Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der russische Sozialismus

freien Verfügung. Er sucht auch das Bedürfnis mit dem bestehenden Recht
in Einklang zu bringen, indem er eine Bauernbank sür innere Kolonisation ge¬
gründet hat. Der Mir beginnt sich aufzulösen, nachdem die Emanzipation den
Bauern eine größere Bewegungsfreiheit verschafft hat; die tüchtigem Land¬
wirte sehen natürlich in der Abhängigkeit von der Gemeinde eine Fessel, die
sie an der Verbesserung ihrer Wirtschaft hindert.

Tschernischewsky, der doch ein leidenschaftlicher Sapadnik war und die
Redensart der Slawophilen vom faulen Westen verhöhnte, schwärmte ebenfalls
eine Zeit lang für den Mir. Auch er sah darin ein Mittel, die Entstehung
eines Proletariats zu verhindern, und außerdem glaubte er den Gemeinbesitz
durch die Hegelsche Dialektik gerechtfertigt; da nämlich die Synthesis eine
Rückkehr zur Thesis ist, die dritte Entwicklungsstufe die erste in sich aufnimmt,
so muß auch der (vermeintlich) ursprüngliche Agrarkommunismus wieder auf¬
leben; und was schadet es, dachte er, wenn wir hier in Nußland die zweite
Stufe, das Privateigentum an Grund und Boden, überspringen? Doch dauerte
seine Begeisterung für den Mir und für die Bauernbewegung nicht lange.
Sehr bald wurde er mit dem Gange der Dinge unzufrieden. Er beklagte es
als ein Unglück, daß die Reform die Revolution vereitle, die er für unbedingt
notwendig hielt, und der polnische Aufstand brachte auch ihn, der er gleich
Herzen mit den Polen sympathisirte, zu Fall. Die Slawophilen benutzten die
Gelegenheit, eine nationale Erregung hervorzurufen, und das gedankenlose
Publikum lief einfach aus dem Lager Herzens in das Kcitkows über. Tscherni-
schewsky bot durch seine leidenschaftliche Sprache und durch Verbreitung von
Flugschriften der Negierung Handhaben, sein Blatt wurde unterdrückt und er
selbst verhaftet, auf Grund eines gefälschten Briefes Herzens, wie Plechanow
behauptet. Im Gefängnis schrieb er den Roman "Was thun," der aufs neue
den Zorn der konservativen Kreise erregte, weil darin die Ehe angegriffen
wird. Auch Herzen verteidigte die freie Liebe und machte es Proudhon, dessen
soziale und volkswirtschaftliche Ansichten er teilte, zum Vorwurf, daß er an
der Einehe in ihrer strengsten Form festhielt. Tschernischewsky wurde 1864
zu vierzehnjähriger Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken und nach-
herigen lebenslänglichem Aufenthalt in Sibirien verurteilt. Die Vollstreckung
des Urteils begann am 13. Juni mit der Verlesung des Urteils auf dem
Mhstinskhplatz, wo der Verurteilte an den Pranger gestellt war und die Zer-
brechung des Degens und die feierliche Fesselung über sich ergehen lassen
mußte. Ein Blumenstrauß fiel auf das Schafott, und Äußerungen der Sym¬
pathie für den Verurteilten wurden laut. Nach siebenjähriger Zwangsarbeit
wurde er in Wiljuisk im Regierungsbezirk Jakutsk angesiedelt, und 1884 er¬
laubte man ihm. sich in Astrachan niederzulassen. Er kam an Geist und
Körper gebrochen dahin, arbeitete zwar noch fleißig, brachte aber nichts be¬
deutendes mehr zu stände. Der alte Tschernischewsky sei durch das Urteil


Der russische Sozialismus

freien Verfügung. Er sucht auch das Bedürfnis mit dem bestehenden Recht
in Einklang zu bringen, indem er eine Bauernbank sür innere Kolonisation ge¬
gründet hat. Der Mir beginnt sich aufzulösen, nachdem die Emanzipation den
Bauern eine größere Bewegungsfreiheit verschafft hat; die tüchtigem Land¬
wirte sehen natürlich in der Abhängigkeit von der Gemeinde eine Fessel, die
sie an der Verbesserung ihrer Wirtschaft hindert.

