland wenigstens, ist es nicht so; das
geistige Leben bleibt auf die obersten Schichten der Bevölkerung beschränkt, die
ungeheure träge Masse wird von Ideen wenig bewegt, versteht nicht, was in
den Köpfen der Studirten vorgeht und nimmt daher auch an deren politischen
Bestrebungen keinen Anteil, sondern empört sich nur zuweilen gegen augen¬
blicklich empfundnen Druck, ohne klare politische Ziele im Auge zu haben und
diese planmäßig zu verfolgen. Eben deswegen müssen die revolutionären Be¬
strebungen der studirten Russen meteorartig vorübergehen; sie können die Masse
nicht ergreifen und können nicht zu Parteibildungen führen, in denen das
g"nze Volk thätig wird, wie bei uns. Man wird dasselbe von allen andern
geistigen Bestrebungen sagen dürfen; wenn von Leistungen der russischen Kunst
und Wissenschaft die Rede ist, darf man nie vergessen, daß diese vereinzelten
Leistungen noch lange kein Beweis für die höhere Kultur Rußlands sind; so
zahlreich sie sein mögen, ihre Gesamtzahl verschwindet gegenüber einer Seelen-
ncchl von hundert Millionen. „Weder die russischen Sozialisten, schreibt
Plechanow, mit ihrer Unzahl von Fraktionen und Richtungen, noch die legale
russische Kritik und Publizistik haben einen einzigen Schritt vorwärts gethan,
seitdem Tscheruischewskys litterarische Thätigkeit aufgehört hat." Und Tscherni-
schewskh selbst dachte sehr gering von dem Bildungsstande und von den
Fähigkeiten seiner Landsleute. „Er stellte die russische Litteratur zu niedrig,
um einen hervorragenden Platz in derselben als ehrenvoll zu betrachten." Man
uuiß lachen, wenn die Slawophilen die Russen als ein junges, „frisches"
Volk dem „abgelebten" Westen gegenüberstellen. Gerade die Frische ist es, die
ihnen fehlt. Wirken doch alle russischen Romane durch die Schlappheit und
Kraftlosigkeit der darin auftretenden Personen niederdrückend, lähmend, pein-


Grenzbotm II 1396 20
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[0161] Der russische Sozialismus des Senats gemordet worden, schreibt Plechanow, ob er auch leiblich gestorben ist, ist aus dem Buche nicht zu ersehen. Der wesentliche Unterschied der europäischen Kultur von dem Zustande der asiatischen Despotien, zu denen Rußland bis auf den heutigen Tag gehört, besteht darin, daß in Europa, vom alten Hellas anzufangen, die Kultur immer vom ganzen Volke getragen worden ist, abgerechnet solche Perioden, wie sie jedes europäische Volk von Zeit zu Zeit durchmacht, wo entweder eine zu rasche Volksvermehrung oder ein zu rascher Fortschritt der Erkenntnis in den obern Schichten den untern das Nachkommen schwer macht. Im allgemeinen aber sind die Ideen, die wichtigsten Kenntnisse und die Vildungsmittel immer das Gemeingut aller: alle nehmen lebhaften Anteil an den öffentlichen Ange¬ legenheiten; werden einer niedern Schicht politische Rechte vorenthalten, so sucht sie solche zu erringen, und nie erstirbt auch in den untersten Schichten das Streben, emporzukommen und an den geistigen und materiellen Gütern der obern teilzunehmen. So hat bei uus das Leben immer ausgesehen, und dieses immerwährende Emporstreben und diese Kämpfe bilden den Hauptinhalt der Weltgeschichte. Im Osten, in Rußland wenigstens, ist es nicht so; das geistige Leben bleibt auf die obersten Schichten der Bevölkerung beschränkt, die ungeheure träge Masse wird von Ideen wenig bewegt, versteht nicht, was in den Köpfen der Studirten vorgeht und nimmt daher auch an deren politischen Bestrebungen keinen Anteil, sondern empört sich nur zuweilen gegen augen¬ blicklich empfundnen Druck, ohne klare politische Ziele im Auge zu haben und diese planmäßig zu verfolgen. Eben deswegen müssen die revolutionären Be¬ strebungen der studirten Russen meteorartig vorübergehen; sie können die Masse nicht ergreifen und können nicht zu Parteibildungen führen, in denen das g"nze Volk thätig wird, wie bei uns. Man wird dasselbe von allen andern geistigen Bestrebungen sagen dürfen; wenn von Leistungen der russischen Kunst und Wissenschaft die Rede ist, darf man nie vergessen, daß diese vereinzelten Leistungen noch lange kein Beweis für die höhere Kultur Rußlands sind; so zahlreich sie sein mögen, ihre Gesamtzahl verschwindet gegenüber einer Seelen- ncchl von hundert Millionen. „Weder die russischen Sozialisten, schreibt Plechanow, mit ihrer Unzahl von Fraktionen und Richtungen, noch die legale russische Kritik und Publizistik haben einen einzigen Schritt vorwärts gethan, seitdem Tscheruischewskys litterarische Thätigkeit aufgehört hat." Und Tscherni- schewskh selbst dachte sehr gering von dem Bildungsstande und von den Fähigkeiten seiner Landsleute. „Er stellte die russische Litteratur zu niedrig, um einen hervorragenden Platz in derselben als ehrenvoll zu betrachten." Man uuiß lachen, wenn die Slawophilen die Russen als ein junges, „frisches" Volk dem „abgelebten" Westen gegenüberstellen. Gerade die Frische ist es, die ihnen fehlt. Wirken doch alle russischen Romane durch die Schlappheit und Kraftlosigkeit der darin auftretenden Personen niederdrückend, lähmend, pein- Grenzbotm II 1396 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/161>, abgerufen am 22.07.2024.