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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

bessernng der Lage der Bauern" einzuleiten, im Januar 1361 gelangte der
Emanzipationsentwurf an den Neichsrcit, am 19. Februar desselben Jahres
wurde er vom Kaiser bestätigt und am 5. März verkündet. Mau habe, meint
der Deutschrusse Johann von Keußler im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften (II, 239), das Befreiungswerk verfrüht und radikal genannt, aber "die
Schaffung eiues Rechtszustandes für eine ganze Bevölkeruugsgruppe kaun nie
zu früh erfolgen; radikal war die Neuerung jedenfalls, aber sie mußte es sein,
da sie verspätet eintrat -- die natürliche Folge jeder verspäteten Reform."
Wären nicht alle frühern Reformversuche an dem Widerstande des Adels ge¬
scheitert, so hätte stufenweise vorgegangen werden können. So kam das Er¬
eignis allerdings ganz unvorbereitet, selbst am Vorabend glaubte der Adel uoch
gar nicht an die Möglichkeit. "Es rächte sich denn auch hier die Knebeluug
des gedruckten Wortes." Da wir einmal Kenßler angeführt haben, wollen
wir gleich noch beifügen, wie er über den Erfolg urteilt. Heilsam habe die
Maßregel ohne Zweifel gewirkt, das beweise die gestiegne Steuerkraft, der ge-
stiegne Reichtum des Landes, der gestiegne Bodenwert und der vermehrte
Anbau. Aber wenn man auch den beiden Lagern, die Wehe rufen über das
gegenwärtige Elend Rußlands, dem der adlichen Gegner der Bauernbefreiung
und dem der Revolutionäre, gleich fern stehe, so müsse man doch bekennen,
daß nur bescheidne Erwartungen in Erfüllung gegangen, und daß die Wir¬
kungen der Bauernbefreiung in Rußland hinter denen in Deutschland und
Frankreich weit zurückgeblieben seien. Die Schuld, daß die Maßregel teilweise
erfolglos war, liege einmal daran, daß die Leitung der Ausführung der Eman¬
zipationsgesetze in die Hunde der Gegner der Befreiung geraten sei (die u. a.
die den Bauern gesetzlich zugesprochnen Landanteile zu verkleinern verstanden),
dann an dem Gesamtzustande des russischen Staats und Volks. Weit kräftiger
treten die Wirkungen des Befreiuugswerkes in den baltischen Provinzen hervor,
deren Bauernschaft sich der Leitung und des Beispiels tüchtiger deutscher Ritter¬
gutsbesitzer erfreut, und die übrigens, wie sie von jeher ihr eignes Agrarrecht
gehabt haben, fo auch durch besondre, mit dem großen Emanzipativnswerke
Alexanders nicht zusammenhängende Gesetze die Leibeigenschaft losgeworden sind.

Herzen sah in der Aufhebung der Leibeigenschaft den Anfang der Ver¬
wirklichung seines Ideals: eines aus dem russischen Mir hervorwachsenden,
von der Bevormundung durch die Bureaukratie und den Gutsherrn befreiten
geläuterten Kommunismus. Seitdem Haxthausen den Mir entdeckt und seine
merkwürdige Entdeckung der vornehmen Welt Rußlands, der die Zustünde des
eignen Volks unbekannt gewesen waren, mitgeteilt hatte, schwärmten alle Slawo-
philen für diese nationale Einrichtung, und Herzen sah in ihr die Bestätigung
seiner dem Westen entnommnen sozialistischen Theorie. Das Ziel der sozialen
und politischen Entwicklung, meinte er, sei die Harmonie von Sozialismus
und Individualismus. Der asiatische Osten habe vielfach die ursprünglichen


Der russische Sozialismus

bessernng der Lage der Bauern" einzuleiten, im Januar 1361 gelangte der
Emanzipationsentwurf an den Neichsrcit, am 19. Februar desselben Jahres
wurde er vom Kaiser bestätigt und am 5. März verkündet. Mau habe, meint
der Deutschrusse Johann von Keußler im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften (II, 239), das Befreiungswerk verfrüht und radikal genannt, aber „die
Schaffung eiues Rechtszustandes für eine ganze Bevölkeruugsgruppe kaun nie
zu früh erfolgen; radikal war die Neuerung jedenfalls, aber sie mußte es sein,
da sie verspätet eintrat — die natürliche Folge jeder verspäteten Reform."
Wären nicht alle frühern Reformversuche an dem Widerstande des Adels ge¬
scheitert, so hätte stufenweise vorgegangen werden können. So kam das Er¬
eignis allerdings ganz unvorbereitet, selbst am Vorabend glaubte der Adel uoch
gar nicht an die Möglichkeit. „Es rächte sich denn auch hier die Knebeluug
des gedruckten Wortes." Da wir einmal Kenßler angeführt haben, wollen
wir gleich noch beifügen, wie er über den Erfolg urteilt. Heilsam habe die
Maßregel ohne Zweifel gewirkt, das beweise die gestiegne Steuerkraft, der ge-
stiegne Reichtum des Landes, der gestiegne Bodenwert und der vermehrte
Anbau. Aber wenn man auch den beiden Lagern, die Wehe rufen über das
gegenwärtige Elend Rußlands, dem der adlichen Gegner der Bauernbefreiung
und dem der Revolutionäre, gleich fern stehe, so müsse man doch bekennen,
daß nur bescheidne Erwartungen in Erfüllung gegangen, und daß die Wir¬
kungen der Bauernbefreiung in Rußland hinter denen in Deutschland und
Frankreich weit zurückgeblieben seien. Die Schuld, daß die Maßregel teilweise
erfolglos war, liege einmal daran, daß die Leitung der Ausführung der Eman¬
zipationsgesetze in die Hunde der Gegner der Befreiung geraten sei (die u. a.
die den Bauern gesetzlich zugesprochnen Landanteile zu verkleinern verstanden),
dann an dem Gesamtzustande des russischen Staats und Volks. Weit kräftiger
treten die Wirkungen des Befreiuugswerkes in den baltischen Provinzen hervor,
deren Bauernschaft sich der Leitung und des Beispiels tüchtiger deutscher Ritter¬
gutsbesitzer erfreut, und die übrigens, wie sie von jeher ihr eignes Agrarrecht
gehabt haben, fo auch durch besondre, mit dem großen Emanzipativnswerke
Alexanders nicht zusammenhängende Gesetze die Leibeigenschaft losgeworden sind.