Tschernischewsky, der doch ein leidenschaftlicher Sapadnik war und die
Redensart der Slawophilen vom faulen Westen verhöhnte, schwärmte ebenfalls
eine Zeit lang für den Mir. Auch er sah darin ein Mittel, die Entstehung
eines Proletariats zu verhindern, und außerdem glaubte er den Gemeinbesitz
durch die Hegelsche Dialektik gerechtfertigt; da nämlich die Synthesis eine
Rückkehr zur Thesis ist, die dritte Entwicklungsstufe die erste in sich aufnimmt,
so muß auch der (vermeintlich) ursprüngliche Agrarkommunismus wieder auf¬
leben; und was schadet es, dachte er, wenn wir hier in Nußland die zweite
Stufe, das Privateigentum an Grund und Boden, überspringen? Doch dauerte
seine Begeisterung für den Mir und für die Bauernbewegung nicht lange.
Sehr bald wurde er mit dem Gange der Dinge unzufrieden. Er beklagte es
als ein Unglück, daß die Reform die Revolution vereitle, die er für unbedingt
notwendig hielt, und der polnische Aufstand brachte auch ihn, der er gleich
Herzen mit den Polen sympathisirte, zu Fall. Die Slawophilen benutzten die
Gelegenheit, eine nationale Erregung hervorzurufen, und das gedankenlose
Publikum lief einfach aus dem Lager Herzens in das Kcitkows über. Tscherni-
schewsky bot durch seine leidenschaftliche Sprache und durch Verbreitung von
Flugschriften der Negierung Handhaben, sein Blatt wurde unterdrückt und er
selbst verhaftet, auf Grund eines gefälschten Briefes Herzens, wie Plechanow
behauptet. Im Gefängnis schrieb er den Roman „Was thun," der aufs neue
den Zorn der konservativen Kreise erregte, weil darin die Ehe angegriffen
wird. Auch Herzen verteidigte die freie Liebe und machte es Proudhon, dessen
soziale und volkswirtschaftliche Ansichten er teilte, zum Vorwurf, daß er an
der Einehe in ihrer strengsten Form festhielt. Tschernischewsky wurde 1864
zu vierzehnjähriger Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken und nach-
herigen lebenslänglichem Aufenthalt in Sibirien verurteilt. Die Vollstreckung
des Urteils begann am 13. Juni mit der Verlesung des Urteils auf dem
Mhstinskhplatz, wo der Verurteilte an den Pranger gestellt war und die Zer-
brechung des Degens und die feierliche Fesselung über sich ergehen lassen
mußte. Ein Blumenstrauß fiel auf das Schafott, und Äußerungen der Sym¬
pathie für den Verurteilten wurden laut. Nach siebenjähriger Zwangsarbeit
wurde er in Wiljuisk im Regierungsbezirk Jakutsk angesiedelt, und 1884 er¬
laubte man ihm. sich in Astrachan niederzulassen. Er kam an Geist und
Körper gebrochen dahin, arbeitete zwar noch fleißig, brachte aber nichts be¬
deutendes mehr zu stände. Der alte Tschernischewsky sei durch das Urteil


