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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

lich. Auch Tschernischewsky bemerkte das ein den Helden Turgenjews, und das
war es wohl, was ihn veranlaßte, zu behaupten, die russischen Knaben würden
allerdings, wenn sie am Leben bleiben, erwachsene Menschen männlichen Ge¬
schlechts, aber Männer würden sie niemals. Vielleicht, wenn alle Illusionen
der Pcmslawisten verflogen sein werden, sprechen die Russen noch einmal zu
einem Nachbarvolke, wie nach Nestors Chronik ihre Vorfahren zu den skandi¬
navischen Warägern gesprochen haben sollen: Unser Land ist groß und fruchtbar,
aber es ist keine Ordnung darin, kommt und herrscht über uns!

Die Lebensgeschichte Tschernischewskys bildet nur die kleinere Hälfte von
Plechanows Buche; die größere ist einer Kritik des Hauptwerkes des Helden
gewidmet: einer mit kritischen Anmerkungen versöhnen Übersetzung von John
Stuart Mills Grundsätzen der politischen Ökonomie. Diese Arbeit Plechanows
ist deswegen sehr beachtenswert, weil in seiner Kritik des utopistischen Sozia¬
lismus -- er charcckterisirt Tschernischewsky als einen Utopisten, wenn auch
als einen sehr kritischen und besonnenen -- ganz deutlich hervortritt, in welchen
Stücken auch der "wissenschaftliche Sozinlismus," den er selbst als orthodoxer
Marxist vertritt, noch utopistisch ist. Wir wollen die zwei Hauptpunkte her¬
vorheben.

Die bürgerliche Ökonomie, führt er aus, sei anfänglich, bis auf Ricardo,
ehrlich und konsequent, daher wirklich wissenschaftlich gewesen, weil sie, die
Relativität der wirtschaftlichen Naturgesetze verkennend, an die Unerschütterlich¬
keit der auf Naturgesetzen beruhenden bestehenden Wirtschaftsordnung glaubte.
Als nun die Sozialisten zu zeigen anfingen, daß die in der kapitalistischen
Periode geltenden Naturgesetze keineswegs die wirtschaftlichen Gesetze überhaupt
seien, und daß in andern Perioden andre Gesetze gegolten hätten und gelten
konnten, als die Arbeiterbewegung die bestehende Ordnung ins Schwanken zu
bringen drohte, da wurden die bürgerlichen Ökonomen teils unehrlich, teils
ängstlich; die unehrlichen, wie Malthus, falschem die Thatsachen, die ängst¬
lichen, wie Röscher, verlegten sich auf die "historische Methode," d. h. sie be¬
schränkten sich ans das unkritische Anhäufen von Thatsachen und überließen
den Gedankenfortschritt den Sozialisten. Diese, d. h. Marx und Engels, haben
die beiden Aufgaben gelöst, die Smith und Ricardo zu lösen übrig gelassen
hatten, nämlich erstens die Lücken des alten Systems auszufüllen und zweitens
zu einer richtigen, wissenschaftlichen Auffassung der gesamten Wirtschaftsgeschichte
der Menschheit und folglich auch der geschichtlichen Rolle der kapitalistischen
Wirtschaft vorzudringen. Diese wissenschaftliche Auffassung besteht in der Er¬
kenntnis, daß die jeweilige Wirtschaftsordnung auf der Stufe der Produktivität
der Arbeit beruht, die man eben erreicht hat, und mit Notwendigkeit aus der
Produktionsweise hervorgeht. Um zu Produziren, treten die Menschen in be¬
stimmte Beziehungen und Verhältnisse zu einander, die Art und Gestalt dieser
Verhältnisse aber hängt ganz und gar nicht von ihrem Willen, sondern von


Der russische Sozialismus

lich. Auch Tschernischewsky bemerkte das ein den Helden Turgenjews, und das
war es wohl, was ihn veranlaßte, zu behaupten, die russischen Knaben würden
allerdings, wenn sie am Leben bleiben, erwachsene Menschen männlichen Ge¬
schlechts, aber Männer würden sie niemals. Vielleicht, wenn alle Illusionen
der Pcmslawisten verflogen sein werden, sprechen die Russen noch einmal zu
einem Nachbarvolke, wie nach Nestors Chronik ihre Vorfahren zu den skandi¬
navischen Warägern gesprochen haben sollen: Unser Land ist groß und fruchtbar,
aber es ist keine Ordnung darin, kommt und herrscht über uns!

Die Lebensgeschichte Tschernischewskys bildet nur die kleinere Hälfte von
Plechanows Buche; die größere ist einer Kritik des Hauptwerkes des Helden
gewidmet: einer mit kritischen Anmerkungen versöhnen Übersetzung von John
Stuart Mills Grundsätzen der politischen Ökonomie. Diese Arbeit Plechanows
ist deswegen sehr beachtenswert, weil in seiner Kritik des utopistischen Sozia¬
lismus — er charcckterisirt Tschernischewsky als einen Utopisten, wenn auch
als einen sehr kritischen und besonnenen — ganz deutlich hervortritt, in welchen
Stücken auch der „wissenschaftliche Sozinlismus," den er selbst als orthodoxer
Marxist vertritt, noch utopistisch ist. Wir wollen die zwei Hauptpunkte her¬
vorheben.