Herzen sah in der Aufhebung der Leibeigenschaft den Anfang der Ver¬
wirklichung seines Ideals: eines aus dem russischen Mir hervorwachsenden,
von der Bevormundung durch die Bureaukratie und den Gutsherrn befreiten
geläuterten Kommunismus. Seitdem Haxthausen den Mir entdeckt und seine
merkwürdige Entdeckung der vornehmen Welt Rußlands, der die Zustünde des
eignen Volks unbekannt gewesen waren, mitgeteilt hatte, schwärmten alle Slawo-
philen für diese nationale Einrichtung, und Herzen sah in ihr die Bestätigung
seiner dem Westen entnommnen sozialistischen Theorie. Das Ziel der sozialen
und politischen Entwicklung, meinte er, sei die Harmonie von Sozialismus
und Individualismus. Der asiatische Osten habe vielfach die ursprünglichen


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[0158] Der russische Sozialismus bessernng der Lage der Bauern" einzuleiten, im Januar 1361 gelangte der Emanzipationsentwurf an den Neichsrcit, am 19. Februar desselben Jahres wurde er vom Kaiser bestätigt und am 5. März verkündet. Mau habe, meint der Deutschrusse Johann von Keußler im Handwörterbuch der Staatswissen- schaften (II, 239), das Befreiungswerk verfrüht und radikal genannt, aber „die Schaffung eiues Rechtszustandes für eine ganze Bevölkeruugsgruppe kaun nie zu früh erfolgen; radikal war die Neuerung jedenfalls, aber sie mußte es sein, da sie verspätet eintrat — die natürliche Folge jeder verspäteten Reform." Wären nicht alle frühern Reformversuche an dem Widerstande des Adels ge¬ scheitert, so hätte stufenweise vorgegangen werden können. So kam das Er¬ eignis allerdings ganz unvorbereitet, selbst am Vorabend glaubte der Adel uoch gar nicht an die Möglichkeit. „Es rächte sich denn auch hier die Knebeluug des gedruckten Wortes." Da wir einmal Kenßler angeführt haben, wollen wir gleich noch beifügen, wie er über den Erfolg urteilt. Heilsam habe die Maßregel ohne Zweifel gewirkt, das beweise die gestiegne Steuerkraft, der ge- stiegne Reichtum des Landes, der gestiegne Bodenwert und der vermehrte Anbau. Aber wenn man auch den beiden Lagern, die Wehe rufen über das gegenwärtige Elend Rußlands, dem der adlichen Gegner der Bauernbefreiung und dem der Revolutionäre, gleich fern stehe, so müsse man doch bekennen, daß nur bescheidne Erwartungen in Erfüllung gegangen, und daß die Wir¬ kungen der Bauernbefreiung in Rußland hinter denen in Deutschland und Frankreich weit zurückgeblieben seien. Die Schuld, daß die Maßregel teilweise erfolglos war, liege einmal daran, daß die Leitung der Ausführung der Eman¬ zipationsgesetze in die Hunde der Gegner der Befreiung geraten sei (die u. a. die den Bauern gesetzlich zugesprochnen Landanteile zu verkleinern verstanden), dann an dem Gesamtzustande des russischen Staats und Volks. Weit kräftiger treten die Wirkungen des Befreiuugswerkes in den baltischen Provinzen hervor, deren Bauernschaft sich der Leitung und des Beispiels tüchtiger deutscher Ritter¬ gutsbesitzer erfreut, und die übrigens, wie sie von jeher ihr eignes Agrarrecht gehabt haben, fo auch durch besondre, mit dem großen Emanzipativnswerke Alexanders nicht zusammenhängende Gesetze die Leibeigenschaft losgeworden sind. Herzen sah in der Aufhebung der Leibeigenschaft den Anfang der Ver¬ wirklichung seines Ideals: eines aus dem russischen Mir hervorwachsenden, von der Bevormundung durch die Bureaukratie und den Gutsherrn befreiten geläuterten Kommunismus. Seitdem Haxthausen den Mir entdeckt und seine merkwürdige Entdeckung der vornehmen Welt Rußlands, der die Zustünde des eignen Volks unbekannt gewesen waren, mitgeteilt hatte, schwärmten alle Slawo- philen für diese nationale Einrichtung, und Herzen sah in ihr die Bestätigung seiner dem Westen entnommnen sozialistischen Theorie. Das Ziel der sozialen und politischen Entwicklung, meinte er, sei die Harmonie von Sozialismus und Individualismus. Der asiatische Osten habe vielfach die ursprünglichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/158>, abgerufen am 22.07.2024.