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0160" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222464"/>
          <fw type="header" place="top"> Der russische Sozialismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_448" prev="#ID_447"> freien Verfügung. Er sucht auch das Bedürfnis mit dem bestehenden Recht<lb/>
in Einklang zu bringen, indem er eine Bauernbank sür innere Kolonisation ge¬<lb/>
gründet hat. Der Mir beginnt sich aufzulösen, nachdem die Emanzipation den<lb/>
Bauern eine größere Bewegungsfreiheit verschafft hat; die tüchtigem Land¬<lb/>
wirte sehen natürlich in der Abhängigkeit von der Gemeinde eine Fessel, die<lb/>
sie an der Verbesserung ihrer Wirtschaft hindert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_449" next="#ID_450"> Tschernischewsky, der doch ein leidenschaftlicher Sapadnik war und die<lb/>
Redensart der Slawophilen vom faulen Westen verhöhnte, schwärmte ebenfalls<lb/>
eine Zeit lang für den Mir. Auch er sah darin ein Mittel, die Entstehung<lb/>
eines Proletariats zu verhindern, und außerdem glaubte er den Gemeinbesitz<lb/>
durch die Hegelsche Dialektik gerechtfertigt; da nämlich die Synthesis eine<lb/>
Rückkehr zur Thesis ist, die dritte Entwicklungsstufe die erste in sich aufnimmt,<lb/>
so muß auch der (vermeintlich) ursprüngliche Agrarkommunismus wieder auf¬<lb/>
leben; und was schadet es, dachte er, wenn wir hier in Nußland die zweite<lb/>
Stufe, das Privateigentum an Grund und Boden, überspringen? Doch dauerte<lb/>
seine Begeisterung für den Mir und für die Bauernbewegung nicht lange.<lb/>
Sehr bald wurde er mit dem Gange der Dinge unzufrieden. Er beklagte es<lb/>
als ein Unglück, daß die Reform die Revolution vereitle, die er für unbedingt<lb/>
notwendig hielt, und der polnische Aufstand brachte auch ihn, der er gleich<lb/>
Herzen mit den Polen sympathisirte, zu Fall. Die Slawophilen benutzten die<lb/>
Gelegenheit, eine nationale Erregung hervorzurufen, und das gedankenlose<lb/>
Publikum lief einfach aus dem Lager Herzens in das Kcitkows über. Tscherni-<lb/>
schewsky bot durch seine leidenschaftliche Sprache und durch Verbreitung von<lb/>
Flugschriften der Negierung Handhaben, sein Blatt wurde unterdrückt und er<lb/>
selbst verhaftet, auf Grund eines gefälschten Briefes Herzens, wie Plechanow<lb/>
behauptet. Im Gefängnis schrieb er den Roman &#x201E;Was thun," der aufs neue<lb/>
den Zorn der konservativen Kreise erregte, weil darin die Ehe angegriffen<lb/>
wird. Auch Herzen verteidigte die freie Liebe und machte es Proudhon, dessen<lb/>
soziale und volkswirtschaftliche Ansichten er teilte, zum Vorwurf, daß er an<lb/>
der Einehe in ihrer strengsten Form festhielt. Tschernischewsky wurde 1864<lb/>
zu vierzehnjähriger Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken und nach-<lb/>
herigen lebenslänglichem Aufenthalt in Sibirien verurteilt. Die Vollstreckung<lb/>
des Urteils begann am 13. Juni mit der Verlesung des Urteils auf dem<lb/>
Mhstinskhplatz, wo der Verurteilte an den Pranger gestellt war und die Zer-<lb/>
brechung des Degens und die feierliche Fesselung über sich ergehen lassen<lb/>
mußte. Ein Blumenstrauß fiel auf das Schafott, und Äußerungen der Sym¬<lb/>
pathie für den Verurteilten wurden laut. Nach siebenjähriger Zwangsarbeit<lb/>
wurde er in Wiljuisk im Regierungsbezirk Jakutsk angesiedelt, und 1884 er¬<lb/>
laubte man ihm. sich in Astrachan niederzulassen. Er kam an Geist und<lb/>
Körper gebrochen dahin, arbeitete zwar noch fleißig, brachte aber nichts be¬<lb/>
deutendes mehr zu stände.  Der alte Tschernischewsky sei durch das Urteil</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0160] Der russische Sozialismus freien Verfügung. Er sucht auch das Bedürfnis mit dem bestehenden Recht in Einklang zu bringen, indem er eine Bauernbank sür innere Kolonisation ge¬ gründet hat. Der Mir beginnt sich aufzulösen, nachdem die Emanzipation den Bauern eine größere Bewegungsfreiheit verschafft hat; die tüchtigem Land¬ wirte sehen natürlich in der Abhängigkeit von der Gemeinde eine Fessel, die sie an der Verbesserung ihrer Wirtschaft hindert. Tschernischewsky, der doch ein leidenschaftlicher Sapadnik war und die Redensart der Slawophilen vom faulen Westen verhöhnte, schwärmte ebenfalls eine Zeit lang für den Mir. Auch er sah darin ein Mittel, die Entstehung eines Proletariats zu verhindern, und außerdem glaubte er den Gemeinbesitz durch die Hegelsche Dialektik gerechtfertigt; da nämlich die Synthesis eine Rückkehr zur Thesis ist, die dritte Entwicklungsstufe die erste in sich aufnimmt, so muß auch der (vermeintlich) ursprüngliche Agrarkommunismus wieder auf¬ leben; und was schadet es, dachte er, wenn wir hier in Nußland die zweite Stufe, das Privateigentum an Grund und Boden, überspringen? Doch dauerte seine Begeisterung für den Mir und für die Bauernbewegung nicht lange. Sehr bald wurde er mit dem Gange der Dinge unzufrieden. Er beklagte es als ein Unglück, daß die Reform die Revolution vereitle, die er für unbedingt notwendig hielt, und der polnische Aufstand brachte auch ihn, der er gleich Herzen mit den Polen sympathisirte, zu Fall. Die Slawophilen benutzten die Gelegenheit, eine nationale Erregung hervorzurufen, und das gedankenlose Publikum lief einfach aus dem Lager Herzens in das Kcitkows über. Tscherni- schewsky bot durch seine leidenschaftliche Sprache und durch Verbreitung von Flugschriften der Negierung Handhaben, sein Blatt wurde unterdrückt und er selbst verhaftet, auf Grund eines gefälschten Briefes Herzens, wie Plechanow behauptet. Im Gefängnis schrieb er den Roman „Was thun," der aufs neue den Zorn der konservativen Kreise erregte, weil darin die Ehe angegriffen wird. Auch Herzen verteidigte die freie Liebe und machte es Proudhon, dessen soziale und volkswirtschaftliche Ansichten er teilte, zum Vorwurf, daß er an der Einehe in ihrer strengsten Form festhielt. Tschernischewsky wurde 1864 zu vierzehnjähriger Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken und nach- herigen lebenslänglichem Aufenthalt in Sibirien verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils begann am 13. Juni mit der Verlesung des Urteils auf dem Mhstinskhplatz, wo der Verurteilte an den Pranger gestellt war und die Zer- brechung des Degens und die feierliche Fesselung über sich ergehen lassen mußte. Ein Blumenstrauß fiel auf das Schafott, und Äußerungen der Sym¬ pathie für den Verurteilten wurden laut. Nach siebenjähriger Zwangsarbeit wurde er in Wiljuisk im Regierungsbezirk Jakutsk angesiedelt, und 1884 er¬ laubte man ihm. sich in Astrachan niederzulassen. Er kam an Geist und Körper gebrochen dahin, arbeitete zwar noch fleißig, brachte aber nichts be¬ deutendes mehr zu stände. Der alte Tschernischewsky sei durch das Urteil

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/160
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/160>, abgerufen am 22.07.2024.