Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.Der russische Sozialismus und der Reinigung von den Ideen des "faulen Westens" das Heil sahen, die Herzen könnte man einen slawophilen Oceidentalen nennen. Als Sohn Nikolaus Gawrilowitsch Tschernischewskh wurde 1829 als Sohn eines Der russische Sozialismus und der Reinigung von den Ideen des „faulen Westens" das Heil sahen, die Herzen könnte man einen slawophilen Oceidentalen nennen. Als Sohn Nikolaus Gawrilowitsch Tschernischewskh wurde 1829 als Sohn eines <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222459"/> <fw type="header" place="top"> Der russische Sozialismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_438" prev="#ID_437"> und der Reinigung von den Ideen des „faulen Westens" das Heil sahen, die<lb/> Oceidentalen oder Sapadniki dagegen sich ganz mit dem Geiste dieses Westens<lb/> zu durchdringen und Rußland nach dem Muster der liberalen Staaten Europas<lb/> umzugestalten strebten.</p><lb/> <p xml:id="ID_439"> Herzen könnte man einen slawophilen Oceidentalen nennen. Als Sohn<lb/> eines reichen Offiziers geboren, hatte er das Volk zuerst in der Gesindestube<lb/> des väterlichen Hauses liebgewonnen, büßte seine Neformfreundlichkeit mit mehr¬<lb/> jähriger Verbannung, wurde aber durch den Zwaugsaufenthalt im äußerste»<lb/> Osten Rußlands, in Wjatka, in seinem Urteil über die Schlechtigkeit der russischen<lb/> Zustünde nur bestärkt. 1847 verließ er sein Vaterland und sah es niemals<lb/> wieder. Hatte er die vornehme Gesellschaft in Rußland, wo sie ja in der That<lb/> nichts wert ist, gründlich verachten lernen, so flößte ihm in Paris die Bour¬<lb/> geoisie nicht mehr Hochachtung ein. Er fand sie gemein; er fand, daß das<lb/> alte, rohe Rittertum mit seiner Schätzung der Persönlichkeit noch achtungs¬<lb/> würdiger sei, als eine Gesellschaft, in der der Mensch nur noch als Anhängsel<lb/> des Besitzes geschätzt wird. Schon ästhetisch fühlte er sich von der äußern<lb/> Erscheinung der Geschäftswelt, von ihren nüchternen Häusern so angewidert,<lb/> daß er ins Faubourg Se. Germain übersiedelte. So lag es nahe, daß er sich<lb/> den französischen Sozialisten anschloß, sein Leben der Sache der Armen, des<lb/> Proletariats zu widmen beschloß, allerdings im russisch-patriotischen Sinne,<lb/> und daß er Se. Simon, später in England, wo er sich 1851 niederließ, Robert<lb/> Owen als Meister verehrte. Er haßte jede Autorität und das Christentum,<lb/> das er der Verderbnis der Moral anklagte, weil es eine Moral zur Geltung<lb/> gebracht habe, die niemand befolge, die daher auch niemand ernst nehme. Nicht<lb/> wenig wird es ihn in seiner Ansicht, daß von den Regierungen nichts für die<lb/> Völker zu erwarten sei, bestärkt haben, wenn ihm Owen die denkwürdige<lb/> Äußerung eines Intimus der Herrschenden erzählt hat. Unter den Staats¬<lb/> männern, die um das Jahr 1813 nach New-Lamark pilgerten, um sich Owens<lb/> Musteranstalten anzusehen, sand sich auch Gentz ein; dieser kühlte die Er¬<lb/> wartungen, die der enthusiastische Philanthrop damals noch auf die Mächtigen<lb/> setzte, mit dem offenherzigen Geständnis ab: „Wir wünschen gar nicht, daß die<lb/> Massen wohlhabend und unabhängig werden, wie könnten wir sie sonst be¬<lb/> herrschen?" Herzens Ideal war deshalb die Auflösung der Staaten in re¬<lb/> publikanisch eingerichtete Kommunen, doch so, daß die Kommunen eines Landes<lb/> durch eine Kanzlei für gemeinsame Angelegenheiten mit einander verbunden<lb/> blieben und jedem Volke sein nationaler Charakter gewahrt werde. Welchen<lb/> beispiellosen Einfluß er in Rußland durch sein Blatt „Kökökök" übte, und daß<lb/> er ihn plötzlich an die von Katkow vertretene Gegenpartei verlor, als er 1863<lb/> tur die Polen eintrat, ist bekannt; vor seinem Tode (1870) war er schon<lb/> Politisch tot.</p><lb/> <p xml:id="ID_440" next="#ID_441"> Nikolaus Gawrilowitsch Tschernischewskh wurde 1829 als Sohn eines</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0155]
Der russische Sozialismus
und der Reinigung von den Ideen des „faulen Westens" das Heil sahen, die
Oceidentalen oder Sapadniki dagegen sich ganz mit dem Geiste dieses Westens
zu durchdringen und Rußland nach dem Muster der liberalen Staaten Europas
umzugestalten strebten.
