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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ver russische Sozialismus

kommunistischen Einrichtungen bewahrt, sei aber der Erstarrung verfallen. Der
Westen habe sich ganz und gar dem Individualismus ergeben. Die dazwischen
wohnenden Slawen hätten sich den Kommunismus bewahrt, seien aber ent¬
wicklungsfähig geblieben. Es gelte uun, ihnen das erforderliche Maß indi¬
vidueller Freiheit zu verschaffen, so könnten sie die Führer werden auf dem
Wege zum Jdealzustande: dnrch eine Zentralbehörde für gemeinsame Ange¬
legenheiten verbundne nationale Gruppen kommunaler Republiken. Auch die
Verfassung des russischen Handels fand er ganz ausgezeichnet für diesen Zweck,
daß nämlich der Warenaustausch vorzugsweise auf Jahrmärkten erfolge (was
in einem geringern Umfange der Fall ist, als er es sich dachte), und daß die
Kaufleute ihre Waren den Konsumenten an Ort und Stelle brächten; denn
Großstädte als feste Mittelpunkte des Verkehrs zögen alles an sich und ent¬
völkerten das Land. Er rühmte die versittlichende Wirkuug der russischen Ge¬
meindeverfassung und sah ihren hauptsächlichsten sozialen Nutzen darin, daß sie
jedem ein Recht auf Land verleihe und so kein Proletariat aufkommen lasse.
Auch auf die Urteile berief er sich, in denen die Russen ihre Befähigung für
das Genosfenschaftsleben noch weiter bewiesen.

Wissenschaft und Erfahrung haben diese slawophilen Vorstellungen vielfach
berichtigt und die auf den Mir gesetzten Erwartungen herabgestimmt. Der
Kommunismus (siehe Keußlers Artikel "Mir" im vierten Bande des Hand¬
wörterbuchs) ist bei den Slawen keineswegs das ursprüngliche, wenigstens nicht
das älteste in der geschichtlichen Zeit. Die slawischen Markgenossenschaften haben
sich in nichts von den germanischen unterschieden und die Zuteilung vererb-
bnrer Hufen an die einzelnen Familien nicht ausgeschlossen. Die heutige Form
des russischen Gemeinbesitzes mit den häufigen Neuverteilungen ist keineswegs
aus der südslawischen Sadruga (Familiengemeinschaft) entstanden, die übrigens
auch bei den Serben nicht die einzige bäuerliche Lebensform ist, sondern eine
ziemlich junge Kunstschöpfung der Vüreaukratie. Nach Einführung der Leib¬
eigenschaft fanden es sowohl die Staatsbeamten wie die Gutsherren bequem,
sich bei Eintreibung der Steuern und bei der Forderung der Frvhnden an die
Gemeindevorsteher zu halten, statt an jeden einzelnen Bauer, und so erzWangen
sie die Solidarhaft, die wiederum das Recht auf Land, also die neue Vertei¬
lung beim Wachsen der Familie erzwang; denn die Beamten setzten die zu
zahlenden Beträge nach der Zahl der ..Steuerseelen" fest, und wenn die Steuer¬
seele zahlen sollte, so mußte sie Land haben. In älterer Zeit hatte kein Recht
auf Land bestanden, war freilich auch keins nötig gewesen, denn wo man die
Sache hat, braucht mau kein Recht darauf; ebenso wie in Germanien, hatten
die überschüssigen jungen Bauern durch Besiedlung von Urlaub neue Ge¬
meinden gegründet. Übrigens ist nicht Landmangel, sondern nur das neuere
Recht daran schuld, daß man nicht bei dieser Praxis geblieben ist. Der Staat
hat allem im europäischen Nußland noch über 151 Millionen Desfätinen zur


Ver russische Sozialismus

kommunistischen Einrichtungen bewahrt, sei aber der Erstarrung verfallen. Der
Westen habe sich ganz und gar dem Individualismus ergeben. Die dazwischen
wohnenden Slawen hätten sich den Kommunismus bewahrt, seien aber ent¬
wicklungsfähig geblieben. Es gelte uun, ihnen das erforderliche Maß indi¬
vidueller Freiheit zu verschaffen, so könnten sie die Führer werden auf dem
Wege zum Jdealzustande: dnrch eine Zentralbehörde für gemeinsame Ange¬
legenheiten verbundne nationale Gruppen kommunaler Republiken. Auch die
Verfassung des russischen Handels fand er ganz ausgezeichnet für diesen Zweck,
daß nämlich der Warenaustausch vorzugsweise auf Jahrmärkten erfolge (was
in einem geringern Umfange der Fall ist, als er es sich dachte), und daß die
Kaufleute ihre Waren den Konsumenten an Ort und Stelle brächten; denn
Großstädte als feste Mittelpunkte des Verkehrs zögen alles an sich und ent¬
völkerten das Land. Er rühmte die versittlichende Wirkuug der russischen Ge¬
meindeverfassung und sah ihren hauptsächlichsten sozialen Nutzen darin, daß sie
jedem ein Recht auf Land verleihe und so kein Proletariat aufkommen lasse.
Auch auf die Urteile berief er sich, in denen die Russen ihre Befähigung für
das Genosfenschaftsleben noch weiter bewiesen.