Die bürgerliche Ökonomie, führt er aus, sei anfänglich, bis auf Ricardo,
ehrlich und konsequent, daher wirklich wissenschaftlich gewesen, weil sie, die
Relativität der wirtschaftlichen Naturgesetze verkennend, an die Unerschütterlich¬
keit der auf Naturgesetzen beruhenden bestehenden Wirtschaftsordnung glaubte.
Als nun die Sozialisten zu zeigen anfingen, daß die in der kapitalistischen
Periode geltenden Naturgesetze keineswegs die wirtschaftlichen Gesetze überhaupt
seien, und daß in andern Perioden andre Gesetze gegolten hätten und gelten
konnten, als die Arbeiterbewegung die bestehende Ordnung ins Schwanken zu
bringen drohte, da wurden die bürgerlichen Ökonomen teils unehrlich, teils
ängstlich; die unehrlichen, wie Malthus, falschem die Thatsachen, die ängst¬
lichen, wie Röscher, verlegten sich auf die „historische Methode," d. h. sie be¬
schränkten sich ans das unkritische Anhäufen von Thatsachen und überließen
den Gedankenfortschritt den Sozialisten. Diese, d. h. Marx und Engels, haben
die beiden Aufgaben gelöst, die Smith und Ricardo zu lösen übrig gelassen
hatten, nämlich erstens die Lücken des alten Systems auszufüllen und zweitens
zu einer richtigen, wissenschaftlichen Auffassung der gesamten Wirtschaftsgeschichte
der Menschheit und folglich auch der geschichtlichen Rolle der kapitalistischen
Wirtschaft vorzudringen. Diese wissenschaftliche Auffassung besteht in der Er¬
kenntnis, daß die jeweilige Wirtschaftsordnung auf der Stufe der Produktivität
der Arbeit beruht, die man eben erreicht hat, und mit Notwendigkeit aus der
Produktionsweise hervorgeht. Um zu Produziren, treten die Menschen in be¬
stimmte Beziehungen und Verhältnisse zu einander, die Art und Gestalt dieser
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[0162] Der russische Sozialismus lich. Auch Tschernischewsky bemerkte das ein den Helden Turgenjews, und das war es wohl, was ihn veranlaßte, zu behaupten, die russischen Knaben würden allerdings, wenn sie am Leben bleiben, erwachsene Menschen männlichen Ge¬ schlechts, aber Männer würden sie niemals. Vielleicht, wenn alle Illusionen der Pcmslawisten verflogen sein werden, sprechen die Russen noch einmal zu einem Nachbarvolke, wie nach Nestors Chronik ihre Vorfahren zu den skandi¬ navischen Warägern gesprochen haben sollen: Unser Land ist groß und fruchtbar, aber es ist keine Ordnung darin, kommt und herrscht über uns! Die Lebensgeschichte Tschernischewskys bildet nur die kleinere Hälfte von Plechanows Buche; die größere ist einer Kritik des Hauptwerkes des Helden gewidmet: einer mit kritischen Anmerkungen versöhnen Übersetzung von John Stuart Mills Grundsätzen der politischen Ökonomie. Diese Arbeit Plechanows ist deswegen sehr beachtenswert, weil in seiner Kritik des utopistischen Sozia¬ lismus — er charcckterisirt Tschernischewsky als einen Utopisten, wenn auch als einen sehr kritischen und besonnenen — ganz deutlich hervortritt, in welchen Stücken auch der „wissenschaftliche Sozinlismus," den er selbst als orthodoxer Marxist vertritt, noch utopistisch ist. Wir wollen die zwei Hauptpunkte her¬ vorheben. Die bürgerliche Ökonomie, führt er aus, sei anfänglich, bis auf Ricardo, ehrlich und konsequent, daher wirklich wissenschaftlich gewesen, weil sie, die Relativität der wirtschaftlichen Naturgesetze verkennend, an die Unerschütterlich¬ keit der auf Naturgesetzen beruhenden bestehenden Wirtschaftsordnung glaubte. Als nun die Sozialisten zu zeigen anfingen, daß die in der kapitalistischen Periode geltenden Naturgesetze keineswegs die wirtschaftlichen Gesetze überhaupt seien, und daß in andern Perioden andre Gesetze gegolten hätten und gelten konnten, als die Arbeiterbewegung die bestehende Ordnung ins Schwanken zu bringen drohte, da wurden die bürgerlichen Ökonomen teils unehrlich, teils ängstlich; die unehrlichen, wie Malthus, falschem die Thatsachen, die ängst¬ lichen, wie Röscher, verlegten sich auf die „historische Methode," d. h. sie be¬ schränkten sich ans das unkritische Anhäufen von Thatsachen und überließen den Gedankenfortschritt den Sozialisten. Diese, d. h. Marx und Engels, haben die beiden Aufgaben gelöst, die Smith und Ricardo zu lösen übrig gelassen hatten, nämlich erstens die Lücken des alten Systems auszufüllen und zweitens zu einer richtigen, wissenschaftlichen Auffassung der gesamten Wirtschaftsgeschichte der Menschheit und folglich auch der geschichtlichen Rolle der kapitalistischen Wirtschaft vorzudringen. Diese wissenschaftliche Auffassung besteht in der Er¬ kenntnis, daß die jeweilige Wirtschaftsordnung auf der Stufe der Produktivität der Arbeit beruht, die man eben erreicht hat, und mit Notwendigkeit aus der Produktionsweise hervorgeht. Um zu Produziren, treten die Menschen in be¬ stimmte Beziehungen und Verhältnisse zu einander, die Art und Gestalt dieser Verhältnisse aber hängt ganz und gar nicht von ihrem Willen, sondern von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/162>, abgerufen am 22.07.2024.