Herzen könnte man einen slawophilen Oceidentalen nennen. Als Sohn
eines reichen Offiziers geboren, hatte er das Volk zuerst in der Gesindestube
des väterlichen Hauses liebgewonnen, büßte seine Neformfreundlichkeit mit mehr¬
jähriger Verbannung, wurde aber durch den Zwaugsaufenthalt im äußerste»
Osten Rußlands, in Wjatka, in seinem Urteil über die Schlechtigkeit der russischen
Zustünde nur bestärkt. 1847 verließ er sein Vaterland und sah es niemals
wieder. Hatte er die vornehme Gesellschaft in Rußland, wo sie ja in der That
nichts wert ist, gründlich verachten lernen, so flößte ihm in Paris die Bour¬
geoisie nicht mehr Hochachtung ein. Er fand sie gemein; er fand, daß das
alte, rohe Rittertum mit seiner Schätzung der Persönlichkeit noch achtungs¬
würdiger sei, als eine Gesellschaft, in der der Mensch nur noch als Anhängsel
des Besitzes geschätzt wird. Schon ästhetisch fühlte er sich von der äußern
Erscheinung der Geschäftswelt, von ihren nüchternen Häusern so angewidert,
daß er ins Faubourg Se. Germain übersiedelte. So lag es nahe, daß er sich
den französischen Sozialisten anschloß, sein Leben der Sache der Armen, des
Proletariats zu widmen beschloß, allerdings im russisch-patriotischen Sinne,
und daß er Se. Simon, später in England, wo er sich 1851 niederließ, Robert
Owen als Meister verehrte. Er haßte jede Autorität und das Christentum,
das er der Verderbnis der Moral anklagte, weil es eine Moral zur Geltung
gebracht habe, die niemand befolge, die daher auch niemand ernst nehme. Nicht
wenig wird es ihn in seiner Ansicht, daß von den Regierungen nichts für die
Völker zu erwarten sei, bestärkt haben, wenn ihm Owen die denkwürdige
Äußerung eines Intimus der Herrschenden erzählt hat. Unter den Staats¬
männern, die um das Jahr 1813 nach New-Lamark pilgerten, um sich Owens
Musteranstalten anzusehen, sand sich auch Gentz ein; dieser kühlte die Er¬
wartungen, die der enthusiastische Philanthrop damals noch auf die Mächtigen
setzte, mit dem offenherzigen Geständnis ab: „Wir wünschen gar nicht, daß die
Massen wohlhabend und unabhängig werden, wie könnten wir sie sonst be¬
herrschen?" Herzens Ideal war deshalb die Auflösung der Staaten in re¬
publikanisch eingerichtete Kommunen, doch so, daß die Kommunen eines Landes
durch eine Kanzlei für gemeinsame Angelegenheiten mit einander verbunden
blieben und jedem Volke sein nationaler Charakter gewahrt werde. Welchen
beispiellosen Einfluß er in Rußland durch sein Blatt „Kökökök" übte, und daß
er ihn plötzlich an die von Katkow vertretene Gegenpartei verlor, als er 1863
tur die Polen eintrat, ist bekannt; vor seinem Tode (1870) war er schon
Politisch tot.
Nikolaus Gawrilowitsch Tschernischewskh wurde 1829 als Sohn eines
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