Wissenschaft und Erfahrung haben diese slawophilen Vorstellungen vielfach
berichtigt und die auf den Mir gesetzten Erwartungen herabgestimmt. Der
Kommunismus (siehe Keußlers Artikel „Mir" im vierten Bande des Hand¬
wörterbuchs) ist bei den Slawen keineswegs das ursprüngliche, wenigstens nicht
das älteste in der geschichtlichen Zeit. Die slawischen Markgenossenschaften haben
sich in nichts von den germanischen unterschieden und die Zuteilung vererb-
bnrer Hufen an die einzelnen Familien nicht ausgeschlossen. Die heutige Form
des russischen Gemeinbesitzes mit den häufigen Neuverteilungen ist keineswegs
aus der südslawischen Sadruga (Familiengemeinschaft) entstanden, die übrigens
auch bei den Serben nicht die einzige bäuerliche Lebensform ist, sondern eine
ziemlich junge Kunstschöpfung der Vüreaukratie. Nach Einführung der Leib¬
eigenschaft fanden es sowohl die Staatsbeamten wie die Gutsherren bequem,
sich bei Eintreibung der Steuern und bei der Forderung der Frvhnden an die
Gemeindevorsteher zu halten, statt an jeden einzelnen Bauer, und so erzWangen
sie die Solidarhaft, die wiederum das Recht auf Land, also die neue Vertei¬
lung beim Wachsen der Familie erzwang; denn die Beamten setzten die zu
zahlenden Beträge nach der Zahl der ..Steuerseelen" fest, und wenn die Steuer¬
seele zahlen sollte, so mußte sie Land haben. In älterer Zeit hatte kein Recht
auf Land bestanden, war freilich auch keins nötig gewesen, denn wo man die
Sache hat, braucht mau kein Recht darauf; ebenso wie in Germanien, hatten
die überschüssigen jungen Bauern durch Besiedlung von Urlaub neue Ge¬
meinden gegründet. Übrigens ist nicht Landmangel, sondern nur das neuere
Recht daran schuld, daß man nicht bei dieser Praxis geblieben ist. Der Staat
hat allem im europäischen Nußland noch über 151 Millionen Desfätinen zur


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[0159] Ver russische Sozialismus kommunistischen Einrichtungen bewahrt, sei aber der Erstarrung verfallen. Der Westen habe sich ganz und gar dem Individualismus ergeben. Die dazwischen wohnenden Slawen hätten sich den Kommunismus bewahrt, seien aber ent¬ wicklungsfähig geblieben. Es gelte uun, ihnen das erforderliche Maß indi¬ vidueller Freiheit zu verschaffen, so könnten sie die Führer werden auf dem Wege zum Jdealzustande: dnrch eine Zentralbehörde für gemeinsame Ange¬ legenheiten verbundne nationale Gruppen kommunaler Republiken. Auch die Verfassung des russischen Handels fand er ganz ausgezeichnet für diesen Zweck, daß nämlich der Warenaustausch vorzugsweise auf Jahrmärkten erfolge (was in einem geringern Umfange der Fall ist, als er es sich dachte), und daß die Kaufleute ihre Waren den Konsumenten an Ort und Stelle brächten; denn Großstädte als feste Mittelpunkte des Verkehrs zögen alles an sich und ent¬ völkerten das Land. Er rühmte die versittlichende Wirkuug der russischen Ge¬ meindeverfassung und sah ihren hauptsächlichsten sozialen Nutzen darin, daß sie jedem ein Recht auf Land verleihe und so kein Proletariat aufkommen lasse. Auch auf die Urteile berief er sich, in denen die Russen ihre Befähigung für das Genosfenschaftsleben noch weiter bewiesen. Wissenschaft und Erfahrung haben diese slawophilen Vorstellungen vielfach berichtigt und die auf den Mir gesetzten Erwartungen herabgestimmt. Der Kommunismus (siehe Keußlers Artikel „Mir" im vierten Bande des Hand¬ wörterbuchs) ist bei den Slawen keineswegs das ursprüngliche, wenigstens nicht das älteste in der geschichtlichen Zeit. Die slawischen Markgenossenschaften haben sich in nichts von den germanischen unterschieden und die Zuteilung vererb- bnrer Hufen an die einzelnen Familien nicht ausgeschlossen. Die heutige Form des russischen Gemeinbesitzes mit den häufigen Neuverteilungen ist keineswegs aus der südslawischen Sadruga (Familiengemeinschaft) entstanden, die übrigens auch bei den Serben nicht die einzige bäuerliche Lebensform ist, sondern eine ziemlich junge Kunstschöpfung der Vüreaukratie. Nach Einführung der Leib¬ eigenschaft fanden es sowohl die Staatsbeamten wie die Gutsherren bequem, sich bei Eintreibung der Steuern und bei der Forderung der Frvhnden an die Gemeindevorsteher zu halten, statt an jeden einzelnen Bauer, und so erzWangen sie die Solidarhaft, die wiederum das Recht auf Land, also die neue Vertei¬ lung beim Wachsen der Familie erzwang; denn die Beamten setzten die zu zahlenden Beträge nach der Zahl der ..Steuerseelen" fest, und wenn die Steuer¬ seele zahlen sollte, so mußte sie Land haben. In älterer Zeit hatte kein Recht auf Land bestanden, war freilich auch keins nötig gewesen, denn wo man die Sache hat, braucht mau kein Recht darauf; ebenso wie in Germanien, hatten die überschüssigen jungen Bauern durch Besiedlung von Urlaub neue Ge¬ meinden gegründet. Übrigens ist nicht Landmangel, sondern nur das neuere Recht daran schuld, daß man nicht bei dieser Praxis geblieben ist. Der Staat hat allem im europäischen Nußland noch über 151 Millionen Desfätinen zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/159>, abgerufen am 22.07.2024.